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Laufberichte

K68 - die Legende lebt

 

K78 – viele Attribute lassen sich mit diesem Kürzel verbinden: Das härteste Dayrace – Mutter aller Ultrabergläufe  – Legende – für mich vor allem: ein großer Läufertraum. 2006 habe ich ihn mir erfüllt, damals, als der 1986 geborene Swissalpine K78 noch das Maß aller Dinge im aufkommenden Berglaufboom war. Die ultimative Herausforderung. Mein Finishershirt von damals ist für mich auch heute noch etwas ganz Besonderes.

Viel hat sich seitdem getan. Die Pole Position hat der Swissalpine in der aufkommenden  Bergmarathonwelle nicht verteidigen können: Länger, extremer und auch erfolgreicher sind manche andere Veranstaltungen. Viel hat man beim Swissalpine experimentiert, sogar den K78 2017 „geopfert“.  Auch ich habe so manches Experiment, vor allem aus der Swiss Irontrail-Serie, mitgemacht. Ich war jedes Mal begeistert, aber der große Durchbruch wollte nicht kommen.

„Back to the roots“ - und doch anders, vor allem besser. Das ist das Credo, mit dem man die Premiere des K68 als Reminiszenz an den K78 in diesem Jahr 2020 feiern wollte. Aber dann kam Sars CoV-2. Jener fiese kleine Virus, der auch die Läuferwelt aus den Angeln hob. Eine Laufveranstaltung nach der anderen musste seit Jahresbeginn die Segel streichen oder suchte ihr Heil in der Virtualität, selbst die Läufe, in deren Natur es liegt, dass man weitestgehend alleine unterwegs ist. Irgendwann beschlich auch mich das Gefühl, dass diese Laufsaison wohl komplett ins Wasser fällt.

Fast wie ein Paukenschlag wirkte da die Nachricht: Der SwissAlpine findet statt. Nicht ganz so, wie geplant, aber immerhin … Was für ein Lichtblick. Ein Lichtblick, an dem auch ich teilhaben wollte. Und nicht nur ich, sondern auch 580 andere bei der Premiere des K 68 und weitere über 1.200 bei einer der anderen heuer angebotenen Distanzen, dem K43, K23 und K10.

 

Der neue K68

 

Zurück zum K68: Schaut man sich das Kursprofil des K68 an, so findet man einiges von dem wieder, was den K78 so geprägt hat, allem voran gleich im Doppelpack den Scaletta- und den Sertigpass sowie den Panoramatrail obendrauf.  Dazu das Dischmatal als Einstieg und das Sertigtal zwischendurch und wieder zum Schluss. Zwar ist der K68 10 Kilometer kürzer, insgesamt aber deutlich alpiner geprägt: Im Durchschnitt läuft man über der 2.000-Meter-Höhenmarke und damit 300 Meter höher als beim K78, über die Hälfte davon auf Singletrails, während es beim K78 gerade ein Fünftel war. Mit 2.600 positiven Höhenmetern liegen K68 und K78 nahezu gleichauf. Beiden gemeinsam ist auch, dass in Summe mehr „richtig“ gelaufen werden kann als bei anderen Ultrabergläufen, wobei der Asphaltanteil - beim K78 immerhin noch 29 Prozent - auf gerade einmal 7 Prozent beim K68 geschrumpft ist.

 

 

Wie eh und je ist Davos Dreh- und Angelpunkt des Swissalpine. Inmitten der Bündner Berge auf 1.560 m üNN gelegen darf sich Davos als höchstgelegene Stadt Europas rühmen. Einen internationalen Ruf hat Davos als Treffpunkt von Wirtschaft und Politik, dabei wirkt der sich wie ein Schlauch durch das Landwassertal ziehende Ort eigentlich recht beschaulich. Wohin man auch blickt: Der Natur ist man stets nahe.

Dass in diesem Jahr vieles anders ist, merke ich schon vor dem Start, denn nicht das Kongresszentrum ist erster Anlaufpunkt vor dem Lauf, sondern die große Eissporthalle mit ihrer beeindruckenden hölzernen Kuppel direkt neben dem Start- und Zielgelände im Herzen von Davos-Platz. Diese ist renovierungsbedingt zwar noch bis 2021 gesperrt und Großbaustelle, aber ihre Katakomben sind nutzbar. Und hier, in einem kurzen spartanischen Einbahnparcours, bekomme ich am Freitag Startnummer und Startbeutel mit nettem Spezialitätenbrett´l. Ein weiterer gelungener Einfall: Mittels gescanntem QR-Code bekommt jeder Starter ein nettes Erinnerungsbild – politisch korrekt mit Maske und digital hinterlegter wilder Berglandschaft.

