Es gibt wohl kaum eine Region in den Alpen, die das Herz eines Bergenthusiasten höher schlagen lässt als die Dolomiten. Der schroffe bizarre Fels, unnahbar und mystisch zugleich inmitten lieblicher Almlandschaften, ist das Markenzeichen der Region und die Liste der Bergberühmtheiten lang – Drei Zinnen, Sella, Marmolata, Cristallo, Tofane, Rosengarten, Schlern .... wer hat nicht schon von ihnen gehört?
Es ist nicht so, dass die Läuferszene die Dolomiten nicht längst entdeckt hätte. Der Lavaredo Ultra Trail rund um Cortina etwa ist einer der Blockbuster der Szene. Auch wenn der Trail- und Berglauf boomt wie nie, setzt ein neuer Marathon in den Dolomiten doch ein besonderes Ausrufezeichen. Noch dazu, wenn er, wie der „Rosengarten Schlern Skymarathon“, gleich zwei der Bergcelebrities im Namen führt. Die Bezeichnung Skymarathon deutet schon an: Es geht hoch hinaus. Und mit einer Höhenmeterbilanz von + 2.980 / - 3.083 m bei 44,7 km ist klar: Dieser Lauf ist kein Pappenstiel. Über 30 km davon ist man skymäßig jenseits der 2.000 Meter unterwegs. Schon wenn man sich den Streckenverlauf, kurz gefasst einmal rund um den Rosengarten herum und dann über den Schlern, und dazu ein paar Bilder im Internet anschaut, lässt sich erahnen: Dieser Streckenkurs ist ein Traum.
Wem die 45 km zu viel sind, kann auf eine abgespeckte Variante mit 36 km und 1000 Höhenmetern weniger ausweichen. Bei dieser wird der Hauptlauf zur Streckenhälfte ab dem Grasleitenpass durch das Tschamintal abgekürzt. Auf diesen Kurs zwangsweise delegiert wird auch, wer es nicht bis zur Cut-Off-Zeit von 5,5 Stunden zum Pass schafft.
Was belegt den Erfolg einer Premiere am meisten? Richtig: Wenn sich im Folgejahr mehr Teilnehmer anmelden als beim ersten Mal. So auch hier: 485 Meldungen liegen 2018 vor, davon 345 für die 45 km. Das sind in der Summe über 200 mehr als im Vorjahr. Das selbstgesetzte Limit des Veranstalters von 500 ist damit schon fast erreicht.
Für alle, die wie ich am Freitag anreisen, führt der erste Weg zum Rennbüro am Brunnenplatz im Herzen von Tiers. Das 1000 Seelen-Dorf liegt überaus malerisch im hinteren Teil des Tierser Tals, gen Norden und Osten abgeschirmt durch die Berge, die unser Laufrevier sein werden. Schon aus dieser Perspektive präsentieren sich die schroffen Wände des Rosengarten und insbesondere die Felsnadeln der Vajolet-Türme mehr als beeindruckend. Im Rennbüro bekommen wir die Startunterlagen. Für den Moment interessanter als die Startnummer ist der Starterbeutel. Denn der entpuppt sich einmal mehr als Wundertüte, befüllt mit lokalen Spezialitäten, etwa Schüttelbrot und Kaminwurzen, und einem stylishen Teilnehmershirt.
Ansonsten wird vor dem Lauf nicht viel Brimborium betrieben: keine Messe, keine Pasta-Party. Das Feiern hebt man sich für nach dem Lauf auf. Eigentlich konsequent. Das Dorfsommerfest startet schon Samstagmittag. Am Freitagnachmittag wird auf dem Brunnenplatz noch eifrig vorbereitet. Und dafür, dass auch jeder Läufer mitfeiert, sorgt ein Essens- und Getränkebon im Starterbeutel. Ein Special für die Pressevertreter gibt es aber doch: Ein Get together mit Aperitif im schicken Vajolet Hotel mit den Organisatoren Bernhard und Joe, „Ideator“ Rudi, Pressereferentin Katja und einigen Top-Läufern aus der Region. Dort erfahre ich interessante Hintergrundinfos, etwa, dass es zehn Jahre von der ersten Idee des Laufs bis zu dessen Realisierung gedauert hat. Aber auch, wie sehr die Veranstaltung vom Dorf, der Hotellerie, den Hüttenwirten ringsum und der Bergwacht getragen wird. Allein drei Viertel der 200 Helfer stammen aus Tiers.
