Von oben hören wir bereits den Alphornbläser aus Flein, der uns Beine macht. Selbst einige Zuschauer sind heraufgekommen und motivieren uns. Den höchsten Punkt des Haigern markiert ein grünes Tor der Gesundheitskasse, jetzt geht es wieder bergab. Doch vorher können wir abermals verpflegen. Und wer einen Schluck Roten will, der Stand ist ein paar Meter weiter. Logisch, dass ich das Wasser stehenlasse. Der saufende Marathoni wird dabei von der Presse abgeschossen, die warten wie die Geier auf Beute.
… der Spruch bei Kilometer zehn. Mehr oder weniger flott rennen wir die Höhenmeter nach Talheim hinunter. Die hart erarbeiteten Höhenmeter sind für die Katz! Irgendwo muss sich im 400 Einwohner zählenden Ort die Strecke teilen. Die evangelische Kilianskirche liegt auf einer Anhöhe. Nur kurz ist der Erholungsbereich an der Schozach, einem Nebenfluss des Neckar. Dann kommt der gefürchtete Gegenanstieg mit rund 300 Meter. „Zur Steige“ nennt sich die Dorfwirtschaft, und die hat den Namen zu Recht. Für die meisten Dorfbewohner ist es einfacher, nach einer längeren Einkehr heimzugehen, denn es geht bergab.
Nach einem Stück auf einer Hauptstraße durch Felder und Wiesen laufen wir durch das Betriebsgelände der Märker Zement GmbH. Das Läuferfeld hat sich mittlerweile auseinandergezogen. Am anderen Ende der Firma sind wir in Lauffen angelangt. Die 11000 Einwohner zählende Stadt ist die zweitgrößte Weinbaugemeinde im Ländle und Geburtsstadt des Dichters Friedrich Hölderlin. Der Ortsname kommt von Lauffa, markant für Stellen an Stromschnellen oder Wasserfälle. Eine Wasserstromschnelle entstand in der Vergangenheit, als der Neckar einen Mäanderhals durchbrach und so seine Laufstrecke abkürzte.
Am Ortseingang sehen wir rechterhand die ehemalige Burg der Grafen von Lauffen, heute ist dort das Rathaus untergebracht. Auf der Neckarbrücke bearbeitet ein Schotte seinen Dudelsack, und ich werde bald einen Dudel bekommen, denn ein paar Meter weiter ist wieder eine Degustationsstelle mit einem guten Tröpfchen.
Unterhalb der evangelischen Reginwindiskirche laufen wir am Neckar entlang. Mittlerweile beginnt es zu tröpfeln, Petrus wird inkontinent. Bei meinem letzten Lauf war hier irgendwo eine Versorgungsstelle der Roten (Socken), die nur Wasser im Angebot hatten. Ein längeres Stück geht es entlang der Bahn im Industriegelände. Lachen muss ich dann, als ich einen Hund mit einem Stock im Maul sehe, der länger ist als das Tier. „Keine Gnade für die Wade“, das Motto bei Kilometer 19.
Mitten in einem Waldstück hat einer seinen Grill angeworfen und versorgt nicht nur sich, sondern auch den hungrigen Sportler. Die per Schild angekündigte Halbzeitwurst entpuppt sich als Nürnberger Rostbratwust. Ich greife gern zu und mir wird gleich noch ein Weißbier vom Fass angeboten. Prost. Die 300 Meter weiter liegende offizielle Tankstelle lasse ich demzufolge links liegen.
Halbzeit feiere ich in Meimsheim. Die 2500 Personen zählende Ortschaft wurde 1972 nach Brackenheim eingemeindet. Am Sportplatzgelände ist für alles gesorgt. Die Zuschauer können sich mit Essen und Trinken versorgen lassen, während bei den Läufern eine Zwischenzeit genau bei 21,1 Kilometern genommen wird. Der Fanfarencorps Meimsheim begrüßt alle mit flotter Musik. Rund 1.55 Stunden bin ich unterwegs, die sub vier dürfte relativ sicher sein, außer ich versumpfe an einer Stelle, wo mir Iso-Getränke auf Traubenbasis angeboten werden. Ihr wisst, was ich meine.
Hausen an der Zaber (ein rund 20 Kilometer langer Bach) ist so ein gefährliches Pflaster, denn es wartet einer mit einem großen Glas. Ist es Bacchus, der Gott des Weines? Man könnte es fast glauben, denn mir wird befohlen: „Anton, komm her zu mir for an Schlock.“ Und er hebt mir das Weinglas an den Rüssel.
Tendenziell führt die Strecke wieder nach oben. Während Lauffen auf einer Höhe von 175 Meter liegt, befindet sich Neipperg auf 250 Meter Meereshöhe. Und zwischen den Ortschaften sind immer wieder kleinere Gefälle. Ein Höhendiagramm fast wie ein Sägeblatt. Irgendwie müssen auch die 340 positiven Höhenmeter zusammenkommen.