 
Start in Zeiten wie diesen

 

Gleich neben der Halle, dort, wo im Winter mit 18.000 qm Europas größte Natureisbahn und jetzt akkurat getrimmter Kunstrasen den Betonboden überdeckt, treffen schon früh am Samstagmorgen die Starter des K68 ein. Doch von Trubel und buntem Gewusel, wie ich es von früher kenne, ist heuer wenig zu bemerken. Die Beschränkung auf das Wesentliche bestimmt das Geschehen. Auf vieles, was sonst zum Standard gehört, müssen wir verzichten: Keine Schirme und Stehtische, keine Verpflegungsstelle am Start, kein schneller Morgen-Cappu im „Timeout“. Und auch keine Alphornbläser und Fahnenschwinger, die zum traditionellen Pre-Start-Repertoire gehören. Immerhin grüßt der obligatorische aufgeblasene Riesensteinbock als kantonales Wahrzeichen.

 

 

Im Ablauf gibt es klare Ansagen, wer sich wann und wo aufzuhalten hat. So gibt es zwei zeitversetzt startende Blöcke, die sich gleichfalls zeitversetzt nur in bestimmten Zonen aufhalten dürfen. Mit dem Block 2 darf ich ab 7:45 erst dann in die sogenannte Vorzone zur Gepäckabgabe, als die Starter des Blocks 1 diesen verlassen und in der Startzone regelkonform, das heißt Maske tragend und Mindestabstand einhaltend, Aufstellung genommen haben. Ein wenig seltsam mutet das schon an, aber das sind eben die Bedingungen, damit so etwas überhaupt stattfinden kann. Sehr anschaulich berichtete der scheidende OK-Chef Andrea Tuffli in der gestrigen Pressekonferenz von den schwierigen, aber letztlich erfolgreichen Verhandlungen mit den Kantonsbehörden.

Ein erster Pistolenschuss bringt um 8 Uhr Erlösung für den Block 1 und der Pulk trabt, vom Zuschauerspalier ab dem Stadionausgang begleitet, von dannen. Erst jetzt heißt es „Bahn frei“ für den Block 2. Auf dem weiten „Wiesengrund“ zerstreut sich die Menge. Nichtsdestotrotz: Der Stimmung tut das keinerlei Abbruch. Selfies werden geschossen, es wird geplauscht und gelacht. Und noch nie habe ich eine so lockere Startaufstellung wie hier erlebt.

Dann endlich, zu den Klängen der Vangelis-Hymne „Conquest of Paradise“ ertönt der nächste Schuss aus der Startpistole und bringt auch mich um 8:30 Uhr auf Trab. Im Startkanal durch das Stadion verdichtet sich naturgemäß der Läuferstrom. Erleichtert darf ich mir kurz vor dem Stadionausgang meine Schutzmaske vom Gesicht ziehen und in eine der bereit gestellten Tonnen werfen. Deutlich entspannter geht es weiter hinaus auf die Talstraße und in einer Schleife über die Landwasser hinweg, zunächst noch auf Asphalt, direkt unserem ersten Ziel entgegen: dem Dischmatal. 13 Stunden bzw. bis 21:30 Uhr habe ich nun Zeit, den Weg zurück nach Davos zu finden. Aber ungewiss ist für mich, ob mir das heute gelingen wird.  

 

Warm up durch das Dischmatal

 

Das sanfte, breite Dischmatal ist das mittlere der drei von der Davoser Hochebene gen Süden Richtung Engadin führenden Täler. Bis zur finalen Passhöhe bestimmt es für letztlich 18 km lang  unseren Streckenkurs.

Der Einstieg wird uns leicht gemacht. Auf einem breiten, bequemen Naturweg geht es in entspanntem Trab in leichtem Auf und Ab, freilich mit deutlich höheren „Auf“-Anteilen, durch eine alpine Bilderbuchkulisse. Mitten durch die saftig grünen Wiesen schlängelt sich der Weg im Talgrund. Darin eingestreut sind kleine Weiler und einsame Gehöfte, alles in altem Holz erbaut. Dichter Nadelwald rahmt das Tal links und rechts die Abhänge hinauf. Und an der tiefsten Stelle rauscht der namengebende Bergbach.

