„Mußt Du unbedingt an Karfreitag die weite Strecke nach Berlin fahren, um am Ostersamstag diesen Marathon zu laufen?“ Die Begeisterung der Gattin deckt sich nicht ganz mit meiner Vorfreude. Aber sie kennt auch meinen Dickkopf, wenn der Mann tun will, was er meint, tun zu müssen. Nach einigen Erklärungen und dem Studium der Laufstrecke sinkt ihr Widerstand auf unterhalb ihrer Toleranzschwelle. Vergnügt mache ich mich auf die 616 km lange Anfahrt, die verkehrsbedingt geschlagene neun Stunden in Anspruch nehmen wird.
Klar, den Berlin-Marathon kennt jeder, den Ostermarathon einzuordnen fällt den meisten dagegen schwer. Zum elften Mal veranstaltet ihn Frank-Ulrich „Etze“ Etzrodt mit seiner Laufgruppe im Tegeler Saatwinkel. Eine höchst attraktive Runde wird uns am Tegeler See und entlang der Havel viel Wasser, attraktive Gebäude und jede Menge „Gegend“ präsentieren. Ein persönlicher Planungsfehler bringt mir am Morgen bereits einen 50minütigen Spaziergang von meinem Hotel im Rohrdamm zum riesigen Schrebergartenviertel am ehemaligen Flughafen Tegel. Wirtschaftlich und verkehrstechnisch zweifellos eine grandiose Fehlentscheidung, ist die Außerbetriebnahme des einst mehr als quirligen Hauptstadtflughafens für die Anwohner ein Segen.
Im und ums Vereinsheim HoKa IV herrscht schon emsige Geschäftigkeit. Etze strahlt über alle vier Backen: „124 Voranmeldungen und 26 Nachmeldungen hatten wir noch nicht ansatzweise!“. Trotz des Gewusels auf relativ wenig Platz ist die Atmosphäre maximal entspannt und erinnert an einen Ultralauf, auch wenn die heutige Aufgabe „nur“ aus 42,195 km besteht. Weltmeister will heute offensichtlich niemand werden, sondern die schöne Strecke bei traumhaften Bedingungen (leicht saharastaubgetrübte Sonne bei schon mittags 22 Grad) genießen.
Die gute Stimmung nutzt auch jemand, der um ein gemeinsames Foto bittet. „Genaugenommen sind wir Kollegen!“ Mein unwissendes Gesicht interpretiert er richtig und stellt sich mit seinem Namen, Martin Linek, vor. Der sagt mir natürlich etwas, ein M4Y-Kollege aus den ersten Anfängen vor fast zwanzig Jahren. Der Gute ist schon lange Dialysepatient und der Querschnittslähmung nur durch einen Zufall entgangen. Als ehemaliger Vielläufer weiß er die Gnade, sich überhaupt noch auf zwei Beinen aus eigener Kraft fortbewegen zu können, zu schätzen. Wir sollten uns alle sehr bewusst sein, dass Gesundheit keine Selbstverständlichkeit ist, und immer an Christian Hottas denken: „Jeder Lauf ist ein Geschenk.“
Dieses Geschenk wird exakt um 10 Uhr gestartet, ein durchaus ordentliches Teilnehmerfeld macht sich vor der Linse des gleich mitlaufenden Reporters auf die Reise. Zu meiner Freude mit dabei auch unsere Judith, Andreas und Thomas, der hier Stammgast ist.
Das erste Wasservergnügen führt uns am Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal entlang. Durch ein Wäldchen erreichen wir schon bald den Tegeler See, dessen Badestelle bereits einen Vorgeschmack auf den kommenden Sommer verheißt. „Pack die Badehose ein, nimm Dein kleines Schwesterlein,...“, aber nein, das war ja der Wannsee. Schon nach ganz kurzer Zeit fühle ich mich bestätigt, dass das hier und heute genau mein Ding ist. Laufen am Wasser, für mich kann es nichts Schöneres geben! Nun ja, vielleicht auch in den Bergen. Oder auch im Stadion. Und untertage. Und... Schnell sind die ersten fünf km vorbei und der Herr Bernath strahlt, zumindest innerlich, wie Etze.