"100 % no asphalt" lautet die Devise. Und konsequenterweise gilt das natürlich auch für den Start. Auf einer weiten Wiese vor dem Luxusresort Cyprianerhof im Dörflein St. Cyprian (1.071 m üNN) ist der Startkorridor mit Trassierbändern abgesteckt. Ein einsamer weißer Startbogen ragt aus dem Grün und bildet einen überaus pittoresken Rahmen für die im Morgenlicht noch dunstige Silhouette des Rosengarten am Horizont. Die Sonne hält sich dahinter noch verborgen. Aber es lässt sich trotz Morgenkühle bereits jetzt erahnen: Wir haben einen Tag mit Traumwetter erwischt, nachdem heftiger Regen bis gestern Mittag noch die Organisatoren in Atem und auf Trab gehalten hat.
Schon ab 5:30 starten die ersten Shuttlebusse und bringen die Läufer von Tiers drei Kilometer taleinwärts hierher. International ist das Teilnehmerfeld. 14 Nationen sind vertreten, wobei vor allem die Deutschen ihr besonderes Dolomiten-Faible demonstrieren: Sie allein stellen weit mehr als ein Viertel der Teilnehmer.
Anders als bei vielen Bergläufen vergleichbaren Kalibers gibt es kaum Vorgaben für die Pflichtausrüstung, lediglich Empfehlungen. Es scheint sich aber herumgesprochen zu haben, dass man solche Empfehlungen bei einem Lauf im Hochgebirge tunlichst befolgen sollte. Jedenfalls sehe ich fast niemand ohne Laufrucksack. „Pflicht“ ist ein Trinkbecher. Ökologisch korrektes Verhalten wird großgeschrieben, zumal auch der Rosengarten einer der als UNESCO-Weltnaturerbe geschützten Teile der Dolomiten ist.
Wie ein großes Familientreffen der Berglaufszene kommt mir die Stimmung vor dem Start vor, so ausgelassen und entspannt ist das Miteinander. Erst kurz vor sieben Uhr rottet sich das Teilnehmerfeld auf dem feuchten Gras im Startkanal zusammen. Dann geht alles kurz und schmerzlos über die Bühne. Ein kurzer Countdown, ein trockener Knall und schon ergießt sich der Läuferpulk über die Alm. 10 Stunden haben wir nun Zeit, den Weg ins Ziel in Tiers zu finden. Und ich weiß: Zumindest für mich wird das knapp.
Gelegenheit, die Laufmotorik gemütlich in Schwung zu bringen, haben wir nicht. Gleich die ersten fünf Kilometer katapultieren uns über 800 Meter in die Höhe. Durch eine frisch gemähte Schneise queren wir den schier endlosen Wiesenteppich. Nur kurz währt bei den meisten die Ambition eines dynamischen Laufeinstiegs. Im stetigen und immer kräftigeren Anstieg setzt sich schnell und kollektiv die Einsicht durch, dass ein Switch vom Lauf- in den Walkingmodus kraftökonomisch bereits jetzt deutlich mehr Sinn macht. Heftig schnaufend und mit den Laufstöcken kräftig anschiebend erreichen wir nach etwa 1,5 km den Waldrand.
Durch dichten Wald geht es weiter steil bergan. Als Belohnung winkt kurz darauf ein herrlicher Blick auf die Zackenkette des Rosengarten, der wir nun schon ein deutliches Stück näher gerückt ist. Eine erste Wasserstelle ist nach 2,4 km an der Plafötsch-Alm (1.560 m üNN) für uns eingerichtet. Schweißgebadet, wie ich bereits bin, nehme ich dieses Angebot gerne wahr.
