Wir sind eine kleine Gruppe, die sich auf den Weg macht. Ist es, dass wir uns beim Reden zu fest ablenken? Wir verpassen eine Abzweigung und machen einen Umweg. Groß ist er nicht und bei der gesamten Streckenlänge fällt er nicht ins Gewicht. Auf den 23 Kilometern bis Thalwil gibt es noch zwei ruppige Gegenanstiege und einen hohen Anteil an Asphaltbelag. Links und rechts davon aber grüne Landschaft, Fernsicht ist allerdings Fehlanzeige.
In Schönenberg muss ich einen Zwischenhalt einschalten und auf den Proviant im Rucksack zurückgreifen. Ich darf dies im Eingangsbereich eines Restaurants tun und gleichzeitig den Gästen und der Wirtin am Tisch nebenan Auskunft zu „The Wayve“ geben. Bevor ich gehe, zücke ich erstmals den musikalischen Motivator. Auf dem MP3-Gerät (obstfrei) habe ich keine treibenden Rhythmen. Damit könnten meine Beine nicht mithalten. Ich befinde mich in dem Zustand, in welchem ich an den freiliegenden Emotionen andocken kann, entsprechend ist die Musikwahl. Mit dem Schritt vor die Türe beginne ich zu zittern wie Espenlaub.
So völlig durchnässt ist das Anlaufen nicht gemütlich. Ich bin nur einen Steinwurf von dem Haus entfernt, in welchem die Großeltern meiner Frau lebten und in mir kommen die Bilder hoch, wie wir bei ihnen in der Stube mit Blick auf die verschneite Landschaft neben dem wohlig warmen Kachelofen saßen und zum Fruchtkuchen aus dem Holzofen dampfenden Kaffee tranken. Wenn die Vergangenheit Gegenwart wäre, würde das Livetracking bei mir ein Abkommen von der Route festhalten, verbunden mit dem längeren Verbleiben am gleichen Ort. Solchen Träumereien darf man sich bekanntlich nicht hingeben – so lernt man es im Überlebenstraining. Ich würde mich auch gerne mit der Musik ablenken, doch ausgerechnet jetzt führt ein Kabelbruch beim Ohrhörer zum einseitigen Musikausfall. Ein Album lang habe ich wenigstens noch die Hälfte des Klangs, dann ist auch dieser Ofen aus.
Nach Hirzel lege ich nochmals einen kleinen Umweg ein, den ich ganz auf meine Kappe nehmen muss. Etwas weiter kommt mir der Weg sehr bekannt vor, obwohl es schon Jahre her ist, dass ich auf einem Trainingslauf hier vorbeikam. Damals lag Schnee, was heute auf dem Weg ist, muss ich nicht weiter erläutern. Die Ried- und Moorgebiete haben heute Ausgang. „Moorschwand“ steht zwar auf der Tafel der Bushaltestelle; aber das Moor schwand heute nicht, es wurde mehr (oder gar Meer?).
Ich freue mich auf den letzten Verpflegungsposten in Thalwil. Da ist es schon sehr ruhig. Die Welle der Sixpacks scheint durch zu sein und die verbliebenen Singles sind ziemlich verstreut unterwegs. Das restliche Iso in der Trinkflasche schütte ich in die Büsche und hoffe, dass sie keinen Schaden davontragen. Ich kann das Wort Iso nicht mehr hören, geschweige denn das Getränk selber schmecken. Ich lasse mir Wasser auffüllen, trinke Bouillon, schnappe mir Linzertörtchen und Trockenfrüchte und mach mich auf die letzte Etappe. Seit mehr als zwölf Stunden bin ich unterwegs, vierzehn habe ich angepeilt, das sollte aufgehen.
Das Sihlhaus ist nicht nur ein altes, schön beleuchtetes Riegelhaus, sondern auch ein Restaurant, aus welchem es deftig nach Knoblauch riecht. Das grenzt schon fast an Folter. Stände an dieser Stelle ein Hamburgerbrater, dann könnte und würde ich mich beim Drive Thru zwischen die Autos stellen und eine Portion Pommes bestellen. Keine Chance, hier draußen in der Nähe des Sihlwaldes, einem Urwald. Es geht hinunter ins Sihltal und dann alles der Sihl entlang bis Brunau. Die zwölf Kilometer des Finales kommen mir endlos vor (Im Ziel flüstert mir jemand zu, dass er 16 Kilometer gemessen habe). Ich wusste gar nicht, dass die Sihl so fest mäandriert. Endlich kommt mir die Umgebung bekannt, fast schon vertraut vor. Jetzt nur noch über den Hügel, hinunter zum Strandbad Mythenquai. Zweihundert Meter neben der Strecke könnte ich bei den Schwiegereltern etwas Warmes trinken und sicher ein Salzgebäck einstecken, doch so kurz vor dem Ziel habe ich nur noch eines im Kopf: Das Ding bring ich über die Runden. Wenn schon der Regen nicht bis zum Schluss durchhält, dann wenigstens ich.
Jetzt muss ich nur noch ums Seebecken herum und dann habe ich meinen bisher längsten Ultra im Trockenen (ein Kilometer mehr als der zweitlängste). Von den Nachtschwärmern auf ihrer Aufwärmrunde für den samstäglichen Ausgang unbemerkt, schlurfe ich über die Promenade und staune, dass der Seepegel nicht höher liegt. Ich habe das Gefühl, mindestens die Hälfte des Seeinhalts sei im Verlauf des Tages über mich gegossen worden. Freundlich und mit anerkennenden Worten werde ich im Ziel empfangen und bekomme als Single die Medaille in Form eines „W“ mit schwarzem Band umgehängt, gewissermaßen der schwarze Gurt im Ultralauf.
Im Interview kann ich nochmals meinem positiven Erstaunen Ausdruck geben, wie hoch der Anteil an anspruchsvollen Trails war. Danach zieht es mich ganz schnell zu den heißen Duschen. Leider hat die Abteilung „Pommes gut gesalzen“ bereits dicht gemacht, doch das angebotene „The Wayve“-Menu in der vegetarischen Variante ist auch ganz lecker und bietet den Boden für den nächsten Reportereinsatz. Zu dem muss ich aber schon sehr bald aufbrechen.
Zu den mir zu Ohren gekommenen Kritikpunkten möchte ich nur noch anfügen, dass ich den Eindruck habe, dass bereits während des Laufs erkannt wurde, dass die Markierungen ein nächstes Mal teilweise verbessert werden muss. Dass sich das Startgeld auf ortsüblichem Goldküsten-Niveau bewegt, ist eine Tatsache. Wenn ich aber die darin enthaltenen, oben erwähnten Leistungen berücksichtige, bewegt sich „The Wayve“ in der in der Schweiz bekannten Bandbreite. Und immerhin hat die Frankenstärke inzwischen etwas nachgegeben.