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Laufberichte

Chiemgauer 100

16.07.06

Danke für diese tolle Nacht

 

Das ist zwar eine Überschrift, hinter der man nicht unbedingt einen Laufbericht vermuten würde, aber es war das vorherrschende Gefühl zumindest bei uns Läufern der zweiten Gruppe beim 100-Meilenlauf im Chiemgau – aber schön der Reihe nach.

 

Im Vorjahr hatte ich bei der Premiere des 100 Km-Laufs teilgenommen. Es war keine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Heftige Anstiege, schwierige Bergabpassagen, mehrere Regenschauer und die Streckenmarkierung, die bei nachlassender Konzentration doch etwas sparsam war, hatten mir zu schaffen gemacht. Wiederholung also eher fraglich. Da traf es sich gut, dass Organisator Giselher Schneider dann für dieses Jahr eine 100 Meilen-Variante ankündigte – so musste ich nicht wieder am 100 Kilometerlauf teilnehmen.

 

Die Vorinformationen übers Internet waren wieder sehr umfangreich. Kartenausschnitte, ein detailliertes Roadbook und bis wenige Stunden vor dem Lauf verschickte Giselher Informationen über letzte Details, die sich erst beim Markieren der Strecke herausgestellt hatten.

 

Den Rahmen für die Veranstaltung gab wieder das Waldstadion in Ruhpolding ab. Die Begrüßung der Läufer und die Pastaparty ab 17.00 Uhr am Freitagnachmittag konnten wir dieses Jahr allerdings nicht genießen, denn der Plan für uns 100-Meilen-Läufer sah den Start schon ab Freitag, 16. 00 Uhr vor. Wir sollten dann eine Runde von 72 Km östlich von Ruhpolding drehen und am nächsten Morgen bei Km 12 auf die 100-Km-Strecke stoßen. Die restlichen 88 Km würden wir uns dann die Runde westlich von Ruhpolding mit den Kurzstreckenläufern teilen. Ob das Ganze zeitlich hinkommen würde, so dass die Verpflegungsstellen bereits besetzt sein würden, das war eine der vielen Unbekannten.

 

Für die meisten Teilnehmer war allerdings die Streckenmarkierung in der Nacht das größte Fragezeichen. Deshalb hatten sich verschiedene Teilnehmer verabredet, um die nächtliche Streckensuche gemeinsam zu versuchen. Da dieses Abenteuer kein Wettkampf sein sollte, war die individuelle Startzeit (ab 16 Uhr) freigestellt. Letztendlich starteten aber doch 9 der 12 Teilnehmer gemeinsam um 16.30 Uhr. Nur der Organisator der Veranstaltung musste erst noch bei der Pasta-Party die 100er begrüßen und machte sich gegen 19 Uhr auf die Verfolgung. Zwei weitere Läufer sind wohl noch am späteren Abend gestartet, waren aber bei allen Verpflegungs- und Kontrollstellen außerhalb des Zeitrahmens und auch 12 Stunden nach Ablauf des Zeitlimits noch nicht im Ziel, so dass man nur vermuten kann, dass sie einen besonderen Abenteuerlauf absolviert haben.

 

Die Stimmung am Start der 100-Meiler war gedämpft optimistisch. Alle hatten genug Erfahrung, dass sie es schaffen könnten, wussten aber auch, dass es extrem schwer werden würde und die zur Verfügung stehende Zeit von 30 Stunden sehr knapp war. Zum Vergleich: 4 von uns (Elke, Tom, Jochen, Norbert) haben den MontBlanc in gut 40 Stunden bestanden. Der ist etwas kürzer, hat dafür noch mal ca. 1.500 Höhenmeter mehr und vor allem den Nachteil, dass man schon kurz nach dem Start in der Dunkelheit durch die Bergwelt stolpert. Den Vorteil der früheren Startzeit wollten wir nutzen und gleich mal ein paar Kilometerchen vorlegen.

