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Laufberichte

Münchner Geschichte(n)

08.10.06
Autor: Klaus Duwe

„Mir san mir"

 

Stell Dir vor, es sind Deutsche Marathonmeisterschaften, und keiner geht hin. Na, ja, hingegangen sind schon viele (1.075), aber die vermeintlich Besten halt nicht. „Lumi“ Zaituc rannte am gleichen Tag in Köln mit 2:28:30 Stunden Bestzeit und wäre damit in München überlegen Meisterin geworden. Nur 8 Männer waren dort schneller als sie. Die Sensations-Europameisterin Ulrike Maisch zog die Meisterschaften gar nicht in Betracht und überlegte nur, ob sie in New York oder in Köln laufen sollte.

 

Auch die besten Männer über die Marathondistanz glänzten durch Abwesenheit. Warum das so ist? Außer einem Siegerkranz gibt’s bei den Meisterschaften nichts zu gewinnen. Und davon kann man nicht leben.

 

Das soll es an dieser Stelle zu diesem Thema gewesen sein. Die Meisterin und der Meister werden in einer separaten Meldung gewürdigt.

 

Auch wenn das Olympiastadion durch die neue Fußballarena nicht mehr so sehr im Blickpunkt steht und deutlich weniger stark frequentiert ist, übt es auf die Läuferinnen und Läufer offensichtlich eine magische Anziehungskraft aus. 10.436 Anmeldungen registrierte der Veranstalter, davon entfallen auf den Marathon 8.452 (davon 1.075 Deutsche Meisterschaften) und 1.984 auf den erstmals durchgeführten 10 km-Lauf. 

 

Das sind stolze Zahlen, wenn man bedenkt, dass in der Terminliste an diesem Wochenende immerhin insgesamt 8 Marathonläufe in Deutschland und dem benachbarten Ausland aufgeführt sind.

 

„Mir san mir“, sagen die Bayern ja schon immer selbstbewusst. Die Marathonmesse auf zwei Etagen in der Event-Arena ist dann auch beeindruckend und sehr gut besucht. Viele Veranstalter, auch aus dem Ausland, präsentieren ihren Lauf. Hier gibt es auch die Startunterlagen und in der Cafeteria nebenan werden leckere Nudeln serviert.

 

Die Infrastruktur des Olympiageländes bietet für Teilnehmer und Zuschauer natürlich optimale Bedingungen - Anfahrt, Parken, alles kein Problem. Ist dennoch etwas unklar, geben die meist jugendlichen Helferinnen und Helfer freundlich Auskunft.


Vor den Zugängen zu den Tribünen werden die Kleiderbeutel deponiert. Jeder riskiert schon mal einen Blick ins Innere dieses prächtigen und architektonisch noch immer sensationellen Stadions, das seit seiner Erbauung Vorbild für viele Sportstätten in der ganzen Welt ist.

 

Gestartet wird auf dem Spiridon-Louis-Ring, so benannt nach dem Marathon-Sieger der ersten Olympiade der Neuzeit 1896 in Athen. Viele Gerüchte und Legenden ranken um den Bauernsohn. Davon wahr soll nur das Glas Cognac sein, das Spiridon Louis 10 Kilometer vor dem Ziel trank und die vielen wertvollen Geschenke, die er nach seinem Sieg erhielt. Er nahm danach an keinen offiziellen Wettkämpfen mehr teil, war aber bei vielen Sportveranstaltungen Ehrengast, so auch in Berlin 1936.

 

Übrigens, die Laufstrecke Marathon – Athen betrug rund 39 Kilometer. Die 42,195 Kilometer kamen so zustande:

 

1908 bei den Olympischen Spielen in London sollten 26 Meilen gelaufen werden. Die Strecke war schon ausgemessen und festgelegt, als vom Königshaus der Wunsch geäußert wurde, den Lauf vor Windsor Castle zu starten. Das Ziel sollte vor der königlichen Loge im Stadion sein. Die genaue Streckenlänge betrug demnach 26 Meilen und 385 Yards, also 42,195 Kilometer, was 1921 vom Internationen Leichtathletikverband (IAAF) als offizielle Marathondistanz festgelegt wurde. Es wird erzählt, dass angelsächsische Läufer deshalb auf dem letzten Kilometer ein „God save the Queen“ singen. Wahrscheinlicher halte ich, dass sie einen Fluch ausstoßen, das aber nicht zugeben.