Der Borsighafen erinnert an den Berliner Unternehmer August Borsig, dessen Maschinenbau-Unternehmen vor allem Dampflokomotiven herstellte und während der Ära der Dampflokomotiven in Europa der größte und weltweit der zweitgrößte Lokomotivenlieferant war. Über die sehr schöne Greenwich-Promenade unter einer Platanenallee, an der zahlreiche Ausflugsschiffe der Saisoneröffnung harren, kommen wir an, und dürfen die tolle, denkmalgeschützte Sechserbrücke eingangs des Tegeler Hafens überqueren. 1908 eröffnet war ein namengebender Brückenzoll von fünf Pfennigen (die Berliner sagten dazu Sechser) zu entrichten. Noch leichtfüßig hüpfe ich die Stufen hinauf und herunter. Das Gewässer geht über in den großen Malchsee mit Booten zur linken und netten Häusern zur rechten. Ja, man kann in Berlin auch anders wohnen als in dichtbevölkerten Stadtteilen. Zahlreiche Segelschiffe vermitteln Feiertagsidylle, genauso wie das noch geschlossene Strandbad Tegelsee.
Schon ist das erste Viertel geschafft, meine Gefühlswelt in Ordnung, die Schritte fallen leicht. Und der Genuss des Laufens unmittelbar am Wasser geht weiter, gefolgt vom Genuss des Auflaufens auf unseren Thomas. Der hat ein wenig Aua und daher einen Frühstart genehmigt bekommen. Ich sagte ja, Entspannung pur, Ultralaufatmosphäre. Die Fähre nach Hakenfeld hat gerade abgelegt. Ab sofort bewegen wir uns entlang der Havel. Wie liebte ich als Kind das Gedicht vom Ribbeck auf Ribbeck im Havelland:
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland;
ein Birnbaum in seinem Garten stand,
und kam die goldene Herbsteszeit
und die Birnen leuchteten weit und breit,
da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,
der von Ribbeck sich beide Taschen voll.
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
so rief er: »Junge, wiste 'ne Beer?«
Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,
kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn.«
Herrlich. Du kennst Theodor Fontanes Gedicht nicht? Nachlesen lohnt auch für Große. Andere schon Große haben gerade Boote zu Wasser gelassen (wobei mir Herr Müller-Lüdenscheid und Dr. Klöbner in den Sinn kommen, doch ist das eine ganz andere Geschichte) und schicken sich an zu trainieren.
Und weiter gehen die optischen Hochgenüsse: Wasser, Boote, Villen, ein Träumchen jagt das nächste. Ein Träumchen ist nach 15 km auch der erste VP an der Badestelle Sandhausener Straße, der gerade bei der heutigen Wetterlage ein wenig spät kommt und daher hochwillkommen ist. Wenn man den Lauf mit nur wenigen Helferlein stemmen will bzw. muss, sind nur wenige VP unvermeidlich. Deswegen bin ich auch mit Rucksack und Halbliterflasche unterwegs, selbstverständlich habe ich auch den geforderten Mehrwegbecher dabei. Wasser, Apfelschorle, Banänchen, Dankeschön, weiter geht’s.
Entlang der Sandhausener und später Heningsdorfer Straße (am Ufer führt leider kein Fußweg entlang) kann ich zahlreiche nette Einfamilienhäuser besichtigen, bevor an km 20 in Alt-Heiligensee bereits der zweite VP kommt, den ich auch direkt zum Nachtanken nutze. Meine bisherige, zumindest gefühlte Dynamik lässt bereits deutlich zu wünschen übrig.
Über die Ruppiner Chaussee überqueren wir bei exakt Halbzeit den Gott sei Dank ehemaligen Eisernen Vorhang quer durch Deutschland. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Wendezeit 1989/90. Ich war bestimmt nicht der Einzige, der tagelang atemlos und tränchenquetschend am Fernseher hing und am Glück der dann bald ehemaligen DDR-Bürger teilhatte.
In Henningsdorf hat uns das Wasser wieder. An der Uferpromenade gibt es zahlreiche moderne Hausboote zu bestaunen, solch vermutet minimalistisches Leben kann auch durchaus etwas für sich haben. Rechterhand begleitet uns für einige Zeit die riesige Produktionsanlage des Alstom-Konzern, zahlreiche bunte Züge kann ich durch den Zaun ausmachen.
Dachte ich mir's doch! Auch wenn der Hundertmeiler des Mauerweglaufs für mich leistungsmäßig unerreichbar ist, freue ich mich, dessen Strecke für einige km folgen zu dürfen, obwohl es durchaus gruselig ist, sich die Verhältnisse zwischen 1945 und 1990 vorzustellen. „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!“, tönte einst der Dachdeckergehilfe aus dem Saarland. Gorbatschows „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ verdeutlichte dann, wer am Ende der Esel war. Welch ein Glück, dass die Revolution ohne Mord- und Totschlag ablief. Nicht jedoch für etliche Menschen, die nichts anderes wollten, als im Westen bei uns in Freiheit zu leben und auf der Flucht von DDR-Grenzern ermordet wurden. Innerlich ganz still werde ich beim Anblick der orangen Erinnerungsstelen und den Fotos samt Lebensgeschichte einiger Maueropfer. Was hatte ich für ein Glück, auf der „richtigen“ Seite geboren zu werden.