Und weiter geht es im gleichen Takt. Im schnellen Schritt stapfen wir auf einem schotterigen Weg erneut durch waldiges Gelände in die Höhe. Mal links-, mal rechtsseitig folgen wir einem rauschenden Wildbach. Rustikale Holzbrücken ermöglichen uns den Seitenwechsel. Dann wird es ruhig, sehr ruhig. Auch die letzten Wortwechsel verstummen, als sich der Pfad steil durch geradezu dschungelartiges Grün nach oben windet.
Ein echtes „Wow“-Erlebnis bedeutet das Erreichen der Haniger Schwaige nach 5,3 km. Die inmitten Almen 1.937 m hoch gelegene, urige Berghütte ist mit einer Traumlage gesegnet. Direkt über uns ragen die Vajolet-Türme in den Himmel. Sie sind wohl „das“ Wahrzeichen des Rosengarten. Bis zu 2.821 m hoch streben die sechs markanten Felsnadeln gen Himmel. Beliebt und bekannt sind sie vor allem als Klettertürme, aber auch für Nichtkletterer sind sie optisch ein ganz besonderer dolomitischer Leckerbissen.
Direkt vor der Almhütte ist die zweite der zehn Verpflegungsstationen entlang des Kurses eingerichtet, und dieses Mal mit dem vollen Programm. Das heißt: Neben Wasser „pur“ ist Isotonisches und Cola geboten, dazu diverses Frisch- und Trockenobst, Gurken, Käse sowie Kekse. Mein Favorit sind heute eindeutig die herrlich kühlen, süßen Wassermelonenstücke.
Und schließlich gibt es noch einen weiteren Grund sich zu freuen: Der erste „Jump“ nach oben ist geschafft, wir sind jetzt so richtig am Rosengarten-Massiv ankommen. Was aber nicht heißt, dass es nicht noch weiter hinauf geht ...
Die nächsten Kilometer sind geprägt durch den stetigen Wechsel zweier Streckenprofile: Mal geht es auf wurzelig-steinigen Pfaden durch Bergwald weiter in die Höhe, dann wieder führen schmale, aber gut zu belaufende Wege durch weite Almen. Zum ersten Mal bricht die Sonne zwischen den Bergwipfeln hindurch, aber nur für Momente. Noch immer wirft die mächtige Westwand des Rosengarten weite Schatten.
Blickt man auf die senkrecht empor strebende, unzugängliche Wand, so würde man eher an eine Götterfestung denken als an einen Rosengarten. Interessanterweise hat auch der italienische Name Catinaccio, aus dem Ladinischen abgeleitet und nichts anderes als „Geröllhalde“ bedeutend, nichts mit der lieblichen deutschsprachigen Bezeichnung gemein. Unter den diversen Erklärungen ohne Zweifel die schönste ist die, wonach der sagenhafte Zwergenkönig Laurin hier einst seinen verborgenen Rosengarten hatte. Dummerweise verliebte er sich in die falsche Frau, die er hier her entführte. Als ihn die verfolgenden Ritter trotz Tarnkappe im Garten aufspürten und gefangen nahmen, belegte er den Garten mit einem Fluch. Bei Tag und bei Nacht sollte niemand ihn je mehr sehen dürfen. Beim Verfluchen vergaß er allerdings die Dämmerung. Daher kann man den Rosengarten auch heute noch sehen, wenn der Berg bei Sonnenuntergang rot leuchtet. Im Hier und Jetzt aber wirkt der Fluch: Nichts als grauer Fels türmt sich beeindruckend über uns.
Etwa nach 10 km endet das Laufen auf Distanz zum Berg. Ein breiter, gut ausgebauter, aber stetig bergan führender Naturweg bringt uns direkt bis zum Fuß des senkrecht aufsteigenden Felsenkamms. Unweit der Kölner Hütte, nunmehr schon in 2.300 m Höhe, ist mitten in der Geröllwüste unauffällig ein kleiner Getränkestand aufgebaut. Er markiert gleichzeitig den Einstieg in einen neuen Streckenabschnitt.