 

 

Am noch fernen Horizont rückt wie eine unzugängliche Bastion ein Riegel schneebedeckter 3000er ins Blickfeld. Im Zeitlupentempo nähern wir uns an. Und ich weiß: Dort müssen wir hin. Und dort müssen wir rauf. Aber im Hier und Jetzt ist das noch kein Thema.

Nach 8 km, am Posten Teufi, ist eine erste Wasserausgabestelle eingerichtet. Eingedenk des Umstandes, dass auch das Angebot der Verpflegungsposten in diesem Jahr in Zahl und Ausstattung eingeschränkt ist, nehme ich den ersten Becher Wasser gleich mit.

Mehr und mehr Felsbrocken und krüppeliges Nadelgehölz prägen das Landschaftsbild. Ganz allmählich haben wir an Höhe gewonnen. Auch der Weg ist schmaler und ausgesetzter – und profilierter. Aber wunderbarer denn je ist die Kulisse und der Lauf mitten hindurch. Verstärkt wird der Eindruck durch den stetigen Wechsel von dicken Wolken und Sonne am Himmel.

Weiter und höher geht es ins Dischmatal hinein, Kilometer um Kilometer Trailrunning der entspannten Art. Die Berge vor uns bekommen immer mehr Kontur und Dominanz, das Talende rückt näher. Mit dem Weiler Dürrboden bei km 14 erreichen wir sozusagen den letzten Außenposten der Zivilisation im Dischmatal. Hier endet der fahrbare Talweg an einem Parkplatz und es geht nur noch zu Fuß weiter. Der Weiler hat auch historische Bedeutung. Er liegt an der mittelalterlichen Säumerroute, der Via Valtellina, auf der einst Wein und anderes Handelsgut aus dem Veltlin über den Scalettapass in den Norden transportiert wurde. Für die Läufer heißt es, am hiesigen Verpflegungsposten noch einmal Kraft zu tanken, denn jetzt geht es zur Sache. Im letzten Jahr durfte ich hier, bei Wind und Regen, heiße Bouillon genießen. Heuer sieht das Schmalspurprogramm dies nicht vor. Aber energetisch sind Bananen ohnehin die bessere Wahl.  

 

Aufstieg zum Scalettapass

 

600 Höhenmeter sind auf den kommenden vier Kilometern zu überwinden. Aber zunächst meint es der sich durch das satte Grün schlängelnde und in den Weiten des Horizonts verlierende Pfad noch gut mit uns. Aber die Steigung nimmt sukzessive zu, der Untergrund wie auch die Umgebung werden felsiger und karger.

In langgezogenen Serpentinen zieht sich der Weg schließlich immer weiter und unerbittlich in die Höhe. Das Klackern der Laufstöcke ist meist das einzige Geräusch, das durch die Stille der einsamen Berglandschaft dringt. Aber noch sind die meisten Läufer frisch und motiviert und so geht es zumeist flotten Marschierschrittes voran. Das am Horizont in der Gipfelregion zunächst so düstere Wolkengebälk lichtet sich und gibt den Blick frei auf die Berge um und über uns. Nur die Sonne tut sich noch schwer durchzudringen.

 

 

Als ich über mir ein paar einsame Gestalten an der Grenze zwischen Himmel und Fels verharren sehe, weiß ich: die Passhöhe ist nicht mehr fern. Es ist ein erhabenes Gefühl, nach 18 km auf einmal den kalten Hauch des Windes zu spüren, wie er über die Kante des 2.606 m hohen Scalettapass bläst, und den Blick auf das zu richten, was hinter mir liegt, mehr noch aber auf das, was sich jenseits des Passes vor meinen Augen auftut. Und das ist nochmals um einiges eindrucksvoller.

