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Laufberichte

Als Landschaftslauf kaum zu übertreffen!

20.08.05

Dass ich in den Jura zurückkehre, steht außer Frage!

 

Nach meinem erfolgreichen Lauf vor drei Wochen in Davos (K 78) war ich hoch motiviert und wollte so bald als möglich eine ähnliche Herausforderung bestehen. Glücklicherweise gibt es den Défi, der von der Streckenlänge und den Höhenmetern vergleichbar ist. Und besagter Défi fand drei Wochen nach Davos statt. Klaus ging es wie mir und so stand  unserem Ehrgeiz nichts mehr im Weg.

 

Vom Défi als Lauf hatte ich schon gehört, wusste aber gerade Mal, dass es ein Ultralauf in der Schweiz ist. Die Homepage des Veranstalters und weitere Recherchen ergaben dann, dass der Lauf im Schweizer Jura stattfindet, mit Startort Couvet, etwa 30 km südwestlich von Neuchâtel.

 

Die höchsten Berge im Jura sind um 1.600 bis 1.700 Meter hoch, also nichts Spektakuläres, wenn man an die vielen 4.000er in der Schweiz denkt. Trotzdem heißt der Lauf „Défi“, auf Deutsch „Herausforderung“ und wird auf der Homepage so beschrieben: „Die landschaftlich schönste Wettlauf-Herausforderung Europas findet in den Neuenburger Bergen statt. Das Défi ist ein Rennen von besonderen Forderungen. Mit ein Höhenunterschied von 2000 m auf 72 km oder 28/44 km ist dieses eine von den Welt schwierigsten Wettlaufe.“ Soweit das etwas holprige Deutsch, aber es reichte, um Vorfreude auf diesen Lauf zu wecken.

 

Das Höhendiagramm dann überzeugte mich vollends, dass es sich keineswegs um einen leichten Lauf handeln konnte. Zwei Anstiege von 800 bzw. 900 Metern auf den ersten 41 Kilometern und ein paar kleinere auf den restlichen 30 Kilometern. Das Zeitlimit von 4:15 h für die ersten 28 Kilometer schien mir jedoch kein Problem zu sein und so nahm ich die „Herausforderung“ ohne große Sorgen an.

 

Am Freitag reisten wir an, Basel – Solothurn – Biel – Neuchâtel – Couvet, holten unsere Startunterlagen und erlebten da bereits die erste Überraschung. Mir war bekannt, dass das Teilnehmerfeld in den vergangenen Jahren immer recht klein war, wohl nicht mehr als 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen beim Défi (72km) und beim Marathon. Ich erwartete also eine Umgebung, wie bei einem Landschaftslauf dieser Größe üblich. Weit gefehlt! Das neu erbaute Sportzentrum in Couvet erinnerte mich an Davos: ein Stadion mit Sportplatz und 400 m-Bahn, am Kopfende ein großes Gebäude mit Schwimmbad, Sporthalle, Forum und entsprechender Infrastruktur.

 

Da bereits am Freitag Nachmittag verschiedene Kinderwettbewerbe stattfanden, waren auch jede Menge Leute da. Im Forum war ein Stand mit Sportartikeln, verschiedene Video-Bildschirme zeigten Sportereignisse, ein Info-Stand, die Startnummernausgabe und in der angrenzenden Halle waren jede Menge Plätze für die Pasta-Party am Abend hergerichtet. Spätestens jetzt wurde uns bewusst, dass das eine groß angelegte, zweitägige Veranstaltung war, mit dem Défi und Marathon am Samstag zwar als zentralem Ereignis, aber durchaus attraktivem Zusatzprogramm, bis zum abendlichen Unterhaltungsprogramm. Im Nachhinein erst entdeckte ich, dass dieses Jahr 10jähriges Jubiläum gefeiert wurde. Ich kann also nicht sagen, ob es immer so ein großes Rahmenprogramm gibt, oder ob das die Ausnahme war?

 

Wir übernachteten in einer Gastwirtschaft wenige Kilometer von Couvet entfernt, bekamen am nächsten Morgen ein reichhaltiges Frühstück im Hotel Adler in Couvet und waren frühzeitig im Sportzentrum. Bereits am Vortag hatte sich das Wetter verschlechtert und die Wettervorhersage für den Renntag bot keine freundlichen Aussichten: „Samstag, 20. August 2005 stark bewölkt, vereinzelt Regen, Temperatur: vormittags 12°C, nachmittags 16°C“.