Die anstehenden vier Kilometer sind vor allem dadurch charakterisiert, dass man sie mangels ausgeprägtem Profil auch als Nicht-Gämse weitestgehend entspannt belaufen kann. Und: Es geht durch die Bergflanke immer an der Wand entlang. Was das Laufen nicht nur entspannt, sondern optisch auch spannend gestaltet, ist der Umstand, dass man einen wundervollen Ausblick auf die sonnengefluteten Abhänge des benachbarten Latemar erleben darf.
Der Pfad führt uns bis zum südlichen Ende des Bergkamms, um dann in einer formvollendeten 180 -Grad-Kurve ganz allmählich um diesen herum zu führen. Mit der Kurve gleichermaßen ändert sich das Blickfeld auf die umliegende Bergwelt. Vor allem aber: Schlagartig treten wir hinaus in die Sonne, leuchtet das Grün der Hochgebirgsmatten ebenso wie der Fels. Und es wird gleich ein paar Grad wärmer. Auf einem riesigen Findling am südlichsten Punkt thront ein überdimensionaler Bronzeadler, als hielte er Wacht über den Rosengarten.
Entlang der Ostflanke des Bergkamms geht es auf dem weiterhin gut zu belaufenden Höhenweg nordwärts. Vor uns türmt sich mächtig die 2.806 m hohe Rotwand, ein weiterer bekannter Kletterberg der Rosengarten Gruppe. Zu ihren Füßen duckt sich schon aus der Ferne sichtbar malerisch die gleichnamige Hütte, das Rifugio Roda di Vael (2.283 m üNN). Ungewohnter Läuferandrang herrscht hier, inmitten wundervoller alpiner Kulisse, an der Verpflegungsstation. 14,3 km liegen hinter mir. So schön dieser Flecken ist, ahne ich in diesem Moment noch nicht, dass die kommenden zehn Kilometer das alles noch toppen werden. Vor mir liegt eine der spektakulärsten Etappen, die mir in meinem Bergläuferleben je untergekommen sind. Über drei Pässe führt sie. Und was man sich vielleicht auch denken mag: So viel Himmel kann man nur erleben, wenn man auch ein wenig durch die Hölle geht.
Cigoadepass lautet die erste Herausforderung. In leichtem Auf und Ab führt uns ein Single Trail zunächst mitten hinein in klassisches Dolomiten-Terrain. Und das bedeutet: Schroffer, bizarrer Fels, Zacken, Türme und Wände, wohin das Auge auch blickt. Mittendrin: Wir, eine sich bis zum fernen Horizont windende Kette bunter Punkte. Aufpassen muss man, vor lauter Gucken und Staunen nicht über einen Fels zu stolpern.
In eine kleine grüne Senke führt der Weg hinab, uns kurze Zeit zum Luftschnappen lassend. Denn über eine karge Bergflanke beginnen wir nun wieder Höhenmeter zu sammeln. Über Felsblöcke kraxelnd, ja sogar durch ein großes Felsenloch schlupfend gewinnen wir schnell an Höhe. Hoch oben können wir schon bald unser nächstes Zwischenziel ausmachen: Eine markante Kerbe im schroffen Felsenkamm, in der winzige Gestalten verharren. Durch eine weite Geröllhalde führt uns der Weg zunehmend steiler und ausgesetzter in immer engeren Serpentinen nach oben. Stoisch, in gleichmäßig festem Schritt und in praller Sonne nehmen wir die Hürde.
Ein plötzlicher kühler Luftzug erwartet mich bei 2.550 m üNN auf der Passhöhe. Atemberaubend ist der Panoramablick in beide Richtungen. Hinter mir ist es das grandiose Licht-Schatten-Spiel, das Wolken und Sonne im kargen Gelände zaubern, vor mir der Blick tief hinein ins wilde Herz des Rosengarten, in das uns nun bevorstehende Laufrevier.
Wie gewonnen, so zerronnen. Auf dem nächsten Abschnitt purzeln die Höhenmeter. Jäh geht es in kurzen, engen Schleifen durch das Geröll in die Tiefe. Erhöhte Aufmerksamkeit ist gefordert, in besonderem Maße der Gleichgewichtssinn, als es ein paar Meter durch ein sulziges Schneefeld geht. Wohl dem, der mit seinen Laufstöcken umzugehen weiß.