Anders als im Vorjahr ist auf der Passhöhe kein Versorgungsposten eingerichtet. Schade, denn mental wäre dies gerade hier von Vorteil. Nichtsdestotrotz freue ich mich besonders auf die nächsten Kilometer, auf denen uns eines der Highlights des Kurses bevorsteht, der legendäre

 

Balancelauf entlang des Panoramatrails

 

Jenseits des Passes führt der Weg als ausgesetzter Single Trail durch die steile Bergflanke des sich anschließenden Tales weiter. Kleinere Schneefelder und sprudelnde Bäche fordern die Konzentration, denn steil und jäh geht es in die Tiefe. Auch im Übrigen ist der Pfad herausfordernd, ist er doch durch den Regen in ein Morast und Pfützenband verwandelt. Aber flott, zumal auch tendenziell bergab, geht es dahin.

 

 

Aus dem Seitental zweigen wir nach rechts ab ins Haupttal, das Val Funtauna. Hoch über dem Talgrund setzen wir unseren Weg auf dem Panoramatrail fort. Überholen ist kaum möglich, sodass sich immer wieder kleine Kolonnen bilden und vor manchen Hindernissen, etwa ausgesetzten Felsstellen oder rauschenden Bergbächen, gar stauen. Es hier eilig zu haben, wäre aber ohnehin ein Fehler, denn überragend ist die Bergkulisse. In einem ungemein intensiven Grün leuchten die sich aus dem Tal weit in die Höhe ziehenden Grasmatten. Darüber ragen in düsterem Grau und lichtem Weiß unnahbar die Berggipfel, allen voran am Horizont der  monolithisch herausragende Piz Kesch, mit 3.418 m die höchste Erhebung der Albulaalpen.

Inmitten der Bergeinsamkeit, an einer der äußerst raren ebenen Stellen im Hang, ist nach 21 km der Versorgungspunkt Tagliöl aufgebaut. Und hier gibt es sie endlich: Eine heiße Bouillon, noch dazu mit Panoramablick. Ein wunderbarer Ort zum Innehalten und um die wärmende, kräftige Flüssigkeit zu genießen.

Ein schlichtes rotes Schild mit der Beschriftung „km 45“ inmitten der Landschaft signalisiert mir zweierlei: Zum einen, dass wir noch ebenso viele Kilometer bis ins Ziel zurück zu legen und – rückgerechnet - 23 km hinter uns haben.  Zum anderen, dass für uns nun der Panoramatrail und damit auch das lockere Dahintraben endet.

 

Hinauf zum Sertigpass

 

Nach rechts weist der Pfeil auf einem Wegweiser in Richtung Sertigpass und das bedeutet für uns die nächste Bewährungsprobe. Ungefähr 300 Höhenmeter trennen uns vom Pass und die haben es in sich. Mehr als zuvor merke die Höhenluft bei der Belastung.

 

 

Gleich das erste Wegstück ist besonders steil, dann flacht der Anstieg zwar ab, aber die fern am Horizont sichtbar werdende Passhöhe macht mir zunächst wenig Mut. So weit weg erscheint sie. Durch eine weite, einsame, gleichermaßen felsig-karge wie grün gefleckte Hochgebirgslandschaft windet sich der Pfad weiter und weiter hinauf. Immer wieder halte ich inne, um zu verschnaufen. Vor allem der rückwärtige Blick wird zunehmend beeindruckender. Über die weite abgeschrägte Hochfläche sehe ich bis weit in die Ferne die Punkte der Läufer, die sich empor schleppen und dahinter mächtig aufragend den Piz Kesch. Ein Highlight ist zudem der Ausblick auf zwei kleine weltentrückte Bergseen unweit der Passhöhe.

Ein Hubschrauber zieht laut knatternd seine Kreise. Ich denke, die winzigen bunten Läufergestalten in der weiten Bergwelt geben von da oben ein nettes Bild ab. Wobei das auch aus meiner Perspektive einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Allmählich weicht dem Fels auch das letzte Grün. Durch blankes Geröll windet sich der Pfad schließlich unerbittlich dem höchsten Streckenpunkt entgegen. Ein Steinhaufen markiert diese Stelle auf 2.739 m üNN und zaubert bei fast jedem, der ihn erreicht, ein Lächeln ins Gesicht. Ohne ein Gipfelselfie zieht fast niemand von dannen.

