Als Hybrid bezeichnet man Dinge, die sich aus Verschiedenartigem zusammensetzen. Beim Berliner Oster-Marathon könnte man alleine schon den Streckenverlauf als hybrid bezeichnen. Uferwege, Waldwege, dörfliche und städtische Passagen wechseln sich wunderbar ab, so dass niemals Langeweile droht. Einzige Konstante ist die Havel. „Immer links am Wasser lang“, wie Etze, Frank-Ulrich Etzrodt vom Veranstalter Laufgruppe im Saatwinkel, stets beim Streckenbriefing erwähnt.
Heute fällt das Streckenbriefing aus, denn der Vollmondmarathon findet unter verschärften Hygiene-Auflagen statt. Aber immerhin, es gibt eine behördliche Genehmigung der Berliner Senatsverwaltung für Etzes Konzept: Maximal 50 Teilnehmer, Start in Zweier-Gruppen alle 3 Minuten mit der Bitte, auf den Punkt am Start einzutreffen. So werden Ansammlungen vermieden. FFP2 Maske am Start ist vorgegeben. Nur eingeschränkte Verpflegung an 2 Standorten.
Was aus „normalen“ Zeiten bleibt, ist die oben beschriebene Originalstrecke. Für auswärtige Teilnehmer (touristische Hotelaufenthalte sind aktuell nicht zugelassen) besteht auch die Möglichkeit, den Marathon zur gleichen Zeit virtuell anderen Ortes zu laufen, wovon auch etliche Gebrauch machen, etwa 30 laufen „real“. Somit ein Hybridmarathon mit realen und virtuellen Teilnehmern, einer der ersten dieser Art.
Ich zähle zu den realen Läufern und treffe einige Bekannte wieder, denn mit meiner 5. Teilnahme an der 7. Veranstaltung zähle ich wie viele zu den Stammgästen. Nur den ersten habe ich mangels Kenntnis verpasst, der sechste letztes Jahr war eine rein virtuelle Veranstaltung. Mich aber reizt immer wieder die fantastische Strecke und die herzliche, familiäre Atmosphäre, die das Team um Etze und seine Frau Evi schafft. Und das ist virtuell nicht zu haben.
Pünktlich um 9 Uhr startet Etze das erste Zweier-Team mit Sigrid, die Frau mit den meisten absolvierten Marathons, weit über 2000 Stück inzwischen. Für mich ist es dagegen erst der 92te, den ich um 9.12h gemeinsam mit Herbert angehe. Wie ich erst später erfahre, ist Herbert Bundesgeschäftsführer des Verbandes der privaten sozialen Einrichtungen. Stellvertretend für die vielen Pflegekräfte in Euren Einrichtungen meinen Dank an Dich für den Dienst am Menschen in diesen schwierigen Zeiten.
Startort ist die Tegeler Brücke am Hohenzollernkanal im Berliner Stadtbezirk Reinickendorf. Wir laufen zunächst ein kurzes Stück am Kanal entlang, passieren die Kleingartenanlage „Im Saatwinkel“, wo um diese frühe Uhrzeit am Sonnabendmorgen noch nicht viel los ist. Schon nach einem Kilometer sind wir in der Jungfernheide, die hier direkt an der Havel keine Heidelandschaft, sondern ein Kiefernforst ist. Letztes Jahr im Sommer (es gibt auch eine Sommeredition, die nächste findet am 24.07.2021 statt) versperrten uns die parkenden Autos der Badegäste den Weg, heute sind die Badebuchten leer und ermöglichen fantastische Blicke auf die glitzernde Havel unter einem wolkenlosen Himmel. Da ich es heute langsam angehen lasse, werde ich gelegentlich überholt und kann so noch das eine oder andere Foto von den Mitläufern schießen, auf der zweiten Hälfte des Laufes werde ich keinen mehr erblicken.