 

Es geht aus dem Stadion hinaus, ein paar Meter an der Traun entlang, wir passieren den Golfplatz und dann beginnt die erste leichte Steigung. Am Anfang sind wir 30 Minuten lang auf der 100-Kilometer-Strecke unterwegs, dann biegen wir links ab – jetzt beginnt das Neuland. Um jeden Übermut von Anfang an zu dämpfen, schickt uns Giselher eine deftige Steigung hinauf, die Wege werden schnell rumpelig und auch den ersten Verlaufer produzieren wir bereits. Ein, zwei Kilometer steigen wir schon auf dem selben Pfad nach oben und man sieht auch den weiteren Verlauf schön vor sich. Was man nicht sieht ist, dass die Strecke links in einen Holzabfuhrweg abbiegt. Das entsprechende Flatterband hat der Markierer sehr geschickt zwischen den Büschen versteckt. Einer unserer Mitläufer, Ulrich Großmann, der in einem Nachbarort wohnt und die Gegend wie seine Westentasche kennt, pfeift uns zurück und weist uns den richtigen Weg. Das wird nicht das einzige Mal bleiben, dass wir vom rechten Weg abkommen. Die Markierung ist zwar ordentlich, aber man hat seine Augen und vor allem die Konzentration einfach nicht fortlaufend beisammen.

 

Wir erreichen den Zinnkopf und damit die erste schöne Aussicht Richtung Chiemsee. Anschließend geht es die mühsam erkämpften Höhenmeter auf wurzeligen Pfaden wieder steil bergab. Der Abstieg ist fast genauso anstrengend wie der Aufstieg und viel schneller ist man dabei auch nicht. Dazu hat es mittlerweile noch zu regnen begonnen. Schon nach eineinhalb Stunden haben wir einen guten Eindruck, was auf uns zu kommen wird. Nach zwei Stunden erreichen wir die erste Verpflegungsstelle in Hörgering. Sie ist in der Garage unseres Mitläufers Uli aufgebaut und bietet zum ersten Mal willkommene Erfrischung. Dann geht’s über einen Höhenrücken weiter nach Hammer, wo meine Frau Elke bei Km 24 eine weitere Getränkestation anbietet. Jetzt beginnt der zweite größere Anstieg. Zuerst noch ein paar Wellen auf schön abwechslungsreichen Trails und dann geht´s aufwärts. Nicht steil, aber stetig – 660 Höhenmeter , auf 9 Km.

 

Die Renneinteilung einiger Mitläufer verstehe ich nicht so ganz. Tom ist uns schon am Zinnkopf enteilt und einige andere stürmen den Berg hinauf, als ob oben das Ziel wäre. Dabei werden noch viele Höhenmeter kommen und wir werden im Lauf der nächsten 24 Stunden noch wesentlich flachere Berge hoch wandern. Ich ringe einige Zeit mit mir, ob ich mitziehen soll, aber schließlich siegt die Vernunft und ich lege immer wieder Marschpausen ein. Relativ schnell muss ich abreißen lassen und schließlich entschwinden die Mitstreiter meinen Blicken.

 

Das ist eine recht frustrierende Situation, da ich jetzt alleine in die langsam heraufziehende Dämmerung hineinwandere. Es droht, was ich auf jeden Fall vermeiden wollte, eine einsame Nacht in den Chiemgauer Bergen. So kann ich die untergehende Sonne, die schönen Wolkenbilder und die gelegentlichen Fernblicke nicht wirklich genießen. Durchaus zornig bin ich auf meine beiden Vereinskameraden. Mehrfach hatten wir besprochen, dass wir die Nacht über zusammen bleiben würden. Erst diese Zusicherung hatte mir die Zuversicht gegeben, überhaupt teilzunehmen und jetzt sind die beiden im wahrsten Sinne über alle Berge.

