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Laufberichte

Spreehafen-Marathon: Wo die Freiheit beginnt

14.01.17 Special Event
 
Autor: Joe Kelbel

2013 wurden die drei Meter hohen Zäune rund um den Hamburger Freihafen zerschnitten, und das Gelände nach über 120 Jahren wieder für den öffentlichen Zugang freigegeben.  Der Freihafen war zollfreies Gebiet, damit Händler nicht versteuern müssen, was sie noch gar nicht verkauft haben, bei Gründung des Freihafens 1881 im Durchschnitt 30 % des Warenwertes. Durch  internationale Freihandelsabkommen wie GATT und WTO ist der durchschnittliche Steuersatz für  Nicht-EU Güter auf 3 % gesunken, EU Ware ist steuerfrei, so ist der Freihafen überflüssig geworden. Wer dennoch 3 %  Abgaben nicht vor dem Verkauf der Ware zahlen kann, der kann Freilager überall innerhalb der EU nutzen.

Einst war ganz Hamburg ein Freilager, doch mit Gründung des Deutschen Reiches 1871, wurde der Zoll an der Außengrenze Hamburgs fällig, auch für in Hamburg hergestellte Produkte. Es musste ein Kompromiss her: Im Zollanschlussvertrag von 1881 trat Hamburg die Zollhoheit an das Reich ab, erhielt als Ausgleich 40 Millionen Reichsmark, mit denen die Speicherstadt gebaut wurde. Im Freihafen wurden nur noch nicht-deutsche Waren gehandelt, gelagert und weiterverarbeitet.

Einen speziellen Freihafen gibt es aufgrund des Versailler Vertrages für die Tschechoslowakei: den Moldauhafen, wo jetzt das Überseezentrum ist. Diese tschechische Exklave wird 2028 wieder Eigentum Deutschlands.

 

 

Neben dem Moldauhaufen ist der Spreehafen, so genannt, weil hier die Lastschiffe portionsweise mit Ware der Überseeschiffe beladen wurden. Sie transportierten Güter über die Elbe, Havel und Spree nach Berlin. Der Spreehafen ist unser heutiges Marathongebiet und wird von Christian Hottas unter seiner Themenserie „Lost Places“, „Hamburg Special“ und „FEM Insel“ veranstaltet. „FEM“ ist jetzt leider, leider keine Demonstration barbusiger Damen, auch kein Hygieneartikel für solche, sondern bedeutet „Fun und Erlebnismarathons“, hat aber auch ein rosa Logo.

FEM oder Fun stellt sich beim Start um 10 Uhr wegen der Kälte erstmal nicht ein und die marode Industrielandschaft verheißt kein sonderliches Erlebnis. Wir befinden uns auf der Spreehafeninsel, auf dem Teil, wo die Reparaturwerkstatt der Hafenbahn ist. Die museumsreifen Loks und Wagons stehen entlang des Moldauhafens, aber hier am Startort stinkt es bestialisch nach Vergorenem. Nun habe ich grundsätzlich keine Berührungsängste mit Vergorenem, ich muss es nur definieren können. Das gelingt mir augenblicklich: Vor den Lagerhallen der Firma Vollers liegen Kakaobohnen, die von schweren Lastwagen zu gärender Kakaomasse gequetscht wurden. Die Lastwagen warten vor der Lagerhalle und haben rumänische Kennzeichen, der Handelsweg ist also ähnlich geblieben. Zwanzig Meter weiter habe ich zusätzlich Kaffeebohnen und Pistazien im Profil meiner Hokas. Was nicht direkt ans Schwarze Meer geht, wird im Hafenteil Vettel, auf der Peute, zu Kakaobutter verarbeitet und an die Schokoladenhersteller geliefert.

Unsere Strecke führt nun über die Spreehafenbrücke, rechter Hand das alte graffitiverschmierte Zollgebäude. Die LKW´s wurden in einer Reihe abgefertigt, alle 5 Meter in Fahrerhöhe ein Zollbüro. Wir biegen links ab und laufen über eine eigenartige Schleuse. Sie dient der Regulierung von Schlammablagerungen, nicht der Schifffahrt, alles videoüberwacht. Der Uferweg ist versperrt, es geht entlang des Klütjnfelder Hauptdeiches, wo einst der hohe Zaun stand. Rechts nun der Kanal, der 200  Wilhelmsburgern  am  17.02.62 den Tod brachte, und Helmut Schmidt zur Legende wurde.

