Fast genau 40 Jahre ist es her, dass ich als Schüler 1976 auf Schulabschlussfahrt eine Woche lang in Prag war. Nachhaltigster Eindruck war aber nicht das klassische Bild der „goldenen Stadt“, sondern die „silberne Moldau“. Schon damals mochte ich klassische Musik und dabei vor allem auch die Werke von Smetana und Dvorak. Und so besuchte ich natürlich das Smetana-Museum, das nahe der Karlsbrücke fast schon exponiert gleichsam in der Moldau liegt. Die Museumsleiterin hatte Zeit für mich, brachte mir das Leben des tschechischen Nationalkomponisten sehr gut nahe und beeindruckte mich am meisten, als sie auf Smetanas Flügel Musik des Komponisten spielte – während ich durch alle Fenstern draußen die in Prag stattliche Moldau silberglänzend vorbeifließen sah.
Der Marathon in Prag ist denn auch vor allem ein langer Lauf entlang des wichtigsten tschechischen Flusses. Insgesamt führen 22 Kilometer unmittelbar entlang der Moldauufer oder zumindest im Uferbereich, und achtmal wird der Fluss auf den vielen Brücken, die es in Prag über die Moldau gib, überquert. Zwei dieser Brücken werden auf den Kilometern 4/33 und 8/37 gleich zweimal überquert, was schon andeutet, dass der Kurs auf den Kilometern 2,8 bis 12,8 und 32,2 bis 42,2 identisch ist.
Die berühmte Karlsbrücke (Karluv most) wird nur einmal überquert, und zwar schon auf dem dritten Kilometer und in West-Ost-Richtung. Das wohl beeindruckendste Foto des Prag-Marathons, die mit Läufern volle Karlsbrücke, zeigt also die Läufer von vorne mit dem prächtigen Hradschin dahinter. Vier der fünf Innenstadtteile werden durchlaufen und nur Hradcany, das Stadtviertel der Prager Burg, bleibt unberührt. Trotzdem ist die größte böhmische Burganlage auf ihrem mächtigen Hügel westlich über der Stadt häufig Blickfang. Weil die Marathonstrecke immer im Tal und nahe der Moldau verläuft, ist sie fast völlig flach, und selbst bei den Brücken gibt es kaum Aufstiege. Geringe Anstrengungen verursachen allenfalls das gelegentliche, aber meist gut laufbare Altstadtpflaster und drei Unterführungen, die je zweimal zu durchqueren sind.
Nicht überraschend ist deshalb, dass der Prager Marathon durchaus zu den ganz schnellen weltweit gehört. Die Streckenrekordzeit liegt bei 2:05:39, gelaufen am 9. Mai 2010 von dem Kenianer Eliud Kiptanui und bei den Frauen bei 2:22:34, gelaufen am 8. Mai 2011 von der Kenianerin Lydia Cheromei. Die Finisherzahlen stiegen von 1642 im Jahre 1997 relativ kontinuierlich auf 5277 in 2015 und weiter auf 5778 in 2016. Natürlich ist der Marathon in Prag der teilnehmerstärkste in Tschechien.
Leider reise ich erst am Vortag nach Prag an. Schöner wäre es, schon vorher erste Eindrücke und die Atmosphäre des Veranstaltungsortes zu erleben und sich am Tag vor dem Marathon noch etwas bewegen zu können. Als Schienenregulierer und zudem umweltbewusst nehme ich natürlich die Bahn – wobei mir die Deutsche Bahn als primär rückzugorientiertes Fernverkehrsunternehmen ab Nürnberg gleich noch das erstmalige Erlebnis des Fernbusses als Verkehrsmittel ermöglicht; immerhin aber für einen günstigen Hin- und Rückfahrtpreis von 67 Euro und in einem „IC-Bus“, den man als durchaus bequem bezeichnen kann.
Überraschend ist, wie relativ leer die sehr gute Autobahn auf der Gesamtstrecke ist; die Landschaft unterscheidet sich mit ihrem sanften Mittelgebirgsrelief, Wäldern, Wiesen und Feldern mit blühendem Raps nicht von deutschen Landschaften. Hätte ich es vorher gewusst, hätte ich – in etwa der selben Reisezeit – auch direkt, also umsteigefrei von Bonn nach Prag fahren können. Ich bin allerdings zufrieden, nur gut dreieinhalb Stunden im Bus sitzen zu müssen, denn dieser bietet nicht die selbe Freiheit wie die Bahn, sich auch einmal während der Fahrt die Beine vertreten zu können. Und ausgerechnet an diesem 7. Mai so lange sitzen zu müssen, stimmt mich auch aus einem anderen Grund nachdenklich: Denn an diesem Tag habe ich Marathonjubiläum – vor genau zehn Jahren bin in Düsseldorf meinen ersten Marathon gelaufen. Am folgenden Tag soll nun in Prag mein „zweites Marathonjahrzehnt“ beginnen – ausgerechnet mit Marathon Nummer 43 (plus vier Ultras).