 

Aber irgendwie setzt der Zorn wohl auch Adrenalin frei und so stapfe ich kraftvoll der Stoißer Alm entgegen. Die wurzeligen Almwiesen dort sind wunderschön, von der Almhütte schweift der Blick weit über die umliegenden Berge, die noch im letzten Tageslicht liegen. Über der Alm liegt diese typisch friedliche Stimmung zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit. Ich kann die Stimmung nicht ausgiebig genießen und finde auch keine Zeit zum Photographieren, denn zu meiner Freude sind Sebastian (Schöberl) und Olaf (Schmalfuß) an der Almhütte noch mit ihrem zweiten Bier (nach Hörgering) zugange. Auch Uli und Herrmann Böhm haben eine kleine Pause eingelegt. Diese muss bei mir zwar ausfallen, aber ich habe wieder Anschluss.

 

Zusammen machen wir uns auf den Weiterweg, auf breiten Wegen hinab in Richtung Inzell. Anfangs bin ich noch besorgt, ob ich das Tempo mithalten kann. Aber bald merke ich, dass wir jetzt einen recht ähnlichen Rhythmus haben. Fast zur gleichen Zeit wechseln wir an Steigungen vom Lauf- in den Gehschritt und traben umgekehrt wieder an, wenn es wieder flach wird. Für diese Nacht habe ich meine Gruppe gefunden. Das war auch höchste Zeit, denn erstens ist es mittlerweile 22 Uhr und zweitens ist es in den Tälern doch schon relativ duster. Dafür dürfen wir jetzt ein besonderes Schauspiel genießen. Glühwürmchen schweben durch die Luft, Frösche und Kröten springen kreuz und quer über den Weg – einfach zauberhaft.

 

Irgendwann hat der Zauber allerdings ein Ende. Es stellt sich die triviale Frage: “Hat jemand eigentlich in letzter Zeit eine Wegmarkierung gesehen.“ Dies ist nicht der Fall, also beginnt im Licht der Stirnlampen das intensive Roadbook-Studium. Dank Ulli wissen wir sofort, wo wir hin müssen, nämlich rechts hoch zur Steiner Alm. Die Wege dahin sind durchaus zahlreich, was das Problem eher vergrößert, zumal keiner unser ersehntes Flatterband aufweist. Also bleiben wir im Zweifel auf dem breitesten Weg, der allerdings immer weiter talwärts führt. Mehrere intensive Diskussionsrunden führen nur zu einem Ergebnis: Wir wissen, dass wir falsch sind, aber umdrehen bringt auch nichts mehr. Also umrunden wir den Berg, auf dem die Alm liegt in weitem Bogen und erklimmen ihn schließlich von der falschen Seite.

 

Vielleicht 3 Kilometer wird uns der Spaß gekostet haben, aber wirklicher Ärger kommt nicht auf. Bei Ankunft auf der Steiner Alm überwiegt die Freude, dass wir wieder auf der richtigen Fährte sind. Nur Sebastian ist etwas enttäuscht, dass die Alm doch tatsächlich nachts um kurz vor 12 Uhr geschlossen hat und er auf sein nächstes Bier noch etwas warten muss. Während des folgenden zünftigen Vespers (Riegel und Gummibären) studieren wir Landkarten, um für die nächste Etappe besser gerüstet zu sein. Diese beginnt mit einen kräftigen, unangenehm wurzeligen Anstieg zum Bayerischen Stiegl, aber als wir den höchsten Punkt erreicht haben, wechseln wir auf einen breiten Forstweg und auf dem geht es geschwind und toll zu laufen hinunter Richtung Inzell und dort zum außerhalb des Ortes gelegenen Gasthaus Adlgass.

 

Hier wartet kurz vor 1 Uhr morgens wieder meine Frau auf uns und hat die zweite richtige Verpflegungsstelle aufgebaut. Wir leisten ihr auf dem einsamen Waldparkplatz eine Viertelstunde Gesellschaft. Dann wird es aber kühl und wir machen uns auf den Weiterweg. Meine Frau muss hier bei Km 51 noch auf Giselher warten, der so etwa eine Stunde nach uns vorbeikommen wird. Dann hat sie ihr Tagwerk erledigt.