 

Durchs Sertigtal

 

Das zweite große Tal wartet auf uns, nur dieses Mal unter umgekehrten Vorzeichen: Denn es geht downhill. Beeindruckend ist der Blick von der Passkante hinab in das hier oben so wilde, felsige Sertigtal. In steilen Serpentinen windet sich der Pfad durch die Mondlandschaft. Mit schnellen kleinen Trippelschritten versuche ich dem losen Geröll Herr zu werden. Rasant geht es in die Tiefe und ich muss mich fragen, ob mir meine Oberschenkel das im Flacheren nicht heimzahlen werden.

Allmählich wandelt sich das Bild. Im Chüealptal kehrt Farbe in die Bergkulisse zurück. Und das mit Macht. Schon bald darf ich erneut jenes satte Wiesengrün erleben, wie es mir schon im Val Funtuana begegnet ist. Auf Höhe des Grünsees erreichen wir den Talgrund und wechseln vom Pfad auf einen breiteren Naturweg, der nur leicht abfallend weiter durch das Tal führt.

 

 

Sozusagen eine vollautomatische Wasserstelle erwartet uns nach 29 km auf der Chüealp. Der munter sprudelnde Brunnen ist in unserem Verpflegungsplan extra vermerkt. Auch die nächsten Kilometer durch das mittlerweile sonnendurchflutete Tal können wir es laufen lassen. Die Sonnenwärme im windstillen Tal fordert allerdings nun reichlich Schweiß als Tribut. Die ersten, im sich weitenden Tal versprengten Gehöfte und Weiler werden sichtbar. Wenn man hier weiterlaufen würde – wie es die Starter des K43 tun – wäre demnächst das 1.861 m hoch gelegene Sertig Dörfli erreicht und würde der Weg direkt weiter nach Davos führen.

Nicht für die Absolventen des K68: Für sie und auch für die Veranstalter selbst beginnt hier Neuland. Nach links zweigt der Kurs in ein Seitental ab und erreicht unweit eines Wasserfalls und dahinter steil aufragender Felswände bei km 31 den nächsten größeren Verpflegungsposten. Den sollte man zum Kräftetanken nutzen. Denn die nächsten etwa 700 Höhenmeter bis zur Passhöhe Fanzezfurgga stehen bevor. Und die haben es in sich. Was ich in diesem Moment aber noch nicht ahne.

 

Durch das Ducantal zum Fanezfurgga

 

Steil geht es sofort los, auf einem weichen Pfad durch luftigen Lärchenwald. Schnell gewinnen wir an Höhe, was schließlich mit einem weiten Blick hinab ins tief unter uns liegende Sertigtal belohnt wird. Näher rücken wir den schroffen, fast senkrecht abfallenden Felswänden und blicken nach Überschreiten einer Stufe hinab in ein tiefes, enges Tal. Wir stehen am Eingang des Ducantales. Überaus imposant und in wilder Schroffheit unnahbar zieht sich jenseits des Talgrundes der graue Riegel der Ducanen entlang, deren Gipfel bis in eine Höhe von 3.063 m reichen. Ein kurzer Abstieg führt uns hinab, hin zum wild rauschenden Ducanbach, den wir eingangs über eine kleine Brücke queren, um den Weg auf der anderen Seite über einen im steilen Hang schnell an Höhe gewinnenden Pfad fortzusetzen.

 

 

Wie ein kleiner Gletscher wirkt das sich im sonnengeschützten Talgrund hinziehende Schneeband, aus dessen unterem Ende geräuschvoll der Ducanbach tritt. Mehr denn je erlebe ich hier Hochgebirgsfeeling. Ein Stück weit setzt sich der ausgesetzte Pfad noch fort, bis wir unvermittelt in ein weites grünes Hochtal treten, durch den sich der Weg nurmehr leicht ansteigend fortsetzt. Ebenso unvermittelt ändert sich die Geräuschkulisse: Es ist auf einmal ungemein still.

Zur Linken stellen die Ducanen ein unüberwindliches Hindernis dar. Aber auch die übrigen Seiten des Tales scheinen von unzugänglichen Berghängen umschlossen zu sein. Ich frage mich, wo denn hier der Passübergang sein soll. Keine Erhellung bekomme ich bei dieser Frage, während ich immer weiter langsam durch die Weite der Landschaft trabe. Auffallend grün ist der Talboden, häufig blumenbedeckt und  wunderschön anzuschauen, gerade im krassen Gegensatz zum menschenfeindlichen Grau der in weiten Geröllhalden auslaufenden Flanken der Ducanen auf der anderen Talseite, bei deren Anblick ich unvermittelt an die Felsungetüme der Dolomiten denken muss. Besonders gefallen mir die vielfach singulär hochwachsenden gelben Pflanzen, die mich an Königskerzen erinnern. Doch leider sind meine botanischen Kenntnisse zu dürftig, um diese Gewächse korrekt einzuordnen.