 

 Als wir um 6.30 Uhr das Frühstückshotel verließen und zum Auto rannten, schüttete es wie aus Kübeln und auch als wir im Sportzentrum ankamen, mussten wir noch einige Minuten sitzen bleiben, so stark regnete es. Damit war mir klar, dass ich meine Regenjacke auf die Strecke mitnehmen musste, obwohl der Regen dann bald nachließ und ganz aufhörte. Der Himmel jedoch war grau, die tief hängenden Wolken verdeckten beinahe die umliegenden Berge und weiterer Regen war ohne weiteres möglich. Um es vorweg zu nehmen, auf die Jacke hätte ich verzichten können, kaum Regen und nahezu immer angenehme Temperaturen. Da trug ich also tatsächlich 72 Kilometer lang die Jacke mit mir rum, so ein Mist!

 

Die Wolken hatten dicht gehalten, so dass ich mir, als wir uns 35 Minuten später zum Start auf der Bahn des Sportplatzes aufstellten, die Jacke um die Hüften band. Erst auf Französisch, dann auf Deutsch wurden wir Läufer noch mal an ein paar Regeln erinnert, von denen mir eine noch bewusst ist: „Alle sind verpflichtet, andern (vor allem andern LäuferInnen) bei Bedarf im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfe zu leisten oder Hilfe zu organisieren.“ Dies sollte uns nochmals daran erinnern, dass es sich um einen sehr anspruchsvollen Lauf handelte, bei dem man durchaus mit allerlei Problemen rechnen konnte.

 

Mit fünf Minuten Verspätung wurde der Lauf um 7.20 Uhr gestartet. Défi und Marathon starteten gemeinsam und trennten sich nach 28 Kilometern. Erst liefen wir eine halbe Runde im Stadion, bevor es dann hinaus auf die Strecke ging. Couvet liegt in einem breiten Tal, durch das sich das Flüsschen L’Areuse schlängelt. Die ersten 10 Kilometer liefen wir im Tal flussabwärts, so dass dieser Streckenteil zum „Einrollen“ geradezu ideal war. Ich joggte zusammen mit Klaus und Alexander in gemütlichem Tempo, wir freuten uns, dass es so mühelos lief, philosophierten über die Läufer, die nach der Uhr liefen und über die, die nur nach Gefühl liefen und wunderten uns, dass wir die ersten fünf Kilometer so unglaublich langsam waren (7:06 min/km) und auf den zweiten so schnell (5:03 min/km). Da stimmten offensichtlich die beiden ersten Kilometerangaben 5 km und 10 km überhaupt nicht.

 

Vor uns ein schönes Panorama, liefen wir teilweise neben dem Flüsschen, überquerten es mehrmals und waren in bester Stimmung. Dazu trugen neben der weichen, grünen, weiten Landschaft auch die ersten Verpflegungsstellen bei, wo bereits jetzt eine große Auswahl an Getränken und auch an Essen von den gut gelaunten und freundlichen Betreuern angeboten wurden. Der Anstieg, der bald kommen musste, konnte uns nicht schrecken.

 

Nach etwa einer Stunde auf Feldwegen und Nebenstraßen näherten wir uns der rechten Talseite, liefen aus dem Ort Noiraigue heraus und hoch ging es in den bewaldeten Steilhang! Unablässig stieg der Weg an. Zuerst war er noch ziemlich breit, bald  wurde er schmaler und ging dann in einen schmalen Pfad über, auf dem wir in vielen engen Serpentinen einige hundert Meter Höhe gewannen.

 

Der Berghang, den wir da bezwangen, war nahezu senkrecht und nur die Büsche und Bäume gaben optische Sicherheit, ansonsten wäre das kein Weg für mich gewesen, zu steil fiel der Hang neben dem Pfad ab.

 

Schätzungsweise fünf Kilometer ging es hoch, von 700 Meter auf 1.400 Meter, unablässig, ich kann mich an kein einziges, erwähnenswertes Flachstück erinnern. Im oberen Bereich des Pfades hatten wir dann eine schöne Aussicht auf das Tal und den gegenüber liegenden Berghang, Wolkenfetzen hatten sich nebelartig über Teile der Landschaft gelegt, ein friedliches Bild.