 

Wir haben noch etwas mehr zu tun. Es steht mal wieder ein Anstieg an. Kurz und knackig diesmal. 700 Hm auf 6 Km. Da wird uns schnell wieder warm. Die Temperaturen kann ich nicht richtig einschätzen. Elke stand mit Jacke an der Verpflegungstelle, aber ich laufe nach wie vor im Netzhemd und der Schweiß fließt in Strömen. Das gilt bei diesem Anstieg zur Kohler Alm wirklich wörtlich. Eine Kehre reiht sich an die andere, teilweise steile Stufen steigen wir hinauf. Das ist bisher der schwerste Anstieg. Aber oben gibt es dafür eine schöne Belohnung. Immer wieder haben wir während der Nacht darauf gehofft, dass der Mond sich mal zeigen würde und gerade als wir die Alm erreichen, findet er eine Lücke in der Wolkendecke und taucht die Almwiese in silbernes Licht. Nur vielleicht zwei Minuten dauert dieses Schauspiel, aber das ist wieder einer dieser magischen Momente (wie letztes Jahr das Alpenglühen am Montblanc), die man nur bei solchen Läufen so intensiv empfindet.

 

Der Abstieg von der Alm ist mindestens so schwierig wie der Anstieg. Anfangs schmal und felsig, dann geht es in den Wald hinein und da ist´s dann zur Abwechslung steil, dunkel und wurzelig. Was wäre das für ein Spaß, hier bei Tageslicht im Rahmen eines 50 Km-Laufs runterzudonnern. So a la Swiss Jura. Aber mit Donnern ist nichts, es ist schon schwer genug, in diesem Wurzelgewirr überhaupt einen Weg zu finden. Dabei ergeben sich durchaus komische Szenen. Als ich an der Spitze laufe und meine Mitläufer warne: „Vorsicht, es wird nass!“, kommt die fröhliche Antwort: „Du stehst im Bach. Die Brücke ist einen Meter höher“. So richtig viele Kilometer machen wir nicht bei diesen Bedingungen, aber natürlich werden die Wege auch mal wieder besser und Richtung Jochberg (Km 62) können wir es wieder rollen lassen. Hier passieren wir auch eine nette Sondermarkierung: Nur noch 100 Km. Ca. 10 Stunden 20 Minuten haben wir für die ersten 60 Km gebraucht.

 

Grundsätzlich kann man sagen, dass Giselher für diese Runde vergleichsweise zivile Wege gewählt hat. Schikanen wie der Skihang am Unternbergsattel oder der Abstieg von der Hörndlwand, die uns auf der 100-Km-Strecke noch erwarten, sind nicht dabei. Wir absolvieren zwar +/- 2.700 Höhenmeter auf 72 Kilometern, aber es geht vergleichsweise anständig zu. Das ändert aber nichts dran, das immer wieder schmale, dunkle Passagen zu meistern sind, wie auch nach dem Jochberg auf einer Schleife Richtung Höllenbachalm, wo man nur langsam vorankommt, weil die Gefahr, dass man auf diesen Pfaden umknickt viel zu groß ist. Das Wechselspiel geht weiter. Schöne Forstwege hinunter Richtung Weissbach und als wir uns schon fast an der Straße wähnen, links ab steil hinauf auf den sogenannten Salinenweg, der allerdings ganz sicher kein Weg ist, sondern mit viel Wohlwollen ein Pfad. Hier überholt uns Giselher und nach einem Abstieg über steile Stahltreppen sind wir doch wieder in der Zivilisation angekommen. Weissbach (km 68) ist erreicht und damit auch die nächste VS.

 

Freunde von Giselher haben ihre Garage zur Verfügung gestellt und einfach das Licht brennen lassen. Verpflegung und Registrierung in den Zwischenzeitlisten erledigen wir selbst. Dabei sehen wir, dass die andere Gruppe so 45 Minuten vor uns durchgekommen ist. Wir nehmen´s einfach zur Kenntnis. Wettkampfgedanken gibt es nicht bei diesem Abenteuer. Als wir die Garage verlassen, merken wir, dass ganz allmählich der Morgen anbricht. Vor lauter Begeisterung produzieren wir den nächsten Verlaufer, da wir einfach weiter der Straße folgen und nicht wie im Roadbook beschrieben, den Sportplatz überqueren.