 

 

Zunehmend gewinnen wir entlang der Hangflanke an Höhe. Ich tue mir schwerer als meine Mitläufer und muss nach Luft japsend immer wieder innehalten. Immerhin bietet das eine willkommene Gelegenheit, Foto über Foto von der traumhaften Kulisse zu schießen – und Ihr (Leser) müsst das jetzt ausbaden. Immer wieder denke ich beim Blick nach oben: Ja, das schaut mir nach einem Übergang aus. Und jedes Mal werde ich enttäuscht, geht es immer noch weiter und höher hinaus. Für mich ist dies, auch im Nachhinein, das härteste Teilstück des alten wie neuen Streckenkurses. Und wie so oft liegen Himmel und Hölle nahe beieinander. Bei aller Mühsal sind die Ausblicke, die ich hier genießen darf, für mich die schönsten und imposantesten des gesamten Kurses.

Immer weiter mäandert der Pfad durch das felsdurchsetzte Grün des Südhangs in die Höhe. Irgendwann ist es dann doch so weit. Ein paar verharrende Menschlein hoch oben im Hang sind ein untrügliches Zeichen, dass dort etwas ist, wofür es sich lohnt, stehen zu bleiben. Eine Welle der Erleichterung erfasst mich, als auch ich endlich den 2.580 m hohen Fanezfurgga und damit den dritten hohen Pass unseres Kurses überschreite. Ich bleibe etwas länger als die anderen, setze mich hin, gönne mir etwas Ruhe. Und auch im Nachhinein muss ich sagen: Es lohnt sich sehr, diesen Punkt nicht einfach nur zu überschreiten, sondern gerade dem Blick zurück ins Ducantal mehr Zeit und Raum zu geben.

 

Abstieg nach Monstein


 
So ganz anders ist der Ausblick, der sich auf der anderen Passseite offenbart. Viel weicher, grüner, vielleicht auch freundlicher – aber längst nicht so spektakulär.

 

 

Zunächst noch ein kurzes Stück durch Geröll, aber dann schnell und zunehmend durch die saftig grünen Almwiesen der Fanezmeder führt der Weg talwärts. Richtig laufen kann man hier wieder, ohne große Mühen, wenn auch natürlich  - wie immer – mit der nötigen Aufmerksamkeit.  Stolperfallen lauern überall. Aus der Weite der Almen geht es weiter hinab in ein schattig-waldiges, von einem rauschenden Bach durchflossenes Tal, bis zur malerischen Ansiedlung Oberalp auf 1.913 m üNN. Inmitten der  dunklen Holzhäuschen lädt verführerisch die bewirtschaftete Berghütte OberalpTraum zum Verweilen ein. Das Verweilen muss ich leider aufschieben, aber am Brunnen direkt vor der Hütte kann ich  erfrischendes kühles Wasser in meine Flaschen nachfüllen.

Und weiter geht es steil hinab, erst über einen Fahrweg, dann auf einem Pfad. Die Höhenmeter purzeln nur so. Unser Downhill Run endet erst, als wir nach 41 km eine der hübschesten und authentischsten Siedlungen der Region erreichen: Monstein.  

 

Von Monstein zurück ins Sertig

 

Das auf 1.626 m üNN hoch über dem Landwassertal gelegene Walserdorf Monstein kann auf eine lange Vergangenheit zurück blicken. Die inmitten wettergegerbter Holzhäuser thronende alte Dorfkirche mit ihrem regionaltypisch spitzhaubigen Kirchturm datiert immerhin aus dem Jahr 1668. Direkt davor endet der Weg hinab an einem Verpflegungsposten. Warm, ja richtiggehend heiß ist es hier „unten“ in der Nachmittagssonne. Hinter den Helfern aufgetürmte leere Bierträger erinnern daran, dass in Monstein sogar ein eigenes Bier gebraut wird. Mehr zum Spaß merke ich an, dass ein kühles Bier jetzt das eigentlich Wahre wäre. Worauf mir entgegnet wird, dass ich mir gerne einen Becher Bier zapfen könne. Wie? Was? Wo? Ich kann es kaum glauben: Hinter mir am Dorfplatz erhebt sich eine Säule in Gestalt eines Baumstammes mit einem künstlichen Hirschgeweih an der Seite – und das entpuppt sich als Zapfhahn, einfach so öffentlich zugänglich. Auch wenn ich mehr Schaum als Gerstensaft im Becher habe, das kühle Gold schmeckt einfach nur köstlich. Ich bleibe nicht der einzige bei der Verkostung und die Stimmung steigt rapide.