 

Beinahe eine Stunde hatte der Anstieg gedauert, bis es dann weniger steil wurde und wir bald auf einer ebenen Wiese liefen, links eine Steinmauer, die verhindert, dass man der Steilwand dort zu nahe kommt. Hier waren wir im Naturreservat Creux-du-Van, wo wir bald die nächste Verpflegungsstation erreichten, aber was für eine! Welche Mühe man sich doch hier gemacht hat! Unter einem blauen Baldachin waren zwei Tische aufgebaut, auf der die Verpflegung aufgebaut war, betreut von als grüne Feen kostümierten Männern. Alles passte bestens in diese verzauberte Umgebung: Wolken hüllten die Landschaft ein, knorrig und krumm gewachsenen Bäume waren zu sehen. Gekonnt trug ein Alphornbläser dazu bei, die beinahe unnatürliche Stimmung noch zu verstärken – einzigartig!

 

Exkurs: Die „grünen Feen“ sind das Wahrzeichen des Laufes und begegneten uns in verschiedensten Formen unterwegs auch weiterhin, sie leiten sich vom Absinth ab, der hier in der Gegend Ende des 18. Jahrhundert entwickelt wurde. (Siehe dazu den entsprechenden Abschnitt im Bericht von Klaus.) Wegen seiner damals grünen Farbe und wohl auch seiner angeblich Halluzinationen, Psychosen und epileptische Anfälle auslösenden Wirkung wurde und wird dieses alkoholische Getränk auch „Fee verte“ - „grüne Fee“ genannt.

 

Ganz gefangen von diesen Eindrücken liefen wir weiter. Hier auf dieser nebligen Hochfläche waren wir das erste und einzige Mal währende des gesamten Laufes unsicher über die Richtung. Ein Weg war auf der Wiese nicht zu erkennen und obwohl uns ein Streckenposten die Richtung anzeigte, waren wir schon nach ein paar dutzend Schritten wieder unsicher, die Sicht war einfach zu schlecht, so dass wir die Bänder in den Bäumen, die den Weg markierten und die Fähnchen, die in regelmäßigen Abständen im Boden steckten nicht mehr sehen konnten. Dazu kam, dass wir bereits seit einiger Zeit ganz alleine liefen, uns also auch nicht nach vorne orientieren konnten. Nur kurz zögerten wir, bis Klaus in der nebligen Ferne dann doch eine Markierung entdeckte.

 

Noch etwa zehn Minuten ging es sanft hoch und über den Soliat (1485m), bis wir dann wieder abwärts geführt wurden, ein paar hundert Meter über Kuhweiden, immer wieder musste ein Gatter überwunden werden, bis wir dann an der Kontrollstelle waren, an der unsere Startnummern notiert wurden. Danach „verloren“ wir auf den nächsten etwa 10 Kilometern wieder die zuvor erarbeiteten knapp 800 Höhenmeter.

 

Auf angenehm zu laufenden Wegen, teils Asphalt, teils Schotter, teils Waldpfaden ging es sanft abwärts durch eine schöne, abwechslungsreiche Gegend, über Weiden, vorbei an Kuhherden, durch kleine Wäldchen, ab und zu ein Bauernhof, unterbrochen nur durch zwei Verpflegungsstationen – so hätte es weitergehen können. Erst gegen Ende wurde der Abstieg steiler, ein anspruchsvollerer Waldpfad führte uns die letzten 10 Minuten vollends hinunter bis zur Kontrollstelle bei Kilometer 28.

 

Obwohl also dieser „Abstieg“ nahezu unproblematisch war, benötigten wir für die vielleicht 10 oder 11 Kilometer beinahe 1:25 h, offensichtlich haben uns die Verpflegungsstellen und die schöne Landschaft, die wir immer wieder fotografierten, doch länger aufgehalten. Hier war die erste und einzige Stelle, an der man ein Zeitlimit – 4:15 Stunden – einhalten musste. Knapp vier Stunden hatten wir bis hierher benötigt, mehr als wir gerechnet hatten, aber wir machten uns keine Sorgen. An dieser Kontrollstelle war auch der Wechsel für die Staffelläufer und hier trennte sich der Défi vom Marathon. Während für die Marathonis die restliche Strecke vollends leicht zu laufen war, wurden wir auf unseren zweiten Aufstieg, knapp 900 m hoch auf den Chasseron geschickt.