 

Gott sei Dank kennt sich Uli auch hier aus und führt uns zurück an den Bach. Diesem folgen wir wieder Richtung Inzell, vorbei an imposanten Wasserfällen über malerische Pfade und erreichen schließlich gegen 5.15 Uhr das Cafe Zwing. Damit ist unsere Extratour zu Ende. Diesen Punkt werden auch die 100-Km-Läufer bei Km 12 passieren. Sie sind vor 15 Minuten gestartet. Sehr lange wird es nicht dauern, bis uns die ersten überholen werden.

 

Wir biegen an einer durchaus schwierigen Stelle auf die Standardstrecke ein. Der alpine Steig durch die Steilabstürze des Kienbergs mit vielen Engstellen, Steilabstürzen und Drahtseilsicherungen hat mir letztes Jahr etwas Angst eingejagt. Dieses Jahr sind wir natürlich deutlich langsamer unterwegs. Nach 75 Km muss man nicht versuchen, hier entlang zu rennen und so komme ich in zügigen Wandertempo diesmal gut und sicher durch.

 

Nach der VS bei Km 77 folgt dann eine schöne Sprintstrecke. 9 Km leicht fallend auf breiten Wegen bis ins Stadion in Ruhpolding. Einen 6er-Schnitt bringen wir auch nach gut 14 Stunden noch zu Wege und nach 88 Km sind wir wieder auf LOS. Die Verpflegungsstelle hier ist gigantisch. Viele freundliche Helfer, ein reichhaltiges Angebot an Speisen und zu unserer totalen Überraschung treffen wir auch alle Läufer der ersten Gruppe hier. 45 Minuten auf 17 Kilometern haben wir aufgeholt, so ganz kann ich nicht verstehen, was da passiert ist.

 

Aber lange Zeit für große Gespräche nehme ich mir nicht. Ich will weiter, bevor ich den Verlockungen von herumstehenden Stühlen und Liegebetten evtl. erliege. Ich bedanke mich nochmals besonders bei Uli für seine Navigationskünste und dann mache ich mich zusammen mit Tom Wolter-Rössler auf den Weg nach Westen. Die 2. Runde wird uns um und vielleicht am Schluss auf den Hochfelln führen. Einen Kilometer nach dem Stadion beginnen die ersten Hügelchen, es folgt ein Direktanstieg über Wiesenhänge und zum guten Schluss wartet der Skihang am Unternbergsattel. Dann sind wir auf einer Laufstrecke von 4,5 km um 650 Meter höher.

 

Der Begriff Laufstrecke ist allerdings relativ. Die Spitze der 100 Km-Läufer, die uns hier überholt, ist noch joggend unterwegs, aber für uns 100 Meiler ist schlicht gehen angesagt. Letztes Jahr hat mich diese Passage extrem angestrengt, da ich immer wieder versucht habe, Tempo aufzunehmen. Dieses Jahr nähere ich mich langsam aber sicher der 100 Km –Marke. Da darf ich hier hoch gehen.

 

Die folgende Matsch und Wurzelpassage vom Unternbergsattel zur Brander Alm zeigt mir allerdings meine Grenzen auf. Auf diesen überwiegend abfallenden Holperwegen springen die Kurzstreckler fröhlich vorbei. Jeder Schritt ist hier unterschiedlich lang. Laufend muss man links oder rechts Pfützen oder Steinen ausweichen und irgendwelche Stufen rauf oder runter springen. Meine strapazierten Muskeln haben die nötige Elastizität nicht mehr. Zum Berge hochsteigen reicht´s noch, für meinen Ultraschlappschritt auch, aber wenn ich hier meinen Schlappschritt ziehen würde , läge ich alle paar Meter im Dreck. Außerdem sind mittlerweile aufgrund der ungewohnten Belastung auch die Fußsohlen wund und zwei, drei Blasen dürften sich auch gebildet haben. So leide ich meinem ersten richtigen Tiefpunkt entgegen.