 

Jetzt wird aber die Deutsche Nationalhymne gespielt. Obwohl wir das alle den Sommer über kräftig geübt haben, singt kaum einer mit. Um 9.55 Uhr gehen dann die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Deutschen Meisterschaft auf die Strecke, fünf Minuten später das übrige Feld.

 

Das Wetter ist phantastisch. Keine Wolke am Himmel, knapp 10 Grad, mehr als 17 sollen es auch tagsüber nicht werden. Wer heute keine gute Zeit läuft, kann nicht auf schlechte äußere Bedingungen verweisen. Auch auf das dichte Läuferfeld kann er seine Fehlleistung nicht schieben. Denn hat man mal die Zeitmatte überschritten, geht es zügig weiter und  schon nach gut einem Kilometer ist das Ganze so entzerrt, dass jeder seinen Rhythmus findet.

 

Nach der Schleißheimer Straße laufen wir rechts in die Ackermannstraße und kommen nach gut 3 Kilometern zum Kleinen Olympiaberg, wo rechts der Spiridon-Louis-Ring abgeht. Auf dem Rückweg haben wir von hier noch 1500 Meter zu laufen.

 

Wir sind in Schwabing in der Franz-Joseph-Straße (km 6), erleben einen ersten stimmungsmäßigen Höhepunkt mit Live-Musik und vielen Zuschauern und kommen jetzt  in die Leopoldstraße. Hier hatten 1962 die „Schwabinger Krawalle“ ihren Ursprung – viele meinen, sie waren die Vorläufer der 1968er Bewegung. Seit dem 19. Jahrhundert war Schwabing das Künstlerviertel schlechthin. Viele Maler, Literaten und Musiker arbeiteten oder lebten hier. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Schwabing zum Zentrum der Schickeria.

 

Von weitem erkennen wir schon das Siegestor (km 7), das Ludwig I. nach dem Vorbild des Konstantinbogens beim Colosseum in Rom erbauen ließ. Bei Kilometer 9 erreichen wir den im Stil des europäischen Klassizismus errichteten Königsplatz, mit Propyläen und Glyptothek  ein kulturelles Zentrum der Stadt. Die Ähnlichkeit mit der Akropolis ist nicht zufällig.

 

Mir fällt unwillkürlich der Beatles-Hit „Something“ ein, den Paul McCartney hier 2003 bei einem Konzert ganz alleine auf der Bühne zu einer Ukulele in Erinnerung an seinen eineinhalb Jahre zuvor verstorbenen Freund Georg Harrison sang.

 

Barer- und Brienner Straße erinnern daran, dass Bayerns Geschichte eng mit der Frankreichs verknüpft ist. Beide sind nach Schlachten aus dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) benannt, an deren siegreichem Ausgang bayerische Soldaten großen Anteil hatten. Der 29 Meter hohe Obelisk (km 10) auf dem Karolinenplatz erinnert schließlich an die 30.000 gefallenen bayerischen Soldaten aus Napoleons Russlandfeldzug.

 

Hier haben wir eine kurze Begegnungsstrecke und können sehen, wer so ungefähr einen Kilometer hinter uns liegt. Dann kommen die Sehenswürdigkeiten Schlag auf Schlag. Zuerst der Odeonsplatz mit dem Reiterdenkmal für Ludwig I., geradeaus geht es zur Feldherrnhalle und rechts sehen wir die Theatinerkirche St. Kajetan, zu der 1663 der Grundstein gelegt und dann über 100 Jahre gebaut wurde. Links ist dann die Staatskanzlei und die Residenz mit der berühmten Patrona Bavariae. Damals war das Abkupfern offenbar groß in Mode. Die Residenz soll nämlich dem Palazzo Pitti in Florenz nachempfunden sein.

 

Viele Zuschauer stehen hier, der Höhepunkt wird allerdings am Marienplatz (km 13) erreicht, wo sich die Menschen dicht an die Absperrungen drängen, die Läuferinnen und Läufern lautstark anfeuern und sie abklatschen. Die Stimmung kann hier bei einer Meisterschaftsfeier der Bayern nicht besser sein.