In Niederneuendorf lockt ein toller Weg zum Radeln und Flanieren, auf dem wohl ehemaligen Todesstreifen stehen schmucke Einfamilienhäuser. Ein erhaltener, ehemaliger Grenzturm mahnt, die Erinnerung an das untergegangene Unrechtsregime aufrechtzuerhalten. Ein junges Kiefernwäldchen bietet mir hochwillkommenen Schatten, kann aber meinen heutigen körperlichen, viel zu frühen Verfall nicht aufhalten. Gerade mal 25 km sind vorbei, und ich könnte schon aufhören. Zu ergründen, woran das liegt, ist müßig. 17 km fehlen noch zum Finish. Höchst willkommen ist daher der dritte VP bei km 28, den ich ausgiebig nutze. Schön ist es, die früh gestartete, inzwischen 84jährige (!) Sigrid Eichner zu treffen, die ich vermutlich nicht extra vorstellen muss. 30 km sind geschafft, ich allerdings auch.
Immer schwerer fallen mir die Schritte entlang der Havel. Da mich aber so gut wie niemand überholt, befinde ich mich wohl in guter Gesellschaft. Am Ende werde ich mich mit 4:42 Std. in etwa der Mitte (!) der Ergebnisliste befinden. Weiter entlang der Havel – ich versuche, auch wenn's mir schwerfällt, mich weiter am schönen Kurs zu erfreuen – fällt dann irgendwann die Marke 35 km. Wir sind in Spandau. Wasserstadt- und Spandauer Seebrücke über die Havel werden unterquert, über eine weitere Brücke, mutieren wir auf Eiswerder kurzzeitig zu Insulanern.
Wieder auf Festland, wird es endgültig absehbar, mühsam schlurfe ich vor mich hin. Es ist gefühlt ein Drama, so am Ende war ich schon lange nicht mehr, dabei bleiben die Wege wunderbar. „Wer von Euch ist der hoffnungsfrohe Nachwuchs von Thomas Enck?“, erkundige ich mich nach 38 km am vierten und letzten VP. „Icke!“ strahlt mich der „Kleine“ an, der mit seinem Kumpel lebenserhaltende Maßnahmen nicht nur an mir betreibt. Beide werden den Ostermarathon künftig ausrichten, damit für uns erhalten und den 72jährigen Etze in den mehr als verdienten Ruhestand entlassen. Klasse!
Mühsam setze ich mich wieder in Bewegung, der Kurs bleibt einfach toll, wie fast durchgehend. Beim Namen „Schleuse Plötzensee“ fällt mir schaudernd das gleichnamige Gefängnis ein, in dem zu braunen Zeiten u.a. 2.800 Todesurteile vollstreckt wurden.
Auf dem Saatwinkler Steg überqueren wir letztmals Wasser und befinden uns auf den letzten paar hundert Metern auf dem gleichen Weg, der uns am Anfang der erste war. Schon von weitem erschallt lauter Beifall, der tatsächlich – erst bin ich unsicher – mir gilt. Dankeschön! Dem warmen Willkommen folgt die verdiente, sehr individuelle Medaille und eine Sitzeinheit auf der erstbesten Leitplanke. Puh! Auch wenn ich es schon mehrfach zum Ausdruck gebracht habe: Das war heute für mich eine ganz harte Nummer, die mir allerdings durch die supertolle Strecke wirklich versüßt wurde.
Ein wenig Zeit nutze ich noch bei hervorragender Zielverpflegung mit allem, was das Herz begehrt, zur Regeneration, bevor ich mich auf den halbstündigen Fußmarsch zurück zum Hotel mache. Dort kann ich freundlicherweise im Spa-Bereich noch duschen. Sechseinhalb Stunden später sinke ich wohlbehalten zuhause nicht nur in Morpheus' Arme.
Streckenbeschreibung:
Wunderschöner Rundkurs mit nur knappen hundert Höhenmetern.
Startgebühr:
40 € bei rechtzeitiger Anmeldung.
Leistungen/Auszeichnung:
Medaille, Urkunde.
Logistik:
Perfekt. Entgegen der Ausschreibung kann man gut am Zaun der Julius-Leber-Kaserne in HoKa III parken. Von dort sind es nur wenige Minuten.
Verpflegung:
Vier gut bestückte VP. Klasse Zielverpflegung.
Zuschauer:
Etliche Ausflügler.