Schon der erste Satz der Internetwerbung für den Prag-Marathon bringt die Bedeutung Prags, aber auch die Faszination dieses Laufes auf den Punkt: Versprochen wird eine Zeitreise über Hunderte Jahre zurück in eine Zeit, als vor allem Karl IV., mächtigster Kaiser des späten Mittelalters, entschied, Prag zur Hauptstadt Europas zu machen. Als „Gegenkönig“ zu Ludwig dem Bayern war er im November 1346 ausgerechnet in Bonn gekrönt worden – da passt meine Fahrt von Bonn nach Prag zum Marathon ganz gut.
Der Marathon in Prag, wie die großartige Stadt insgesamt, lassen alle Besucher die Geschichte von Europa hervorragend nachvollziehen, denn die Altstadt als UNESCO-Weltkulturerbe mit Hradschin, Kleinseite, Josefov (Josephstadt), Alt- und Neustadt, vermittelt wohl mehr als jede andere europäische Großstadt die Historie einer über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Stadt – mit Bauzeugnissen des frühen Mittelalters, des gotischen Hochmittelalters unter Karl IV., der rudolfinischen Renaissance, des gegenreformatorischen Barock und der nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert. Letzteres hat zwar zu einer Umwandlung des ehemaligen jüdischen Viertels geführt, in dessen Ghetto die Juden über lange Zeit immer wieder diskriminiert worden und Verfolgungen ausgesetzt waren.
Die stattliche Wohnbebauung im Stil um 1900 erinnert sehr stark an Wien, hat aber in Prag keinen so dominierenden Umfang wie in der Hauptstadt der k. u. k.-Monarchie angenommen. Zum Glück blieben Prag auch Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg weitgehend erspart, so dass sich die tschechische Hauptstadt über Jahrhunderte hinweg ohne größere Zerstörungen entwickeln konnte – einmalig in Europa.
Nachdem ich am Vortag des Marathons noch Zeit habe, komme ich immerhin dazu, noch zu Fuß zur Marathonmesse zu pilgern, die sich im „Industriepalast“ im Messeviertel nördlich der Moldau befindet. Das 1891 errichtete Gebäude gibt der großen Sport Expo, auf der ich schnell meine Startunterlagen erhalte, einen würdigen Rahmen. Weil die Messe bald schließt – sie war drei Tage lang geöffnet -, ist nicht mehr allzu viel los. Ganz anders in der Stadt: Es sind unglaublich viele Touristen, aber auch Einheimische und junge Menschen unterwegs. Auf einer Plattform oberhalb der Stadt gibt es sogar ein sozusagen öffentliches, wohl ziemlich spontanes Tanzvergnügen. Unglaublich dann die Stimmung auf dem Altstädter Ring, wo ich mir nicht verkneifen kann, noch den Altstädter Rathausturm zu besteigen. Eine tolle Aussicht. Unten wird wegen des großen Touristenandrangs tagsüber erst jetzt das Startgelände aufgebaut. Vollends ins Gedränge gerate ich während der einbrechenden Dunkelheit auf der Karlsbrücke, dem touristischen Brennpunkt Prags.
Der nächste Tag beginnt mit Superwetter: Strahlender Sonnenschein ist zu erwarten, fast schon „Sonnenstichwetter“. Aber zum Fotografieren hervorragend. Von meinem Hotel bin ich in gut fünf Minuten beim richtigen Startblock: Merkwürdigerweise stehe ich in „J“ ziemlich weit hinten, obwohl ich ursprünglich mal vorhatte, unter vier Stunden zu bleiben. Eine Erkältung und mein gerade in der vergangenen Woche als viel zu niedrig diagnostizierter Eisenwert lassen aber einen Genusslauf ohnehin als ratsamer erscheinen, und in fünf Stunden lässt sich auch besser fotografieren als in vier.
Die Spezialität von Start und Ziel in Prag ist, dass es inmitten der Altstadt für einen Marathon mit 6.000 Startern sehr eng zugeht: Die einzelnen Startblocks stehen also in der gesamten Celetná und sogar kurz vor dem Pulverturm noch in eine Seitenstraße verlängert. Ein toller Aufstellungsort: Diese frühere „Zeltergasse“ war der Krönungsweg der böhmischen Könige. Sie ist eine der schönsten, wenn nicht sogar im Zuge des Marathons die schönste Altstadtstraße; die beiden anderen vom Altstädter Ring (einem Platz) aus belaufenen Straßen, Pařížiská und Na Příkopě/Národní, sind relativ breit, asphaltiert und nicht ganz so beeindruckend.