Mächtig überragt die Cima Catinaccio, die 2.981 m hohe Rosengartenspitze zu unserer Linken die Bergszenerie. Auf und ab windet sich davor unser Pfad durch Fels und Geröll. Ein aufregendes Stück Weg inmitten einer scheinbar weltentrückten Kulisse. In der Ferne thronend erspähe ich bereits den kantigen Kesselkogel, den mit 3.004 m höchsten Gipfel der Rosengartengruppe. Ich ahne schon: Die kleine Scharte gleich daneben ist wohl unser nächstes Höhenziel: der Grasleitenpass. Unendlich weit weg kommt er mir aber noch vor.
Mitten im Felsenwirrwarr vor mir nimmt fast auf Augenhöhe allmählich ein pittoreskes Häuslein Gestalt an. Es ist die Vajolet-Hütte, die als Zwischenstopp vor dem Passsturm lockt. Ich freue mich schon auf den nächsten Break, allerdings etwas zu vorschnell: Denn der felsige Pfad führt tiefer und tiefer ins Vajolet-Tal hinein, womit die Hütte immer mehr in die Höhe rückt. Ein paar finale Kraxeleinlagen führen uns schließlich hinab auf einen breiten, bequemen Naturweg. Fast schon bin ich geneigt, ihn als Dolomitenautobahn zu bezeichnen. Denn über ihn trotten langsam und behäbig Horden von Wandertouristen. Auch ihr Ziel: Die Vajolet-Hütte.
Überaus freundlich werden die Sky-Trailer von vielen Wanderern begrüßt und angefeuert. Auch wenn ich feststellen muss, dass mein Geschleiche auf dem Weg zur Hütte kaum dynamischer ist als das der Wandersleut. Endlich ist es geschafft: Das 2.243 m üNN gelegene Hüttlein nach 20,2 km entpuppt sich aus der Nähe als veritables Berghaus, einmal mehr mit Traumkulisse rundum, allem voran natürlich den namengebenden Vajolet-Türmen. Deren Magnetwirkung wird hier eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Auch für uns Läufer ist der Verpflegungstisch reich gedeckt. Am liebsten wäre ich hier noch eine Weile länger geblieben. Aber die Cut off-Zeit im Hinterkopf treibt mich schon bald wieder auf die Piste.
„Piste“ trifft den Weg hinauf zum Pass recht gut. Er ist weiterhin zumeist breit, bequem, kommod, aber permanent im Anstieg. Und die Wanderer sind auch hier eindeutig in der Mehrheit. Zunächst sorgen noch vereinzelte Matten für ein wenig Grün, dann aber dominiert nur mehr die Geröllwüste das Tal. Ein ganz besonderes Bild ist es, die endlose Menschenkette bis tief hinab beobachten zu können.
Ein wenig packt mich schon der Ehrgeiz, zumindest ein bisschen schneller als die Wanderer zu sein. Mit systematischem Stockeinsatz gelingt das auch ganz gut, aber ich muss heftig japsend zugestehen, dass die Höhenluft ihren Tribut fordert.
Fast wie einen Adlerhorst sehe ich endlich die Grasleitenpasshütte im Fels kleben. Die letzten steilen Sepentinen hinauf fühlen sich gleich deutlich entspannter an. Anders als die robusten Berghäuser bisher wirkt die hölzerne Hütte fast schon wie ein alternatives Provisorium. Unvergleichlich sind die Lage und der Blick von der Balkonterrasse in die Tiefe.
Das Ankommen auf dem 2.601 m hohen Passo Principe / Grasleitenpass nach 22,5 km hat ohne Zweifel eine besondere Ausstrahlung. Für alle gilt: Der höchste Streckenpunkt ist erreicht und die Hälfte der Strecke bewältigt. Für mich kommt aber dazu: Mit 4:45 Stunden ist noch reichlich Luft zum Limit von 5:30 Stunden und so gestatte ich mir, meinen Rucksack abzuwerfen und die Verpflegung auf der Passhöhe ein wenig länger auszukosten. Das sieht auch Klaus, ein kerniger Mitläufer so: Er lässt sich erst einmal eine Halbe Bier einschenken und genießt auf seine Weise den Moment. Erst später bekomme ich mit: Das war der Wirt der Haninger Schwaige höchstpersönlich, für den die Spezialverpflegung bereitgehalten wurde.