 

Da kommt die nächste Alm gerade richtig. Sebastian sitzt schon beim Bier und ich leiste ihm bei einem Radler Gesellschaft. Gerade jetzt kommen von der 100-Kilometer-Fraktion Werner Selch und Wolfgang Jezek vorbei und so ist im Nu ein fröhliches Gelage im Gange. Die Wanderer am Nebentisch zucken jedes Mal zusammen, wenn ich eine der Blasen aufschneide, am meisten zucken sie aber, als wir erzählen, dass wir noch gut 60 Kilometer vor uns haben. Unser Lauf würde bei ihnen wohl für eine ganze Wanderwoche ausreichen.

 

Der folgende Anstieg zur Hörndlwand geht mir nach der Radlerpause gut von der Hand. Dieses Mal finde ich sogar auf Anhieb den Weg links vom Schotterfeld und es ist in der Tat viel einfacher die 350 Höhenmeter auf dem Wanderweg zu bezwingen, als durch das Schotterfeld zu krabbeln, wie im Vorjahr. Der Abstieg ist aber unverändert miserabel: sehr steil, äußerst rutschig, viele hohe Stufen und endlos lang. Da war der Aufstieg einfacher und mein einziger Trost ist, dass ich sogar noch Läufer beim Abstieg überhole – es fällt also allen schwer.

 

Nach der Verpflegung im Röthelmoos bei Km 100 folgen breite relativ flache Wege – genau das Richtige für meinen kaputten Muskeln. Aber mittlerweile ist es 12 Uhr geworden. Die Sonne hat die Dunstschwaden aufgelöst, es wird warm und ich werde unendlich müde. Die Nacht habe ich gut rumgebracht, aber jetzt, wo keine besondere Konzentration erforderlich ist, will mein Körper nur noch ins Bett. Also richte ich mich immer wieder geradeaus aus, schließe dann  für einige Zeit die Augen und wenn ich links oder rechts ins Gebüsch gerate, richte ich mich wieder neu aus. So schlafe ich 2 –3 Kilometer lang und bin dann durchaus erholt für den nächsten Anstieg hinauf zur Jochbergalm. Es ist der vorletzte des Laufs. Der letzte wird uns dann ab Kilometer 135 hinauf auf den Hochfelln führen. Ich mache mich allerdings schon mal mit dem Gedanken vertraut, diesen letzten Anstieg nicht mehr zu schaffen. Dazu müsste ich nämlich bis 19 Uhr den Cutoff –Punkt in Egg erreichen. Wer später kommt, darf nicht mehr hoch, weil er sonst den nicht ungefährlichen Abstieg in der Dunkelheit bestreiten müsste. Dieses Vergnügen habe ich letztes Jahr „genossen“ und auf eine Wiederholung lege ich keinen Wert. Deshalb habe ich für mich als internen Cut off 18.30 Uhr festgelegt. Das ist zwar noch zu schaffen (33 Kilometer in 6 Stunden), aber energisch kämpfen werde ich dieses Jahr nicht, um noch hoch zu dürfen.

 

So passiere ich in gedämpfter Stimmung die nächste Verpflegung an der Jochbergalm. Mathias Müller und Peter Agardi, die ich letztes Jahr beim Isarrun kennen gelernt habe, holen mich hier ein. Matthias hat sich schon nach 17 Km böse die Bänder gedehnt und sprüht folglich auch nicht vor Optimismus. Immerhin kann ich mich für eine Stunde an die beiden anhängen und wir tauschen beim Abstieg über den Hochsattel und dann über verschiedene Almen hinunter nach Eschelmoos unsere Erfahrungen aus. Hier nehmen die beiden die Abkürzung Richtung Ruhpolding, um mit der kürzesten Distanz von 66 km den Lauf zu beenden.