Trotz der langen Startaufstellung, bei der ich Starter aus vielen Ländern, aber nur mit Mühe einen einzigen anderen deutschen Starter sehe, geht der Start sehr schnell vonstatten: Meine Bruttozeit ist nicht ganz acht Minuten länger als die Nettozeit. Die Stimmung am Altstädter Ring ist unbeschreiblich – der Jubel hält auch noch bis zum Ende des Startfeldes an, an das ich durch das Fotografieren rasch durchgereícht werde. Ein toller Service des Veranstalters: Die Finisherurkunde weist nicht nur alle 5-km-Zwischenzeiten und die Halbmarathonzeit aus, sondern auch die jeweiligen Platzierungen im Gesamtfeld und in der Altersklasse. Und in beiden Fällen bin ich während des Marathons immer besser geworden. Das ist natürlich Balsam für’s eigene Ego ...
Noch vor dem ersten Kilometerschild wird mit der Čechův most die erste Brücke überquert: Schon hier bietet sich nach links ein grandioser Blick auf die Prager Burg (Hradschin) und zwei weitere Brücken über die Moldau, die wir beide – die eine sogar noch zweimal – überqueren werden. Es ist morgendlich kühl, wenn auch schon kräftig die Sonne strahlt. Aber wer sollte sich über solche Ausblicke bei prallem Sonnenschein nicht freuen? Dann geht durch enge Straßen der „Kleinseite“, ein trotz des Namens relativ großer Stadtteil Prags und noch dazu fast einer der schönsten: Links der Straße liegen Waldstein-Palais und gleichnamiger Garten, rechts der Ledebour-Garten, durch den man über steile Treppen, aber mit unglaublich wachsendem Blick auf die Prager Dächer hinauf zur Prager Burg steigen kann. Wir laufen durch beide Sehenswürdigkeiten relativ rasch hindurch, ohne viel von ihnen mitzubekommen.
Am nächsten Tag betreibe ich hier mit Hunderten Treppenstufen bis hinauf auf die Spitze des St. Veit-Doms „aktive Regeneration“. Das sei jedem Marathonsammler ins Stammbuch geschrieben: Einfach nur nach Prag fahren, den tollen Marathon laufen und wieder wegfahren, geht eigentlich überhaupt nicht. Wer zum ersten Mal in Prag ist, sollte mindestens drei, besser vier Tage einplanen, um die Stadt wirklich kennenzulernen. Was übrigens mit Ausnahme des Vyšehrad – zu ihm gleich noch mehr – zu Fuß erfolgen kann: Dabei wird man zwar Hunderte Treppenstufen und viele Höhenmetern sammeln, weil Prag keineswegs eben ist, aber es lohnt sich ungemein.
Die Paukenschläge folgen jetzt kurz hintereinander: Der nächste ist der Kleinseitner Ring, über dem sich mächtig die Nikolauskirche mit ihrer hohen Kuppel erhebt; sie ist die hochbarocke Dominante links der Moldau unterhalb der Prager Burg. Entstanden über mehrere Jahrzehnte während des 18. Jahrhunderts, verdeutlicht sie den Machtanspruch der Gegenreformation. Die Statuen der Kirchenväter in ihrem Innern sind mehr als vier Meter hoch, passen aber trotz ihres Gigantismus gut in diese gewaltige Kirche. Kaum haben wir die Kirche gesehen, sind wir schon links abgebogen und nähern uns von der Kleinseite her der Karlsbrücke. Rückwärtsblicke lohnen sich ungemein, auch wenn sie läuferisch nur aufhalten. Aber das Kleinseitner Brückenpanorama sucht seinesgleichen. Und ich versuche gleich mehrfach, schöne Einstellungen von diesem Panorama mit Läufern davor einzufangen. Doch auch der Blick nach vorne, auf das Altstädter Brückenpanorama, hat es in sich! Zumal es im zweiten Teil der Brücke wieder heißt, bitte umdrehen, denn jetzt thront über der Läuferschlange, der ich selbst angehöre, die Prager Burg. Fürwahr – die Karlsbrücke dürfte eine der schönsten Brücken in ganz Europa, vielleicht sogar weltweit sein!
Dass wir die Karlsbrücke so früh, schon auf dem dritten Kilometer, überlaufen, hat seinen Grund, denn im Moment, rund eine Viertelstunde nach neun Uhr, ist sie für Touristen noch gesperrt. Das kommt wohl nur beim Marathon vor. Die über zwei Dutzend Künstler, vor allem Zeichner, Maler und Musiker, die sonst neben den vielen Touristen die Brücke bevölkern, sind ebenfalls noch nicht auf der Brücke; nur Fotografen, die versuchen, für die Läufer tolle Erinnerungen festzuhalten, dürfen im Moment auf die Brücke. Großen Zuschauerzuspruch gibt es aber, als wir von ihr links abbiegen und der nächsten Brücke entgegenstreben.