Beeindruckend ist der Blick zurück ins Vajolet-Tal. Noch beeindruckender, fast schon unheimlich und beängstigend ist der Blick jedoch nach vorne, hinein ins Tschamintal. Im oberen Teil wirkt es wie ein riesiger Mondkrater. Keinerlei Vegetation, rundum umschlossen von Wänden aus grauem, Furcht einflößenden Fels, dazwischen im Sonnenlicht fast schon weiß schimmerndes Geröll. Am meisten schlucken muss ich aber, als ich kapiere: Die gegenüber liegende, von hier aus scheinbar senkrecht empor ragende Geröllhalde muss ich hinauf. Denn dort oben ist der Molignonpass.
Wer die Berge kennt, weiß aber auch: Aus der Entfernung schaut manches wilder aus als es tatsächlich ist. Und: Es hilft ja nichts. Da muss ich durch.
Im Slalom stürze ich mich hinab durch das Geröllfeld. So mancher weißer Flecken entpuppt sich als Schneerest und beschert uns zusätzliche Gleiteinlagen. Stets im Auge haben uns jedoch die Bergwachter, die allzeit bereit an besonders ausgesetzten Stellen positioniert sind. Was der ganzen Szenerie noch einen ganz besonderen Touch verleiht ist der Umstand, dass tief unten, an der Weiche, wo sich der Kurs der 45 km- und 36 km-Läufer trennt, zwei Alphornbläser inmitten der Einsamkeit harren und mit ruhigen, sanften Klängen den gesamten Kessel akustisch ausfüllen. Ich kann nur sagen: Selbst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, bekomme ich beim Gedanken daran eine Gänsehaut.
Für die 36er geht es von hier immer weiter das Tschamintal hinunter bis nach Tiers. Wer die Langdistanz in Angriff nimmt, muss ab der Weiche nicht tiefer ins Tal hinab steigen, sondern wird nach rechts, an der Kesselflanke entlang in einem weiten Bogen bis zu dem respekteinflößenden Geröllfeld gelotst. Im Zickzackkurs kämpfen wir uns hier nun nach oben. Steiler und steiler wird es, gleichzeitig gewinnen wir aber rasant an Höhe. Zum Schluss helfen uns Stahlseile entlang der angrenzenden Felswand beim Aufstieg. Schneller als gedacht ist es geschafft, heißen uns die Helfer von der Bergwacht auf der 2.598 m hohen Passhöhe willkommen. Noch einmal blicke ich ehrfürchtig zurück in diesen Höllenkessel, hinüber auf den von hier aus nicht minder steil erscheinenden Anstieg zum Grasleitenpass und lausche den Klängen der Alphörner aus der Tiefe. Das ist Emotion pur.
Karg und wild ist die Landschaft auch jenseits des Passes. Doch sind es jetzt weniger lange Auf- oder Abwärtspassagen, die den Kurs prägen, als ausgesetzte Felspfade mit kleineren Klettereinlagen, die tendenziell immer weiter in die Tiefe führen. In der Ferne wird schon bald das markante knallig rote Dach des in einem Hochtal gelegenen Tierser Alpl sichtbar. Der Weg dorthin zieht sich aber hin, denn die Kurverei durch das Felsenlabyrinth ist zeitaufwändig. Zum Finale dürfen wir seilgesichert unsere Kletterfähigkeit auf glatterem Fels austesten, ehe es über grüne Almwiesen direkt zum 2.440 m hoch gelegenen Schutzhaus hinüber geht.
Frisch gestärkt stehen uns ab km 26,4 erneut langgezogene Ziehwege im steilen Hang bevor. Sie bilden den Übergang vom rauhen Rosengarten zum sehr viel lieblicheren Schlern. Grandiose Ausblicke eröffnen sich entlang des Pfades auf die sich nun jenseits der Schlucht türmenden Rosengartengipfel.