 

Ich trotte weiter nach links den breiten Weg bergab zur Kohlstatt-Alm. Hier habe ich letztes Jahr Tempo gemacht. Die folgenden 24 Kilometer mit nur welligem Profil und gut zu laufenden Wegen gehören zu den einfachsten des Laufs. Aber ich habe mein Pulver verschossen. Die Oberschenkel schmerzen bergab extrem und so bewege ich mich allenfalls im gemäßigten Joggingtempo bergab. Meine Frau, die mich in Kohlstatt erwartet, kredenzt zwar ein kühles Bier und spendiert ein Paar frische Socken, aber meinen Oberschenkeln hilft das auch nicht. Bergauf geht noch, das  kann ich gleich hinter der Alm am nächsten Steilhang beweisen, aber die weitere Strecke vorbei an der Mittelstation der Hochfellnbahn hinüber zur Wallfahrtskirche nach Maria Eck fällt teilweise kräftig und hier leide ich – und wenn ich keine Lust mehr zum Leiden habe, gehe ich einfach.

 

Auf diesem Stück überholt mich noch mal einer der Gefährten aus der gemeinsamen Nacht. Olaf Schmalfuß ist noch richtig gut drauf und meint, so richtig in Schwung komme er erst, wenn es über 100 Kilometer hinausgehe. Er will definitiv noch auf den Hochfelln und macht einen kurzen, gut gemeinten aber vergeblichen Versuch mich auch zu motivieren. Schade, dass er gerade vorbeikommt, als es richtig miserabel geht.

 

Die Voralpenlandschaft um Maria Eck gefällt mir ausnehmend gut. Viel Wald, sanfte Hügel, schöne Ausblicke hinüber zu den höheren Bergen – es macht trotz allem Spaß hier unterwegs zu sein. In Maria-Eck ist wohl gerade ein Gottesdienst zu Ende und durch die Besuchermengen wühle ich mich über den Parkplatz. Die erste richtige Berührung mit der Zivilisation nach dem Stadion in Ruhpolding heute morgen. Kurz darauf gibt es eine weitere Verpflegungsstelle, an der ich erfahre, dass ich jetzt der letzte Läufer auf der Strecke bin. Alle, die hinter mir lagen, haben aufgehört oder sind in Eschelmoos auf die Abkürzung eingebogen; darunter auch 4 der 100 Meilenläufer.

 

In Maria Eck lasse ich mich von meiner Frau noch mal richtig bemitleiden und dann beschließe ich, mit der blöden Geherei aufzuhören. Sonst brauche ich noch 4 Stunden für die restlichen 14 Km. Offensichtlich sind auch Muskelschmerzen überwiegend Kopfsache, denn nachdem ich erst mal angetrabt bin, komme ich doch flott voran. Die Strecke fällt auch nicht mehr steil. Es geht überwiegend schattig auf ordentlichen Pfaden und geschotterten Waldwegen an der rechten Talseite Ruhpolding entgegen und schließlich kräftig ansteigend zum Ortsteil Egg hinauf. Hier ist die Markierung wieder dürftig, aber ich weiß aus dem Vorjahr, dass ganz oben am allerletzten Haus die Verpflegungsstelle wartet. Die Helfer dort sind froh, dass sie nach mir zusammenpacken dürfen und ich bin froh, dass ich 45 Minuten zu spät dran bin, um noch auf den Hochfelln zu dürfen (müssen). Ich erfahre, dass auch Sebastian Schöberl den Direktweg nach Ruhpolding eingeschlagen hat, obwohl er noch gut in der Zeit war und dass Olaf tatsächlich ganz kurz nach 7 Uhr hier war und sich jetzt im Anstieg befindet. 4 Hundertmeiler werden am Ende die komplette Runde bewältigen – Glückwunsch und Hochachtung !