Das ist auch gut so, denn gleich danach habe ich laufkursmäßig wenig zu lachen. So richtig genau habe ich mir den Streckenplan anscheinend nicht angeschaut. Denn dass es von Monstein aus sogleich wieder 350 Höhenmeter ohne Unterlass nach oben geht, hatte ich nicht auf dem Schirm.

 

 

Vorbei an der exponiert am Ortsrand gelegenen neuen Dorfkirche stapfe ich zunächst noch wohlgemut den eigentlich bequemen und breiten, nur eben leider auch arg steilen Forstweg nach oben und tauche ein in dichten Wald. Doch der Weg und die Steigung wollen kein Ende nehmen und so sinkt analog zu Kraft und Motivation auch mein Tempo. Verschnaufpausen sind angesagt und als ich die Hauderalp auf 1.987 m üNN erreiche, sinke ich erschöpft auf eine Holzbank und bleibe erst einmal sitzen. War ich in Monstein noch optimistisch, es innerhalb der Sollzeit nach Davos zurück zu schaffen, wird mir jetzt klar, dass ich dazu heute wohl nicht mehr in der Lage bin.

Der Kurs setzt sich in einem Höhenpfad in leichtem Auf und Ab über Wurzeln und Fels entlang des Berghangs fort. Weite Ausblicke hinab ins Tal und auf die gegenüber liegenden Bergketten wechseln mit blickdichter Natur. Eigentlich ein herrlicher Weg zum entspannten Trailrunning, wenn man eben noch entspannt ist. Im Licht des Spätnachmittags leuchten die Farben und schimmert die Landschaft im Gegenlicht. Ich genieße das, verharre aber im Marschierschritt und lasse einen nach dem anderen der wenigen noch hinter mir liegenden Läufer vorbei. Kilometer um Kilometer fließt so dahin. Der Weg folgt unmittelbar dem Verlauf der Biegungen der Berge und so bieten sich mit dem Wechsel der Himmelsrichtungen immer wieder neue Aussichten.

Zurück in der „Zivilisation“, das zumindest verheißt die wie ein Fremdkörper einsam im offenen Hang stehende Bergstation der Rinerhornbahn. Aber kein Mensch ist zu sehen, auch als ich kurz darauf nach 49 km das in traumhafter Panoramalage auf 2.053 m gelegene Bergrestaurant Jatzmeder erreiche. Menschen erblicke ich erst kurz dahinter, an der hier postierten Verpflegungsstelle.

Im offenen Gelände muss ich im Folgenden kaum merklich noch ein paar Höhenmeter zulegen, ehe ich mit Äbirügg auf 2.106 m üNN den als solchen kaum erkennbaren vierten und letzten „Pass“ des heutigen Tages erreiche. Bekannt ist der ansonsten unauffällige Platz eher als Aussichtspunkt mit Feuerstelle und Startpunkt eines Mountain Biking Trails. Der zuvor breite Naturweg mutiert ab hier erneut zu einem Höhenpfad, der über Kilometer meist leicht bergab durch das Gelände führt. Eigentlich ideal zum Laufen, vorausgesetzt Körper und Geist spielen mit.  

Kaum merklich folgt der Höhenweg dem Abzweig des Landwasser- in das Sertigtal. Für einen Moment sehe ich in der Ferne die Häuser von Davos aus dem Talgrund ragen. Dann geht es über Kilometer einwärts ins Sertigtal hinein. Ganz allmählich gleicht sich das Höhenniveau des ansteigenden Tales dem absinkenden Verlauf des Weges an. Während die Wälder auf der gegenüber liegenden Talseite im abendlichen Licht erstrahlen, wird es auf meiner Seite des Tales kühl und schattig. Der Abend ist bereits fortgeschritten, als ich im grünen Talkessel den Weiler Sertig Dörfli und dahinter eine weitere Häuseransammlung ausmachen kann. Dort muss ich hin und bin schon gespannt, was mich erwartet.