Gedacht und gehofft hatte ich eigentlich, dass die Zeit der großen Anstiege vorbei ist. Aber nichts da: Einmal mehr führen die Pfade in luftige Höhen deutlich jenseits der 2500 Meter. Umso schöner und weiterreichender ist dafür der Blick über die wie von einem riesigen grünen Teppich überzogene Hochebene des Schlern, die sich nun vor unseren Augen auftut.
Immer weiter hinunter geht es. Vorbei an aufgetürmten Steinhaufen laufen wir mitten hinein in das langgestreckte Hochplateau. Baum- und buschfrei ist die Landschaft und doch von sattem Almgrün überwuchert. Zur Rechten blicken wir hinunter auf die berühmte, immerhin auch noch 1.900 m hoch gelegene Seiser Alm. Vor mir, am westlichen Ende des Schlern, zeigt der wilde Zacken der Santnerspitze, dass auch dieser Berg „echtes Dolomitenblut“ in sich hat.
Wie schon angedeutet: Hier oben kann man tatsächlich wieder einmal entspannt laufen, zumindest soweit Körper und Geist noch mitmachen. Wie überall entlang des Kurses markieren Fähnchen und Kreidepfeile den richtigen Weg. Wobei man gerade hier oben sagen muss: Verlaufen ist eigentlich unmöglich. Immer geradeaus geht es, dem in der Einsamkeit der Hochebene thronenden Rifugio Bolzano / Schlernhaus entgegen. Der Begriff „thronen“ impliziert bereits: So ganz ohne Höhenmeter kommen wir selbst auf dem Schlern nicht davon. Aber letztlich ist es ein Klacks, verglichen mit dem, was wir schon meistern durften.
2.450 m hoch ragt das Berghaus, Wind und Wetter ausgesetzt, wie eine Trutzburg aus der Hochebene. Fantastisch ist einmal mehr der Blick auf die nun schon etwas ferneren Kämme des Rosengarten. Dafür füllen nun noch weitere Dolomiten-Gipfel das Blickfeld, etwa die des Lang- und des Plattkofel.
31,8 km liegen am Schlernhaus hinter, 13 km vor mir. Und ich weiß: Nun geht es nur noch abwärts. Nun ja: Fast nur noch.
Der Einstieg in den Downhill-Modus erfolgt malerisch über einen sanften Pfad quer über die Almen mit Traumpanorama. Immer stärker und steiniger windet sich der Pfad in die Tiefe. Vorbei an der idyllischen Moarboden Hütte tauchen wir ein in einen Wald aus Latschenkiefern. Fast schon betörend ist der Duft der harzgeschwängerten Luft. Getränkemäßig nochmals versorgt werden wir an der lauschigen Sesselschwaige, einer Hütte inmitten des stimmungsvollen Hochwaldes. Schwer versucht bin ich, auf einer der sonnenbeschienenen Bänke der liebevoll gestalteten Terrasse eine kleine Auszeit zu nehmen. Ein Blick auf die Uhr treibt mich aber dann doch an.
Tiefer und tiefer windet sich der Pfad, direkt hinein mündend in eine enge Schlucht. Prügelsteig nennt sich der Weg, mit dem der durch die Klamm führende Wildbach fast vollständig überbaut ist. So deftig der Name ist, so deftig ist auch der Untergrund. Rohe, kantige Hölzer sind so aneinander gereiht, dass man wirklich jeden Tritt im Schuh spürt. Für Fußreflexzonenfanatiker mag das ein Ort der Lust sein, für gequälte Läuferfüße ist das aber eher eine Tortur. Da, wo kein Holz verlegt ist, piesackt uns ein Felspflaster gröbster Art als weitere Herausforderung. Nichtsdestotrotz: Der steile Weg durch die feucht-kühle Klamm hat echten Erlebniswert.
Auf vergleichsweise gemütlichen Waldpfaden setzt sich der Kurs, dem Verlauf der Hänge folgend, in meist leichtem Rauf und Runter fort. Von mir aus hätte das so bis ins Ziel weitergehen können. Aber schon im Laufplan ist kurz vor Schluss noch einmal ein auffälliger Zacken eingezeichnet.