 

Seit der Gründung Münchens 1158 durch Heinrich den Löwen ist der Marienplatz  das Zentrum und das Herz der Stadt. Seinen Namen hat er seit 1854. Davor hieß er einfach Markt- oder Schrannerplatz, weil hier mit Getreide gehandelt wurde. Als er als Handelsplatz zu klein wurde, schaffte König Max I. Joseph 1807 an, dass an anderer Stelle ein größerer Marktplatz errichtet werden solle – der berühmte Viktualienmarkt. Wir verfehlen ihn nur knapp, als wir über den Rindermarkt laufen.

 

Hier läuft mir Rainer Krugmann mit seinem Kuh-Kostüm über den Weg. Das Gelächter rings um ist groß, als ich ihn darauf aufmerksam mache, wo er gerade rum läuft: auf dem Rindermarkt und direkt vor einem Steakhaus.

 

Noch einmal sehen wir vor uns das Rathaus, lassen uns von den vielen Menschen feiern und laufen dann auf das Isartor zu, dem östlichen Stadttor der historischen Altstadt, wo das Valentin-Karlstadt-Musäum (kein Schreibfehler) untergebracht ist. Ein Blick auf die Uhr lässt mich fast verzweifeln. 12.30 Uhr zeigt sie an, fast 2 ½ Stunden für knapp 14 Kilometer?

 

„In Bayern gehen die Uhren anders“, schon mal gehört? Willy Brandt soll diesen Satz „erfunden“ haben. In Erinnerung daran und an Karl Valentin lässt man die Uhr auf der Westseite des Turms rückwärts laufen. Auf der Ostseite geht sie richtig. Das erklärt mir ein Eingeborener, als er meine besorgten Blicke von der Turmuhr zur Armbanduhr und zurück bemerkt. Halb Eins rückwärts ist halb Zwölf vorwärts. Alles klar?

 

Auf der Zweibrückenstraße geht es über die Isar, vorbei am Deutschen Museum, dem Deutschen und Europäischen Patentamt und gleich zu Beginn der Rosenheimer Straße in Haidhausen (km 14,5) links am Müllerschen Volksbad. Zur Bauzeit (1897 – 1901) war der privat finanzierte Bau das teuerste und modernste Bad der Welt. Nach erfolgter Renovierung behaupten viele Münchner, das sei es heute noch.

 

Unsere Strecke hat hier einen ihrer wenigen Anstiege. Links geht es jetzt zum Ostbahnhof (km 16). Die Gegend sieht gar nicht so schlimm aus, wie der Name befürchten lässt. An der S-Bahnstation haben sich sogar etliche Fans postiert, um uns anzufeuern. In der Neumarkter Straße überrascht uns eine Steelband mit gekonnt vorgetragenen Schlagern aus den 60ern. 

 


Wir überqueren die A 94 und kommen nach Bogenhausen. 4 Kilometer geht es immer geradeaus durch Wohngebiete, teilweise mit kleinen Ein- und Zweifamilienhäuschen, vorbei an Sport- und Grünanlagen (Arabella- und Cosimapark) bis Oberföhring. An der Salzbrücke (km 24) erreichen wir einen unscheinbaren aber sehr geschichtsträchtigen Ort. Hier gab es schon zur Römerzeit eine Handelsstraße und eine Flussüberquerung. Bevorzugtes Handelsgut war Salz aus der Gegend von Salzburg, das nach Augsburg gebracht wurde. 1156 zerstörte Heinrich der Löwe die Brücke und baute ein paar Kilometer flussaufwärts in „Villa Munichen“ eine neue, für deren Nutzung er dann Zölle erhob und damit dem Ort zu erheblichem Aufschwung verhalf.


Am Hochufer der Isar entlang laufen wir auf der Oberföhringer Straße in  Richtung Stadtmitte weiter. Auf der Max-Joseph-Brücke (km 27) geht es über die Isar und dann in den Englischen Garten. Mit seinen 3,7 qkm ist der Englische Garten größer als der Central Park und der Hyde Park und einer der größten Stadtparks der Welt. Über 78 Kilometer ist das Wegenetz lang, mehr als 100 Brücken und Stegen führen über die zahlreichen Bäche.