 

Ganz harmlos fing es an, auf einem breiten Pfad ging es hoch durch den Wald, gerade so steil, dass man ohne schlechtes Gewissen gehen durfte. Links rauschte ein kleiner Bergbach herunter, über uns und um uns herum hellgrüner Laubwald. Bald wurde es steiler und nach etwa 20 Minuten wurde es enger, beidseitig waren jetzt Felswände und man stieg auf Steinstufen hoch durch diese enge Schlucht. Am Ende dieses Abschnitts belohnte uns dann eine Verpflegungsstelle – wie immer vollständig ausgestattet.

 

Ich habe noch nie einen Lauf mitgemacht, bei dem die Verpflegungsstellen so dicht aufeinander folgten, so perfekt ausgestattet waren und von so freundlichen Menschen betreut waren. Wir befanden uns hier in der französischen Schweiz, aber stets nach wenigen Augenblicken hatte man uns als deutschsprachig erkannt und wechselte mit uns ein paar Worte auf deutsch, bis man dann mit freundlichen Worten wieder entlassen wurde.

Noch eine Zeitlang ging es hoch durch den Wald, bis dann die Bäume verschwunden waren und wir wieder auf Bergwiesen liefen. Jetzt hatte man auch stellenweise eine schöne Aussicht nach unten ins Tal.

 

Die nächste Verpflegungsstelle tauchte auf, und schon von weitem hörte man das laute Singen eines der Männer. Offensichtlich waren die Betreuer hier oben immer noch gut drauf, obwohl wir wohl ziemlich die Letzten waren und mittlerweile ein größerer zeitlicher Abstand zu den Läufern vor uns war. Und ganz selbstverständlich war das Angebot komplett, als ob wir die Ersten an dieser Station gewesen wären und man noch das Hauptfeld erwarten würde – einfach sagenhaft.

 

Ein Grund für diese perfekte Betreuung ist vielleicht darin zu sehen, dass das Betreuungspersonal jeder der mehr als 19 Verpflegungsstationen verschiedenen Vereinen der umliegenden Gegend gestellt wurde, die zwar die Verpflegung vom Veranstalter bekamen, in der Ausgestaltung der  Stelle selbst vielleicht ein wenig miteinander wetteiferten.

 

Die meisten Höhenmeter hatten wir bereits geschafft, die nächste Stunde ging es eben, sogar mal leicht abwärts, aber nur noch sanft hoch. Wir liefen durch eine hügelige Hochfläche, Weideland mit vielen Kühen, mal an einem Wäldchen vorbei, mal durch einen Bauernhof, eine ruhige, einsame, schöne Landschaft, die offensichtlich auch auf uns abfärbte, denn unsere Geschwindigkeit war nicht beeindruckend, aber wir waren zufrieden und beglückwünschten uns gegenseitig, dass wir einen solch schönen Lauf machen durften, dass unsere Körper das mitmachten und dass es nicht regnete.

 

Nach knapp sechs Stunden und etwa 41 Kilometern liefen wir unterhalb der Gipfelpyramide des höchsten Berges der Gegend, dem Chasseron (1.607 m), vorbei. Die letzten paar hundert Meter waren nochmals anstrengend gewesen, sehr steinig und einigermaßen steil. Dafür aber wurden wir mit einem schönen Ausblick ins Tal belohnt, in dem der Blick auf den „Lac de Neuchâtel“ 1.200 Meter tiefer von den Wolken freigegeben wurde. Überhaupt hatte sich das Wetter gut gehalten. Nur einmal hatte es ein wenig genieselt, aber die rabenschwarze Wolkenwand vor uns hatte wohl ihr Wasser bereits verloren, wenn wir dort ankamen, so hofften wir wenigstens.

 

Wir stärkten uns kurz an der Verpflegungsstelle kurz nach dem Gipfel und joggten voll Spannung weiter. Jetzt musste der Abstieg kommen, der in einem Bericht mit 30 bis 40 % Gefälle angekündigt wurde. In der Tat, nach wenigen hundert Metern standen wir vor einem steilen Wiesenstück, wie ich es noch nie gegangen bin. Zum Glück war der Pfad diesen Hang hinunter einigermaßen griffig und durch Seile gesichert, die mir beim Abstieg Halt gaben. Toll – genau solche Abschnitte heben einen Landschaftslauf aus der großen Masse heraus.

