In meiner Zeit in Kalifornien habe ich von meinen Kumpels den Begriff „catchin‘ a wave“ gelernt. Für diese Surfer bedeutete das Sport, Spaß und die Seele baumeln lassen. „Eine gute Idee“, fand ich, als Klaus mir den Hinweis auf die Gelegenheit gibt, ganz in meiner Nähe auf einer solchen Welle mitzureiten. The Wayve", eine Wortschöpfung aus way und wave, also Weg und Welle, heißt der Anlass, der mir solches bietet. Wellenartig um den Zürichsee soll der Weg führen, insgesamt 111 Kilometer mit eingebauten 1800 Höhenmetern. Das Ganze mit einem Zeitlimit von 16 Stunden garniert.
Peter Wirz hat nicht nur als Werber, sondern auch als Veranstalter von Sportanlässen einen guten Riecher. Trans Swiss Triathlon und Gigathlon sind wohl jedem Schweizer bekannt, der eine der darin enthaltenen Sportarten regelmäßig betreibt. Diese beiden Engagements waren auch der Grund, weshalb der 1990 durchgeführte «100 km Panoramalauf rund um den Zürichsee» für 100 eingeladene Teilnehmer eine einmalige Angelegenheit blieb. Die Erfahrung von damals war nun eine gute Grundlage für die Planung von "The Wayve".
Die Kombination von dicht gefülltem Terminkalender und Nähe des Austragungsortes lassen mich erst am Samstag anreisen. Nachdem die ganze Nacht über eine Welle von Landregen aufs Dach prasselte, macht es beim Fahren den Anschein, dass die Bedingungen sich verbessern. Um 05.30 Uhr bin ich in Zürich im Strandbad Tiefenbrunnen, wo ich ganz in der Nähe in der blauen Zone parke. Dazu habe ich mir tags zuvor online eine Tagesbewilligung erstanden.
Im Festzelt steht ein Bildschirm mit dem Wetterradar, auf welchem zu sehen ist, wie die Regenzellen in Richtung Osten davonziehen. Am späteren Vormittag sollte nochmals eine Regenwelle anrollen, die Wetterfrösche sind aber zuversichtlich, dass am Nachmittag die Sonne Oberhand gewinnen wird. Wie heißt doch der beliebte Schülerspruch? “Welches ist der Unterschied zwischen Regenwolken und Lehrern?“ – „Es gibt keinen. Wenn sie sich verziehen, gibt es doch noch einen schönen Tag!“
Im Vorfeld zugeschickt wurde das Laufshirt, welches von jedem Wayver zu tragen ist, und das Roadbook; ausgehändigt werden mir mit der Startnummer noch der Tracker, Armlinge, zwei Trinkflaschen, eine Auswahl an Gel und anderer Sportlernahrung (wer am Freitag eincheckte, konnte sich selbst zehn Produkte auswählen) und dazu noch Konsumationsgutscheine im Wert von Fr. 20.- . Gegen Hinterlegung einer Depotgebühr kann kostenlos ein Garderobenschloss ausgeliehen werden, womit die Gepäckaufbewahrung auch erledigt ist.
Wie üblich treffe ich „alte“ Bekannte und trotte mit ihnen zum Start bei einer Fußgängerunterführung. Oben steht ein großer Gong. Sechs Schläge (für jede Welle einen?)schicken die rund 300 Samurais los. Ronin wurde ein umherwandernder, herrenlos gewordener Samurai genannt, Wellenmann. Herrenlos bin ich nicht, der Rest trifft auf mich zu. Nicht zum Kriegeradel der Samurai gehören die Ashigaru, was wörtlich leichtfüßig bedeutet, dafür sind sie schnell. Von denen stehen einige dabei, doch auch sie müssen sich vorerst zügeln. Fern jeder weiteren östlichen Tradition gibt es zu Beginn des Rennens eine aus dem Motorrennsport bekannte Safety Car-Phase bis ein paar Straßen überquert sind, die sich dem Ritt ins Grüne noch entgegenstellen. Wen kümmern schon diese paar „verbummelten“ hundert Meter einer Laufstrecke mit einer dreistelligen Kilometerzahl in ein paar Stunden?
Wir sind fast mitten in Zürich und doch schon im Grünen. Die Stadt ist mir nicht unbekannt, trotzdem habe ich das so nicht erwartet. Der Weg entlang des Bachs könnte gut und gerne weit ab jeglicher Siedlung sein. Während wir laufend einen Höhenmeter nach dem anderen addieren, wird die vom Berglauf gut trainierte Verlängerung des Rückens nass und nässer. Da ich sonst auch alles unter Kontrolle habe, vermute ich einen äußeren Einfluss. Es ist umgekehrt, es ist ein innerer Ausfluss. Ein Halt mit kleiner Zerlegung des Rucksacks bringt es an den anbrechenden Tag. Die Trinkblase ist punktiert und das sich darin noch befindliche restliche Wasser sprüht mir munter entgegen. Diese Welle ging in die Hose, die Trinkblase wandert in den nächsten Robidog-Eimer und ich laufe mit dem weiter, was mir an Tranksame bleibt. Wenn die Temperatur nicht zu fest steigt, sollte ich mit der Trinkflasche allein knapp durchkommen. Mal sehen.
Zu sehen gibt es viel Natur. Auf der Forch (Bergläufern in allen möglichen Versionen ein Begriff: Furka Fuorcla, Furrgu…) kommen wir am Wehrmännerdenkmal vorbei, einer ehernen Flamme zur Erinnerung an die im Aktivdienst verstorbenen Zürcher. Weit über 30‘000 Leute wohnten vor 90 Jahren dessen Einweihung bei.
Links unten ist ein See zu sehen. Muss der See nicht immer auf unserer rechten Seite sein? Laufen wir in die falsche Richtung? Nein, es ist der viel kleinere Greifensee. Heute Nachmittag wird er von einer größeren Läuferschar ebenfalls umrundet werden und der Sieger wird sich Schweizer Halbmarathonmeister nennen können.
Überraschend schnell taucht aus dem Nebel der Aussichtsturm auf dem Pfannenstiel auf. Wieso nennen ihn die Leute Bachtelturm, wo er doch nicht auf dem Bachtel, sondern auf dem Pfannenstiel steht? Der genietete Turm aus Grauguss und Stahl wurde gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts auf dem Bachtel erstellt, vor über dreißig Jahren unter Schutz gestellt, dann abgebrochen und eingelagert und vor zwanzig Jahren mit Hilfe von Fachkräften aus Osteuropa, die sich mit diesen Bautechniken noch auskannten, am jetzigen Standort wieder aufgebaut.
Bei besserer Aussicht würde ich eine Besteigung in Betracht ziehen, bei den herrschenden Verhältnissen sehe ich davon ab und spare diese Körner für später. Gleich um die Ecke kommt zwar schon der erste Verpflegungsposten, doch liegen offiziell erst 18 Kilometer hinter mir, gemäß GPS-Uhren sind es sogar zweieinhalb weniger. Die Auswahl an Getränken umfasst verschiedene Sportdrinks, Wasser und Bouillon, dazu werden Gels, Riegel, Bananen, Linzertörtchen und getrocknete Aprikosen gereicht. Ich lasse meine Trinkflasche auffüllen und mache mich bald wieder auf die Strecke. Bis Rapperswil sind es weitere 19 Kilometer, das ist überschaubar.