Am sogenannten Walserhuus in Sertig Sand ist nach 56 km der letzte größere  Verpflegungsstopp und die letzte Zwischenzeitmessung vorgesehen. Quasi durch die Hintertür  führt der Pfad in den Weiler hinein. Schon aus der Entfernung sehe ich, die Verpflegungspavillons sind geschlossen.  Die Zwischenzeit wird hier nicht mehr genommen, aber ich werde von einer freundlichen Schar von Leuten gleich in Empfang genommen und offiziell über das informiert, was mir ohnehin klar ist: Für mich geht es hier nicht mehr weiter, die Cut Off-Zeit ist überschritten. Ich bin mehr erleichtert als betrübt darüber.

Es ist 20:15, als ich mich zu dem Häuflein anderer Gestrandeter geselle und auf den Postbus warte. Entspannt im Bus sitzend sehe ich auf dem Fahrweg nach Davos vereinzelt noch Gestalten durch die Dämmerung laufen. Ich beneide sie nicht. Die letzten 12 km nach Davos verlaufen teilweise entlang der Straße oder zumindest in deren Nähe. Ich kenne dieses Wegstück noch aus dem letzten Jahr und weiß, dass ich hier nicht allzu viel verpasse. Auch wenn Davos nochmals 300 Meter tiefer als Sertig Dörfli liegt, darf man nicht denken, der letzte Abschnitt sei easy going. Meist durch den Wald geht es immer wieder hinauf und steil hinunter, eine wahre Freude für naturverbundene Trairunner, aber eine Tortur für ausgepowerte K68-Läufer.

Am Bahnhof Davos Platz ist Schluss mit der Busreise und ich darf den Fußweg zum Eisstadion antreten, um mein Gepäck zu holen.

 

 

 

Einsames Finish in Davos  

 

Mystisch lila leuchtet einsam der Zielbogen im weiten Oval des Eisstadions. Es ist nach 21 Uhr und schon ziemlich finster, als ich eintreffe. Vereinzelt tröpfeln die Finisher ins Ziel, angefeuert von einigen nimmermüden Passanten in den Straßen von Davos und über Lautsprecher begrüßt vom Zielmoderator. Erschöpft schauen sie aus, aber auch glücklich. Ein wenig sentimental macht es mich dann schon, es nicht bis ins Ziel geschafft zu haben. Auch wenn ich alles, was es auf dem neuen Kurs des K68 zu sehen zu erleben gab, mitnehmen durfte. Aber überaus froh macht es mich, bei dieser Premiere überhaupt dabei gewesen zu sein.

Es war ein ganz besonderer Lauf. Nicht nur wegen der Bedingungen, unter denen er stattfand. So mancher K78-Purist und -Traditionalist mag da noch lamentieren. Aber ich denke, mit dem K68 hat der K78 endlich einen würdigen und ich sage ganz offen: attraktiveren, spannenderen, aufregenderen Nachfolger gefunden. In der Pressekonferenz hatte Andrea Tuffli seine Hoffnung und Erwartung zum Ausdruck gebracht, mit dem neuen K68 an den Erfolg früherer Zeiten anzuknüpfen zu können und den schnellsten und erfolgreichsten Berg-Ultralauf der Welt zu lancieren. Nach dem, was ich erlebt habe, halte ich das nicht nur für einen frommen Wunsch. 

 

Siegerinnen und Sieger

 

K68 Männer
 

1. Montani Riccardi   6:12.28,2
2. Sprenger Raphael  6:12.44,6
3. Wenk Stephan  6:20.50,4

 

K 68 Frauen

 

1. Vasinova, Marcela  6:59.12,1
2. Götz Kathrin  7:20.29,0
3. Buehler Luzia  7:29.49,6

 

467 Finisher

 

K 43 Männer

 

1. Kyburz Matthias  3:0016,7
2. Vermeulen Kevin  3:15.58,9
3. Cassol Roberto  3:19.34,9

 

K 43 Frauen

 

1. Baer Natascha  3:48.44,2
2. Jenzer Sarina  3:53.59,5
3. Etter Franziska  4:06.16,5

 

359 Finisher

 

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