 

Nach wenigen Minuten bereits wurde es weniger steil, dafür glitschig. Der Pfad führte jetzt durch den Wald hinunter. Genau hier hatte wohl vor vielleicht einer Stunde die schwarze Wolke ihr Wasser verloren. Die hundert Läuferinnen und Läufer vor uns hatten dann den Pfad in ein schmieriges Wegstück verwandelt. Wenn jemand auf den immer noch sehr steilen Pfad Schmierseife verteilt hätte, wäre das vermutlich auch nicht rutschiger gewesen. Vorsichtig, immer wieder rutschend, einmal sogar „setzten“ wir uns unfreiwillig, überwanden wir dieses abenteuerliche und vor allem unglaublich Kräfte zehrende Gefälle und erreichten nach etwa 35 Minuten voller Krafteinsatz und Konzentration einen gekiesten Waldweg. Genau hier war ein Sanitätswagen mit Sanitätern postiert. Ob die wohl heute schon Hilfe leisten mussten? Nicht bei uns, wir hatten den abenteuerlichen Pfad ohne Blessuren überwunden, nur meine Oberschenkel waren jetzt total kraftlos und es lagen doch noch 28 Kilometer vor uns!

 

Weiter ging es abwärts, weniger steil, eine Wohltat, angenehm zu laufende Waldwege und auch Asphalt. Bald war dann auch der Abstieg vom Chasseron geschafft und wir erreichten wieder die Zivilisation in Form von Asphaltstraßen, Höfen und Dörfern. Auf den nächsten 14 Kilometern kamen noch drei „kleinere“ Anstiege, insgesamt vielleicht nochmals +/- 400 Höhenmeter, eigentlich ein „Klacks“ aber wir waren doch bereits recht erschöpft, so dass uns dieser Abschnitt mehr anstrengte, als gedacht.

 

Mehrmals erinnerte ich Klaus an die Regel „Alle sind verpflichtet, andern (vor allem andern LäuferInnen) bei Bedarf im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfe zu leisten …“ und forderte ihn auf, mich zu tragen, ersatzweise wenigstens zu ziehen, aber der Schuft lachte nur, lief vorneweg und überließ mich meinem Elend. Wenigstens passte er sich meinem langsamen Tempo an und ließ mich nicht im Stich, so dass ich noch mitkam. Mit unseren etwa 9:30 min/km auf diesen 14 kilometern verspielten wir vermutlich die Chance, unter 10 Stunden ins Ziel zu kommen. Allerdings war uns das nicht mal ein Wort des Bedauerns wert, der Lauf war bisher so schön gewesen, dass uns die Zeit überhaupt nicht wichtig war.

 

Immer noch konnte man sich auf die Verpflegungsstellen verlassen, dicht aufeinander folgend, vielleicht 20 Minuten Abstand, vollständig bestückt und nach wie vor von freundlichen, gut gelaunten Betreuern organisiert, waren das immer Inseln der kurzen Erholung.

 

Ab Kilometer 59 dann ging es auf einer Asphaltstraße steil abwärts - 14 % zeigte das Verkehrsschild - und nach vielleicht drei Kilometern hatten wir die restlichen 300 Meter bis ins Tal von Couvet wieder verloren. Ab jetzt würde es nur noch eben gehen. Bereits seit einigen Verpflegungsstellen hatte ich jeweils einen kleinen Becher Cola getrunken, was mir, wie immer, ein wenig Auftrieb gab. Ab jetzt nahm ich jedes Mal zwei volle Becher. Ich wollte auf diesen letzten sieben Kilometern nochmals Geschwindigkeit zulegen, was uns dann auch tatsächlich gelang.

 

In flottem Tempo ging es dem Ziel entgegen, meist auf Asphaltstraßen, häufig der Areuse entlang. Immer wieder aber hatte man „Schikanen“ eingebaut, sprich holprige Naturpfade. Wir fluchten zwar ein wenig darüber, aber die Freude, es bald geschafft zu haben, nahm so überhand, dass wir auch diese „Défi“ annahmen und bewältigten.