Und auf diesen Zacken werde ich mitten im Wald auf einmal abgeleitet. Nur noch 5 km bis ins Ziel, versuchen die Streckenposten aufzumuntern. Leider haben sie dabei arg grob gerechnet. Denn erst nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit im nur mehr wenig motivierten Aufwärtsschritt verkündet ein offizielles Schild am Wegesrand ebendiese Botschaft. Ich kann nicht sagen, dass die über 200 Höhenmeter inmitten des Waldes richtig Laune gemacht haben, aber die ist sofort wieder da, als die roten Schirme auf einer Wiese vor der Tschafonhütte nach 39,2 km künden: Jetzt hast Du es (fast) geschafft. Ein letztes Mal kratze ich alle Melonenreste zusammen, derer ich noch habhaft werden kann, während ein Peitschenschwinger hinter mir gekonnt mit lautem Knall sein „Sportgerät“ durch die Luft sausen lässt und sozusagen den Startschuss für das Finale gibt.
Immerhin noch 700 Höhenmeter abwärts und 4,5 km trennen mich vom Ziel. Aber diesen Weg kann ich jetzt noch einmal richtig genießen. In engen Kurven und profiliert führt er durch den lichten Bergwald, einmal mehr mit stimmungsvoller Bergkulisse im Hintergrund, aber nicht so ausgesetzt, dass man bei schnellerem Trab Angst um seine Gesundheit haben müsste. Dank reichlich Salz und Magnesium spielen die Beine beim Abwärtsgalopp mit. Der Bergpfad mündet in einen breiten Forstweg und dieser wiederum schließlich final in einen Weg, der uns direkt ins Ziel auf dem Brunnenplatz führt, bis zuletzt getreu dem Motto "100 % no asphalt".
Kurz vor dem offiziellen Zielschluss, nach 9:55 Stunden, laufe ich herzlich begrüßt vom Zielmoderator unter dem Zielbogen ein. Schon seit Stunden läuft das Sommerfest auf vollen Touren und sorgt dafür, dass sich auch die Spätankömmlinge nicht einsam und verloren vorkommen müssen. Jeder der noch eintröpfelnden Zieleinläufer wird mit reichlich Beifall empfangen, mit Holzmedaille dekoriert und hat in der Regel Minuten später sein erstes kühles After-Race-Bier in den Händen. Auch wer die 10 Stunden „reißt“, muss sich nicht grämen. Jeder, der den Cut Off am Grasleitenpass übersteht und die 45 Kilometer bis ins Ziel schafft, wird in der Finisherliste gewertet.
Dass der Sieger der 45 km-Distanz, der erst 26-jährige Südtiroler Andreas Reiterer, die Strecke in Rekordzeit von 4:35 Stunden und eine halbe Stunde vor dem Zweitplatzierten bewältigt, entzieht sich schlicht meiner Vorstellungskraft. Da zeigt sich wohl wieder: Die Südtiroler müssen das irgendwie in den Genen haben. Mit einer Zeit von 5:34 Stunden ähnlich deklassiert hat auch Anna Pedevilla die weibliche Konkurrenz. Wo (auch) sie ihre Heimat hat, muss ich ja wohl nicht mehr sagen.
Ob die preisgekrönten Sieger oder doch eher Breitensportler wie ich mehr von dem Lauf heim nehmen werden, ist für mich dennoch klar: Die Strecke in ihrer ganzen Imposanz und Schönheit kann nur fühlen und erleben, wer sich – mehr oder weniger freiwillig - die entsprechende Zeit gönnt. Das Berglauferlebnis beim Skymarathon durch Rosengarten und Schlern gehört für mich zum Grandiosesten, was die Szene zu bieten hat. Das alles ist eingebettet in eine Organisation und ein Umfeld, das ihresgleichen sucht. Und ich muss kein Prophet sein, um zu sagen: Wer nächstes Jahr dabei sein will, sollte sich sputen. Das Limit steht weiter bei 500. Und das ist gut so.
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