An die Jungfernheide schließt sich die Greenwichpromenade des Stadtteils Tegel an, an der auch Fahrgastschiffe anlegen. Der Schaufelraddampfer „Havel Queen“, den ich schon öfter auf der Havel ablichten konnte, liegt heute arbeitslos vor Anker. Weiter geht es über eine der zahllosen Brücken, die Nebenarme, Kanäle oder Hafenbecken überbrücken, in dem Fall über die wunderschöne rotfarbene „Sechserbrücke“. Bald sind wir im Tegeler Forst, aber immer in der Nähe zum Wasser, was neben vielen schönen Naturfotos auch Blicke auf die vielen Segelboote der hier zahlreich ansässigen Yachtclubs erlaubt. Die Borsigvilla, die Villa des Industriellen August Borsig, der die längst nicht mehr existierenden Lokomotivwerke in Berlin-Tegel aufbaute, können wir nur aus der Ferne sehen, denn diese dient als Gästehaus des Auswärtigen Dienstes. Ob hier ebenso Betriebsruhe herrscht wie in den meisten Hotels?
Nach 10 km verlassen wir den Tegeler See, eine größere Ausbuchtung der Havel, wenden uns nach Norden zu und erreichen Tegelort. Von nun an können wir das meist unbebaute Westufer der Havel auf der gegenüberliegenden Seite erkennen, während auf „unserer“ östlichen Seite die folgenden 10 km fast durchgängig bebaut sind. Wobei westlich/östlich nicht politisch-geografisch zu verstehen ist, denn das östliche Ufer gehörte zu „West-Berlin“, das westliche überwiegend zur DDR, so dass die Havel die Grenze bildete. Alles Vergangenheit, nicht aber der Wind, der uns nun von Norden kräftig ins Gesicht bläst.
Nach Tegelort folgen Konradshöhe und dann Heiligensee. Die Wohnbebauung ist eher dörflich, viele reizvolle Grundstücke in Wassernähe mit Einfamilienhäusern bebaut. Hier lässt es sich leben. An der DLRG-Station in Konradshöhe ist Wasser für uns deponiert, ich aber laufe vorbei, denn ich führe für den heutigen Tag alles Notwendige in meinem Rucksack mit.
In Alt-Heiligensee müssen wir die Havel für eine Zeitlang verlassen und folgen der Dorfstraße. Es lohnt sich, denn Alt-Heiligensee ist ein Angerdorf, wie es im brandenburgischen Raum oft anzutreffen war. Man versteht darunter ein Dorf an einer einzigen Straße, die sich um eine Wiesenfläche (Anger), oft mit einem Teich (zum Feuerlöschen) und einer Kirche, teilt. Hier liegt die schöne Dorfkirche nicht auf dem Anger, sondern etwas abseits, weswegen ich einen kleinen Abstecher mache. Kurz nach Heiligensee erreichen wie eine dreifache Grenze. Zwischen den Städten Berlin und Hennigsdorf, zwischen den Bundesländern Berlin und Brandenburg und zwischen den ehemaligen deutschen Staaten. An letztere erinnert ein Hinweisschild.
In Hennigsdorf angekommen, überqueren wir die Havel und laufen nun südwärts. Endlich sind wir den Gegenwind los, vom Rückenwind merke ich aber nichts, typisch. Wie erwähnt war die Havel die Grenze, und insofern war hier das westliche Ufer auf dem Gebiet der DDR stark geschützt. Der Mauerweg entlang der ehemaligen Berliner Mauer erinnert daran, diesem folgen wir nun auf etwa 8 km. Noch in Hennigsdorf laufen wir am Bombardier Werk entlang, Nachfolger der in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts von Tegel nach Hennigsdorf teilverlegten Borsigwerke. Heute werden hier vor allem Nahverkehrszüge hergestellt, eine bunte Auswahl präsentiert sich auf dem langgezogenen Freigelände. Eine weitere Brücke über einen weiteren Kanal und wir erreichen Nieder Neuendorf. War dies vor der Wende noch Grenzsperrgebiet, an das unter anderem ein alter Wachtturm als Mahnmal erinnert. Die Wohnbebauung erreicht mittlerweile den Uferstreifen.