Trollinger hilft der Seele, das ist der Trinkspruch bei Kilometerschild 25 in Dürrenzimmern. Und gerade ein paar Schritte weiter kannst du den gleich tanken, denn als Trollinger Tankstelle wird der Vinum Bonum des Wein Konvents Dürrenzimmern ausgeschenkt. Zum Wohlsein.
Das gleiche Motto wie ich haben die beiden Jungspunde Rainer Schürg und Sascha Berndt: Spaß haben beim Trollinger, ratschen und genießen. Na ja, so jung sind die beiden M35er nicht mehr. Für beide ist es eine Generalprobe für den Ultra Trail im Lamer Winkel im Bayerischen Wald. 53 Kilometer und fast 3000 Höhenmeter werden die beiden laufen müssen und dabei zehn Tausender besteigen. Und das letztere sind zehn Berge, die höher sind als 1000 Meter. Da kann sich jeder als König vom Bayerwald fühlen, der ins Ziel kommt.
Vor Neipperg wartet noch ein kleiner Anstieg und dann geht es gefällig in den Weinort hinein. Linkerhand grüßt die Burg herüber. Zwei massive, markante Türme, die obere und untere Burg, hüten ihr Rätsel, denn es soll sich um zwei verschiedene Burgen handeln. Während die Untere Burg heute von Bäumen überwachsen ist, ist die aus dem 12. Jahrhundert stammende Obere Burg noch gut erhalten.
Wir verlassen den 600 Einwohner zählenden Ort auf einem asphaltierten Wirtschaftsweg. Obwohl ich nun immer wieder Läufer überholen kann, treiben es Rainer und Sascha auf die Spitze und lassen mich lahme Ente stehen. Burschen, euch wenn ich erwische!
Kilometer 30, „Schmerzen vergehen, Finisher bestehen“, kann ich auf dem Schild lesen. Mittlerweile hat die Sonne das Regime übernommen und strahlt vom blauen Himmel. Die Strecke trocknet zusehends ab. Im Weinberghäuschen „Im Bühl“ werden die Gäste von den Winzern des Jupiter Weinkellers verkostet. An der Laufstrecke steht nur ein leerer Tisch, dabei hätte ich schon wieder Durst.
Am Ortseingang Nordhausen stehen eine Handvoll Fans, die jeden Läufer mit einer La-Ola-Welle willkommen heißen. Ein paar Freizeitkicker jagen auf dem Sportplatz dem runden Leder nach. Unser Kurs führt an der Waldenserkirche vorbei. „Eine Hütte Gottes bei den Menschen“, ist auf dem Schild oberhalb des Einganges zu lesen. 1721 wurde das Gotteshaus errichtet.
Nach einem längeren Stück auf der rechts abgesperrten Landesstraße erreichen wir Nordheim. Das Marathonfeld ist nun stark auseinandergerissen, viele Einzelkämpfer, nur wenige Laufpärchen sind zu sehen. Am Maibaum findet gerade eine Hocketse statt, es wird gevespert, was die Küche hergibt. Und für den durstigen Marathoni wartet wieder der gute rote Trollinger. Prost.
Einen schönen Maibaum haben die aufgestellt. Wappen, Sinnspruch, viele Zunftzeichen und Kränze sind angebracht. Bei uns in Bayern werden die langen Stangerln (oft bis über 30 Meter lang) traditionell um den 1. Mai aufgestellt. Logisch, dass bei uns viel Bier getrunken wird und Schweinebraten oder Schweinshaxen verdrückt werden. In Nordheim wird es nicht anders sein. Höchstens, dass weniger Bier, dafür mehr Wein getrunken wird.
Ein paar Meter weiter führt unser weiterer Kurs am Alten Rathaus (erbaut 1593, heute die Ortsbücherei) sowie an der evangelischen Bartholomäuskirche (aus 1307) vorbei und dann verlassen wir den 8000 Einwohner zählenden Ort. „Das ist eure letzte Steigung“, meint ein Polizist an einer Kreuzung. 30, 40 Höhenmeter lassen den einen oder andern Läufer zum Spaziergänger werden. Die Muskeln maulen. Auf freiem Feld sehe ich den 37. Kilometer. Die Halbmarathonis kommen gleich, ist zu lesen.
Ein längeres Gefälle führt in das Zentrum von Klingenberg hinunter, fast schon ein wenig zu steil, um gnadenlos hinunterzubrettern. An einem Versorgungspunkt des Deutschen Roten Kreuzes münden die Halbmarathonis von rechts in unseren Kurs ein. Eine Minute später wieder eine offizielle Tankstelle und ein paar Meter weiter die der Winzer. Die Helfer müssen ganz schön rödeln, damit jeder seinen Trank bekommt.