 

Die Abkürzung nach Ruhpolding gefällt mir nicht wirklich. Zuerst geht es auf Pfadspuren quer durch die Kuhfladen, dann durch ein Bogenschießgelände und dann folgt noch mal ein extrem steiler und rutschiger Abstieg, der zu allem Überfluss oberhalb von steilen Felsabstürzen liegt. Er strapaziert meine Muskeln und Nerven nochmals aufs Äußerste und ich überlege mittendrin ernsthaft, ob ich wieder nach oben steigen soll. Aber irgendwie komme ich runter, auch wenn’s sicher keinen Spaß macht. Nächstes Jahr geh ich lieber wieder auf den Hochfelln.

 

Die letzten Kilometer vereinigt sich meine Abkürzung mit dem Zieleinlauf derer, die den Hochfelln absolviert haben und so treffe ich viele Läufer wieder, die so knapp 16 Stunden für die 100 Km gebraucht haben. Es geht durch verschiedene Ortsteile von Ruhpolding und so hundertprozentig ist die Markierung hier wieder nicht. Der Markierer weiß wahrscheinlich zu exakt, wo es lang geht und kann sich kaum vorstellen, dass man auch in eine andere Richtung laufen könnte. Viele Läufer sind aber völlig orientierungslos und müssen sich einfach exakt auf Flatterbänder und Kreidepfeile verlassen. Selbst 300 Meter vor dem Stadion kommen uns Sally Marcellus und Gail Forshaw aus Kanada entgegen, weil sie keine Markierung mehr gefunden haben. Ihr zweiter bzw, dritter Platz in der Frauenwertung gerät dadurch aber nicht in Gefahr und um 21.03 Uhr sind sie im Ziel. Ich brauche noch 2 Minuten länger, aber dann ist es auch für mich vollbracht –28 Stunden und 42 Minuten war ich unterwegs – ca. 6.000 Höhenmeter und leider nur 140 Km, aber man braucht ja noch Aufgaben fürs nächste Jahr.

 

Der Abend vergeht beim Erfahrungsaustausch wie im Flug. Die anderen 100 Meilenabkürzer sind natürlich schon da und auch der Schnellste ist schon vom Duschen zurück. Der Lokalmatador Giselher Schneider hat 24 Stunden und 42 Minuten gebraucht und kümmert sich jetzt schon wieder um die Organisation. Die anderen 100 Meilen Finisher erreichen nach 29:31 (Herrmann Böhm) bzw, 30:12 Stunden ( Alois Ruhland)das Ziel und den Abschluss macht schließlich um 0.38 Uhr in der Früh Olaf. Bei den 100 Km gewann übrigens wie im Vorjahr Sigi Unterweger, der seine gute Vorjahreszeit nochmals um mehr als 45 Minuten verbesserte. Die Damensiegerin Simone Keller war mit 15:42 Std. eineinhalb Stunden länger unterwegs als Carmen Hildebrand im Vorjahr.

 

Das Frühstück, das der Wirt der Sportgaststätte am nächsten Morgen für uns improvisierte, war hervorragend, wurde aber von der Siegerehrung noch getoppt.

 

Jeder Teilnehmer wurde geehrt und erhielt Urkunde, Ergebnisliste und ein hochwertiges, schönes Funktionsshirt.  Die Sieger wurden wieder auf ihre Kraftausdauer getestet, indem sie gigantische Holzschnitzereien stemmen mussten. Und anschließend wurden wirklich wertvolle Preise (Rucksäcke, Trinksysteme, Getränkegürtel) unter allen Teilnehmern verlost. Das Preis-/Leistungsverhältnis des Laufs ist aber auch ohne diese Präsente(40 € /100 Km bzw.100 Meilen) schon außerordentlich.

 

Fazit:

 

Die Organisation war hervorragend, die Streckenmarkierung sehr stark verbessert. Als Vorbereitung für noch größere Taten wie den Montblanc ist der Lauf natürlich ideal. Aber auch einfach für sich ist er für Liebhaber des ultralangen Geländelaufs ein Muss. Und mit den verschiedenen Streckenlängen auch für viele machbar – es müssen ja nicht gleich 100 Meilen sein.

 


 
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