Ein kleiner Kiefernforst und wir erreichen wieder Berlin, diesmal den Stadtbezirk Spandau. Stelen am Mauerweg erinnern meist an einen der insgesamt etwa 140 Toten an der Berliner Mauer, hier allerdings an eine ehemalige Westberliner Enklave. Fichtewiese, eine Kleingartenanlage, lag auf DDR-Gebiet, das die Kleingärtner nur nach vorheriger Anmeldung bei den Grenzbehörden betreten konnten. Heute unvorstellbar. Kurz danach erwartet uns am Jagdhaus Spandau bei km 28 der zweite Versorgungspunkt, betreut von Wolfgang, der auch Organisator des Müggelsee-Halbmarathon im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick ist. Dieser Halbmarathon, der seit etwa 15 Jahren auf einer Strecke um den Müggelsee, die ich lange vorher schon als einer meiner Lieblingsstrecken entdeckt hatte, stattfindet, wäre auch einen Laufbericht wert, wenn es denn ein Marathon wäre… Wolfgang ist zuversichtlich, dass der Lauf am 24.10.2021 über die Bühne gehen kann. Bis dahin ist noch ein bisschen Zeit und ich bediene mich am Buffet, was unter anderem Obst, Schokolade und Wasser enthält und im Übrigen natürlichen allen Hygienekonzepten gerecht wird.
Dann geht es weiter ins Schlussdrittel durch Spandau. Zunächst Grün- und Kleingartenanlagen, dann immer städtischer werdend. Dann gilt es 2 Brücken zu queren, aber halt, die zweite am Aalemannkanal dürfen wir heute nicht nehmen. Stattdessen müssen wir dem Kanal 500 Meter bis zum Ende folgen und auf der gegenüberliegenden Seite wieder zurücklaufen. Denn da der Startpunkt des Marathons im Vergleich zu den Vorjahren verlegt wurde, fehlte 1 km und die wurden hier eingebaut. Der Versuchung, hier bei km 30 doch die Brücke über den Aalemannkanal zu nehmen, bin ich nicht gefolgt. Denn ich zeichne heute meinen Track auf, da ich parallel am Schinder-Trail „Frühlingserwachen“ teilnehme, wozu ich mindestens 42,2 km auf der Uhr vorweisen muss. Schlimmer noch - da meine Uhr nicht genau misst (etwa 2% zu wenig, wie ich aus Vergleichen mit anderen Uhren weiß), muss ich heute sogar einige kleine Umwege laufen, um an Ende die 42,2 km zu erreichen – besch…
Auch von Spandau sehen wir nur die Wasserseite mit vielen neuen Wohnvierteln an den ehemaligen Hafenbecken. Alte Speicherhäuser werden ebenfalls zu Wohnhäusern umgebaut, was ich in den letzten Jahren schon beobachten konnte. „Gut Ding will Weile haben“, mal schauen ob der Umbau im nächsten Jahr abgeschlossen ist. Über eine schöne Bogenbrücke, die „große Eiswerder-Brücke“ überqueren wir einen Havelarm und erreichen die Insel Eiswerder bei km 38, verlassen diese über die „kleine Eiswerder-Brücke“ und wenden uns noch einmal ein kurzes Stück nach Norden.
Dann entfernen wir uns von der Havel und laufen 2 km entlang des Hohenzollernkanals, nicht ohne eine letzte Brücke über diesen zu queren. Dann ist es geschafft, (Ultra)Marathon # 92 „im Sack“. Am Ziel warten Evi und Etze auf die letzten Läufer. Schnell noch die „Medaille“ mit Hase- und Igel-Motiv auf Holz in Empfang nehmen, dann zurück zum Auto. Duschen gibt es nicht, was auch Bestandteil des Hygienekonzept ist. Merke: hygienisch ist, wer sich nicht duscht. Verrückte Zeiten. Verrückt, genau genommen laufverückt, ist auch die Laufgruppe im Saatwinkel, die uns die heutige Veranstaltung unter nicht einfachen Bedingungen ermöglichte. Ganz lieben Dank dafür, Evi, Etze & Team.
Persönliches Fazit: Das war heute ein starkes Stück Arbeit. Quasi als Selbstversorger mit wenig Kontakten unterwegs wäre es fast wie ein 42 km – Trainingslauf gewesen. Wenn, ja wenn, es nicht doch die fantastische Strecke und die spürbare Atmosphäre eine familiären Veranstaltung gewesen wäre. Nächstes Jahr bin ich wieder dabei, dann hoffentlich wieder unter „normalen“ Umständen. Ihr auch?