Ich laufe sicherheitshalber über den Deich, sehr trailartig, mir nicht genehm, überblicke nun den Spreehafen mit seinen seltsam marodierten Hausboten.  Eine scheinbare Idylle, denn diese Boote(„Lieger“ genannt), sind Industriedenkmäler, stehen unter Denkmalschutz. Es  sind die ehemaligen Unterkünfte der Arbeiter und „Fietze“,  der Aufseher, die die Beladung der Kähne mit Säcken, Stoffballen und Fässern überwachten.

 

 

Die Lieger, diese vom Schiffsbohrwurm durchlöcherten Kähne, die an baufälligen Stegs (Dalben) hängen, die langsam und schief im Hafenschlick versinken, sind schon eine Sensation: Der rostig- brüchige Lieger Caesar z. B. ist 90 Jahre alt, auf ihr wohnen die Arbeiter, die heute die südliche Fahrrinne freihalten. Im Laufe der Tide und meiner Marathonrunden beobachte ich, wie der Bagger die Frachtkräne „Forelle“, „Hai“ und „Rochen“ befüllt. Ob das Sinn macht, kann ich nicht beurteilen, die Hafenbehörde will Hafen, nicht Weiden. Der Dreck kommt Richtung Hauptbahnhof, wo schwer gebaut wird.

Der nächste Lieger ist eine Ausbildungsstätte für „schwer vermittelbare Menschen mit Hemmnissen“, also für gestrandete Matrosen von kargen Südseeinseln, oder einsamkeitsliebende Marathonläufer aus der Wüste. Aus denen macht man Schweißer (ich schweiße eh schon), Zimmerleute oder Korrosionsschützer. Das ist auch der Traum von Gutmenschen, die hier mal Kinder sehen wollen, die Seile drehen und Rost klopfen, jetzt Flüchtlingsunterkunft.

Ich bin nun bei Meter 400 dieses Marathons und blicke von der Deichkrone hinüber zur Elbphilharmonie: „Mann, was hätte man für das Geld für Laufhäuser bauen können“ sage ich zu Christine, die ihren 712 Marathon/Ultra läuft. „Ja, so überdachte“ freut sie sich, und ich sage: „ Ja, ich denk da so eher an die Herbertstraße, oder so!“

Zwei Kilometer lang ist nun unsere Streck auf der Wilhelmsburger Seite, auf der  Kronkorken verschiedener Biermarken in akkurater Ausrichtung in den im Sommer flüssigen Asphalt gedrückt wurden.  Dieser Teil mit seinen Freitreppen hinauf zum Deich, ist zur Partymeile geworden. Silvesterreste beweisen, dass man von hier den besten Ausblick auf die Skyline von Hamburg mit seinen 5 Hauptkirchen hat.

Man kann hier noch frei laufen, kein Vergleich zur Binnenalster, wo Hamburger im Einheitslook aus teuren, irisch-gefederten Designerjacken flanieren.  Die Brücke über den Veddelkanal ist gut zu laufen, ein Gummigitter hält uns oberhalb der drohend ablaufenden Tiede.  Zehn Meter weiter geht es über den Saalehafen, auch nicht schlecht, an einem verfallenen Bahngebäude und dem Hafenmuseum vorbei, und entlang einer hohen Spundwand, die das Hochwasser bändigen soll.

Hochwasser ist heute nicht zu erwarten, es geht nach weiteren zwei Kilometern über die Brandenburger Brücke, die über den Veddelkanal führt  zum Start/Zielgelände auf die Spreehafeninsel. Ich habe 4,283 Kilometer hinter mir und noch neun wunderbare Runden vor mir.

Während dieser neun Runden wird das Wetter immer besser, der Spreehafen immer leerer, der Schlick immer fetter. Dicke, weiße Vögel, die sonst an den Landungsbrücken die Touris vollscheißen, genießen hier ihre Kackpause und pennen auf der Sandbank.  Sogar der Bagger macht Siesta, nachdem er seinen Auswurf losgeworden ist.

Eigentlich kommt kein Meerwasser in den Spreehafen, aber wenn ich Wasser wäre, woher soll ich denn wissen, ob ich auf der Elbe, oder auf dem Meer bin und  in welchen der vielen Freihäfen ich einlaufen darf?

Ich bin Bier. Danke an  Christian, für sein Engagement, seine Arbeit, und seine bekloppt-genialen Ideen.  Kostpunkt: 10 Euro. Danke Noch einmal.

 

 


 
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