 

Glücklich, den äußerst anspruchsvollen Lauf geschafft zu haben, liefen wir ins Stadion ein, absolvierten die Pflichtrunde und erreichten damit nach 10:20:23 Stunden das Ziel. Während der letzten sechs Stunden waren wir beide mutterseelenallein gelaufen. Ständig hatten wir gehofft, vielleicht noch jemanden überholen zu können - vergeblich. Wir wussten zwar, dass noch einige hinter uns waren, aber vielleicht hatten die aufgegeben? Es war also durchaus möglich, dass wir die Allerletzten waren. Aber auch dieser Gedanke konnte unser Glück in keinster Weise trüben, wir waren restlos glücklich.

Die Ergebnisliste am folgenden Tag zeigte dann, dass noch vier Läufer nach uns ins Ziel gekommen sind. Von den gestarteten 144 (?) Läuferinnen und Läufern des Défi haben 96 das Ziel erreicht, die restlichen 48 entweder aufgegeben, gar nicht angetreten oder sich bei Kilometer 28 für den Marathon entschieden.

 

Während des Laufes überlegte ich immer wieder, welcher Lauf nun anstrengender war, der Défi oder der K 78. Zu einer Entscheidung bin ich bis heute nicht gekommen. Empfehlenswert sind beide, eine Herausforderung sind beide, Davos mag von der Bergkulisse spektakulärer sein, der Jura jedoch ist in seiner zurückhaltenden Schönheit einzigartig, mit ganz zauberhaften Stellen, zauberhaft im eigentlichen Sinne. Ich verstehe nicht, wie die Ultraszene einen solchen Lauf so ignorieren kann, bin aber gleichzeitig froh darüber, denn die Einsamkeit auf der Strecke hat viel zur Atmosphäre dieses Laufes beigetragen.

 

Also Leute, lauft ruhig weiter die Einheitsläufe und überlasst mir diesen schönen Lauf, denn dass ich in den Jura zurück kehre, steht außer Frage!

 

Dass der Lauf 10jähriges Jubiläum feierte, habe ich Eingangs schon erwähnt, nicht jedoch das Jubiläumsgeschenk, den Mitternachtsmarathon! Am selben Abend noch, 15 Minuten nach Mitternacht, wurde ein zweiter Marathon gestartet. Die Strecke war die gleiche, wie am Samstag, also nicht einfach, aber ganz bestimmt ein außergewöhnliches Abenteuer. Zur Orientierung in der Dunkelheit sollten „kleine leuchtende Markierungen in regelmäßigen Abständen den Weg säumen.“ Wenn da jetzt noch schönes Wetter gewesen wäre, womöglich Vollmond! Trotzdem waren bei diesem Mitternachtsmarathon mehr Läuferinnen und Läufer auf der Strecke (94) als beim Samstag-Marathon (76).

 

Persönliches Fazit: Mit ein paar Tagen Abstand wird mir erst die ganze Schönheit dieses Laufes bewusst. Das Schreiben eines Laufberichtes lässt das Ereignis nochmals im Kopf entstehen, ich erinnere mich an Details, die ich während des Laufes nur unbewusst wahrgenommen habe. Die aufgenommenen Bilder zeigen die Landschaft unter einem anderen Blick. Wurde ich während des Laufes von den eigenen Unzulänglichkeiten abgelenkt, konzentriere ich mich beim Schreiben ausschließlich auf den Lauf, hole ergänzende Informationen ein und erlebe  so den Lauf in einer umfassenden Art und Weise ein zweites Mal.

 

Mit all diesen Eindrücken bin ich mir ganz sicher, dass ich diesen Lauf auf jeden Fall nochmals mitmachen möchte. Ich bin sogar so vermessen zu sagen, dass ich, wenn angeboten, das nächste Mal den Défi und anschließend den Mitternachts-Marathon laufen werde. Neben Biel, meinem absoluten Lieblingslauf und gleichwertig mit Davos, gehört dieser Lauf zu meinen absoluten Favoriten. Von der Verpflegung her kann er kaum übertroffen werden, vor allem nicht von Davos, wo sich die Verantwortlichen diesbezüglich viele Scheiben vom Défi abschneiden können.

 

Kleine Statistik der Teilnehmer im Ziel:

 

Défi 72 km - 97
Staffeln - 8
Marathon - 76
Midnight  - 94
Halbmarathon - 201
12 km Run/Walk - 179

 

Insgesamt also 655, nicht gerechnet die Kinder- und Jugendläufe.

 

 

Informationen: Swiss Canyon Trail
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