Ruhiger geht es bei der Weinverkostung zu, wo jetzt ein Weißer und ein Rosé ausgeschenkt werden. Ich glaube, dass nun auch nicht mehr als jeder 20. sich den Trollinger hinter die Binde kippt. Leute, nehmt euch für so etwas Zeit, ihr verpasst was. Und wer auf den Geschmack gekommen ist, kann ja im nächsten Jahr an der Deutschen Weinstraße, oder demnächst in Molsheim oder beim Medoc-Marathon starten.
In Böckingen, keine drei Kilometer mehr zum Finish, heizt uns die Gundelsheimer Guggemusik ein. Recht schräg, aber es sorgt für Stimmung, auch wenn man fast glauben mag, die können gar nicht spielen. Der 40. Kilometer: „Vom Ziel träumt man nicht, sondern erreicht es“, heißt es auf dem Schild. Aufgeben ist jetzt ein No-Go.
Die vorletzte Steigung, einige müssen doch noch den Gehschritt einlegen. Ich befinde mich dagegen in einem Hoch, oder soll man sagen in Runners Delirium? Ich schieße Bilder im Stehen, spurte wieder, verzögere und werde wieder schneller. Die Sambanditos geben dem Feld nochmals Drive mit ihren Trommeln. Die Stimmung ist nicht mehr zu toppen.
Letzte V-Stelle. Eigentlich lasse ich diese liegen, denn der Körper nimmt nichts mehr auf. Aber mit einem Läufer wird angestoßen, der letzte Schluck Trollinger, lecker, und wir gehen den letzten Kilometer an. In der dunklen Bahnunterführung lasse ich einen Urschrei los, den einige erwidern.
Die allerletzte Steigung laufe ich mit Schwung die Badstraße hoch und über den Neckar. Und dann der Endspurt, die Brücke hinunter, nochmals 100, 200 Meter in der Allee, bevor wir links in das Frankenstadion abbiegen. Rein in die Arena und links herum auf die blaue Tartanbahn. Und nach 100 Meter renne ich durchs Ziel. Geschafft. Happy und hochzufrieden.
Viele glückliche Läufer kann ich im Ziel- und Verpflegungsbereich sehen, egal ob halber oder ganzer Marathon. Mädels in Tracht hängen uns die Medaillen um, für den ersten Hunger werden handgemachte Müsliriegel ausgeteilt. „Pain now, beer later“, lese ich auf einem Shirt. Later ist jetzt, die Schlange vor dem Bierstand scheint rekordverdächtig, auch wenn die Helfer im Akkord ausschenken.
Im Zielkanal finden sich nun Gleichgesinnte zusammen. Diejenigen, die den Lauf miteinander durchgezogen haben, oder solche mit gleichem Arbeitgeber. Oder welche, die sich zufällig auf der Strecke getroffen haben. Da werden Mädels nochmals von Burschen auf die Schulter genommen oder Kinder begleiten Papa oder Mama. Einige bringen sogar noch turnerische Einlagen.
An Verpflegung mangelt es nicht. Es ist alles da. Wer kneippen und seine Füße erfrischen will oder gleich eine Ganzkörperdusche bevorzugt, es ist an alles gedacht. Auch massieren kann man sich lassen. Kurze Wege zur Kleiderablage, zur Dusche und zum FoodCourt, wo die Altersklassenwertungen stattfinden. Alles Top.
Und wie schaut es bei mir aus? Negativsplitt. Mit 3.47 Stunden lande ich auf Gesamtplatz 231 und in der Altersklasse M55 auf Rang zehn. Henriette kann mit 1.59 Stunden die zwei Stunden-Marke sicher knacken.
Bleibt noch die Geschichte mit der Überschrift. Kein Muskelzwicken bei mir und auch keine genervte Mieze. Katzenbeisser ist eine Lage bei Lauffen, die für ihre Rotweine aus den Rebsorten Lemberger und Trollinger berühmt ist. Was wäre heute drin gewesen, wenn ich nicht fotografiert hätte und nicht ungezählte Male Wein gekostet und zur Halbzeit Bier und Wurst gefuttert hätte? Dr. Stefanie Borris aus Lenting in meiner Heimat hat es mir vorgemacht. Sie ist Bestzeit in 3.24 Stunden gelaufen und wird damit viertschnellste Frau. Respekt.
Männer
1 Müller, Kay-Uwe (GER) TSV Crailsheim 02:32:32
2 Schumacher, Richard (GER) AST Süßen 02:33:31
3 Santrutschek, Jens (GER) Kinostar Bretten 02:38:15
Frauen
1 Englisch, Bettina (GER) Team g.weber-bau 03:04:19
2 Oszmalek, Agata (POL) 03:19:44
3 Kollmann, Alin (GER) GENO-Runners 03:21:57
545 Finisher