 

Seit seiner Freigabe im Jahre 1792 zählt er mit seinen vielen Sehenswürdigkeiten und Biergärten zu den beliebtesten Plätzen der Münchner. Auch heute sind wieder viele Menschen hier unterwegs. Entweder liegen sie faul in der Sonne, oder sie beklatschen die Marathonis. Auch der olympische Marathon führte durch den Englischen Garten. Dafür mussten die Wege extra asphaltiert werden.

 

Die Seefelder Blaskapelle bei km 32 macht leider gerade eine Pause. „Gleich geht’s weiter“, verspricht der Dirigent nach lautstarken Beschwerden. Darauf will ich nicht warten. Entlang des Schwabinger Baches geht es weiter zur Open-Air-Ausstellung von Ingo Bogatu, der seine Kunstwerke entlang der Strecke als Verneigung vor der Leistung der Marathonis platziert hat.

 


Insgesamt 7 Kilometer ist die Strecke durch den Englischen Garten lang. Zu lang, sagen die Verantwortlichen und wollen das im nächsten Jahr ändern. Schade, wie ich finde, denn die Abwechslung ist angenehm und die Stimmung war auch im Park nicht schlechter, als in manchen Stadtbezirken. Gut ist die Idee, dann entgegengesetzt zu laufen, sodass der belebte Innenstadtbereich am Schluss passiert wird.

 

Die kleinen Einfamilienhäuschen aus den 50er Jahren sind typisch für die Biedersteiner Straße (km 36). Hin und wieder hat man eines abgerissen und dafür eine prachtvolle Villa errichtet. Es ist ja auch eine sehr schöne Wohngegend hier, links liegt der Kleinhessenloher See, der größte See im Englischen Garten mit seinen drei Inseln.

 


Franz-Joseph-Straße, noch 4 Kilometer sind zu laufen. Die Stimmung hier ist klasse. Etlichen Läuferinnen und Läufer hilft das aber auch nicht weiter. 38 Kilometer haben ihre Spuren hinterlassen, sie stehen am Straßenrand und machen Dehnübungen, „pflegen“ ihre Krämpfe oder sind am Gehen.


Wir laufen den Weg zurück, den wir heute früh gekommen sind. Allerdings laufen wir jetzt links in den Spiridon-Louis-Ring. Noch 1500 Meter.

 

1972 lief der in München geborene Amerikaner Frank Shorter diesen Weg. Er war ganz sicher, die Olympische Goldmedaille zu gewinnen. Sein Vorsprung war so groß, dass er den Zweiten nicht sehen konnte. Plötzlich hörte er aus dem Stadion einen Riesenjubel und tosenden Applaus. Er konnte nicht glauben, was er hörte. Es stand keine Entscheidung an, alle warteten auf den Sieger des Marathonlaufes, und das war er, und er war hier, vor dem Stadion.


Ein „Spaßvogel“ war durch das Marathontor ins vollbesetzte Stadion gelaufen, hatte alle Zuschauer getäuscht und sich als Sieger feiern lassen. Als Frank Shorter in das Stadion einlief und der Irrtum bemerkt wurde, war die Euphorie weg. Er hatte Gold, aber den Applaus hatte man ihm gestohlen.


Links geht es jetzt durch eben dieses Marathontor, auch „Disco-Tunnel“ genannt, denn Nebelmaschinen, bunte Scheinwerfer und laute Musik sorgen für entsprechende Atmosphäre. Dann wird es hell, der Himmel strahlt in schönstem Blau. Ich schwebe über die Kunststoffbahn und teile mir den Applaus mit den vielen Läuferinnen und Läufern, die jetzt die letzten 200 Meter laufen.

 


Noch vor der Medaille hängt man mir eine Wärmefolie um und weist mir den Weg zum reich bestückten Verpflegungsbereich. Auf dem ehrwürdigen Rasen tummeln sich die müden Marathonis und strecken ihre müden Beine aus. Ich sehe nur zufriedene und glückliche Gesichter. Wer will, kann gleich noch im Olympiabad, wo Mark Spitz seine 7 Goldmedaillen mit Weltrekordzeiten gewann, ein paar Runden drehen. Der Eintritt ist heute frei.

 


 
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