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Laufberichte

Alles normale Leute!

01.01.10
Autor: Joe Kelbel

„Sechsmal habe ich Silvester ohne Alkohol und Zigaretten gefeiert...“ sagte ich dem Fledermaustypen, der mir am Bahnhof in Zürich die 1,5 Literflasche mir quitschgrünem Inhalt entgegenstreckte „...und dann kam ich in die Schule!“ Obwohl der Witz eigentlich gut ist, starrte mich dieser blasse Ossy Osborne nur blöd an und blockierte mit seinem Fledermausmantel  weiterhin den Fahrkartenautomaten.

Halb Deutschland lag gelähmt unter Schnee und Eis. Eine Zugverbindung in die Schweiz war nicht leicht zu bekommen. Nur unter schwierigsten Bedingungen kam ich schließlich in Zürich an, wo ich mich durch Massen von diesen Gotic-Spinnern durchkämpfte. Sollte ich jetzt an diesem Automaten-Zombie scheitern?

Blitzartig kam mir der rettende Satz: „ Ich komme nach Zürich, um um Mitternacht einen Marathon zu laufen!“ Da kam endlich Leben in diese Black Label Society. Als wäre ich der Oberguru aller Verrückten  dieser Welt, öffnete sich ein Halbkreis und Alice Cooper höchstpersönlich erklärte mir, wie ich eine Fahrkarte nach Schlieren bekomme. Fast hätten diese World Of Warcraft-Typen  noch ihre Umhänge vor meine Gel Cumulus geworfen, als so ein  Amy Winehouse-Verschnitt  mit einer weitausladenden Armbewegung die Masse teilte, und mir unter schwarzen Tränen den Weg hinunter zur Regionalgruft zeigte.

„Alles voll normale Leute!“ sagte ich mir, „warum sollte gerade ich der Verrückte sein?“
Am Regionalbahnsteig stehen noch ein paar normale Leute, aber in Laufschuhen: Da ist Gerhard, den es einfach stört, daß die Partygäste an Silvester schon um ein Uhr nach Hause gehen, da ist Thomas, der so still ist, das er einfach nicht zu Silvester passt, ein paar Skandinavier, die so gepflegt aussehen, daß sie keiner auf ner  Silvesterparty haben will, und einige 10 km-Läufer, die mit ihren Plastiktaschen wie Obdachlose aussehen.

Drei Stationen sind es bis nach Schlieren. Der Weg durch das einsame, in gelbes Strassenlicht getauchte Industriegebiet zur Sporthalle Unterrohr ist vom Marathonteam ausgeschildert.

Waren im letzten Jahr die Infrastrukturverhältnisse noch zu klein bemessen, so ist hier in der Halle dieses Jahr viel Platz. Aber auch tote Hose. Die etwa 160 Marathonläufer kommen aus ganz Europa, einige auch aus Übersee -  anscheinend gibt es doch nicht so viele Verrückte auf dieser Welt.

Am Rand kauern ein paar 10 km-Läufer, mit Gesichtern wie vergessene Schokoladennikoläuse, und ein paar Halbmarathonläufer, die mit offenem Mund unseren Laufberichten lauschen und uns offensichtlich sehr bewundern.

Thomas, der Andenkenverkäufer aus Berlin, zeigt mir seine neuen Hautbilder, Carmen ihre gebrochene Hand. Marcel, der Sport-heute-Fotograf zeigt seine Klamottenmischung aus „Fire & Ice“ von Willy Bogner und Waterworld. Ob er meine Sprache spricht weiss ich nicht, aber wir unterhalten uns köstlich. Ein Ehepaar spielt genervt Mau Mau, Kinder schlafen auf der zum Verkaufsstand degradierten Bühne. Warren und Peter vom 100 MC London stehen mit weit aufgerissenen Augen am Rande.

Am Nachmeldeschalter ist mehr los, ein wenig noch am Bier- und Essensschalter, die Kuchenverkäuferin gammelt gelangweilt rum, so wie wir .
Dafür, daß keine rechte Stimmung aufkam, und wir über Orte redeten, wo jetzt bestimmt der Fußboden biergetränkt ist, verging die Wartezeit schnell - und wenige Minuten vor Mitternacht stellen wir uns formlos am Halleneingang auf.

„...drei..zwo..eins..los!“ Krach! Peng! Blitz ! Zack! 2010 hat begonnen.

Jetzt ist es doch ein einmaliger, tranceartiger Augenblick. Wie Speedboote wetzen wir durch die schmale Gasse, links und rechts Fackeln, Wunderkerzen, über uns Raketen und viele Lichter. Ein Gemisch aus Pulverdampf, Nebel und Atemluft macht die Sicht schwierig. Diese meine ersten Momente von 2010 sind schwer zu beschreiben, ich war viel zu weit vorne und  viel zu schnell, aber ich war wieder dabei, wenn auch in einem sehr eigenartigen Rauschzustand. Wie der Gott der Fledermäuse, so flog ich schwerelos am Ufer der Limmat entlang, wie weisse Schminke so flog mir im Schein der Stirnlampe der Atemnebel der Läufer entgegen. Am anderen Ufer taucht die Fahrradlampe auf, die den Spitzenläufer ankündigt.

Wie sagte Gerhard: „ Ich mag Silvester nicht, denn um ein Uhr gehen alle nach Hause“.  So war es dann auch: als die letzte Rakete über unsere Köpfe flog, verabschiedete sich meine Kondition. Was blieb, waren diese ekelhaften Kieselsteine auf der Laufstrecke, die meine schmerzenden Sehnen wachhielten. Der Ho Chi Ming Pfad in Biel ist dagegen eine Tanzfläche. Getanzt habe ich dann auch: jedesmal wenn meine Fußzehen gegen einen der zahlreichen Steine und Wurzeln stieß, und meine frisch nachgewachsenen Fußnägel zum Bersten brachten. Viele Laufkamerden tanzten in die Büsche, hockten an Zäunen oder hielten ihre Köpfe an Bäume und machten würgende, zombiehafte Geräusche. Aber eigentlich taten sie nur das, was viele andere „normale Menschen“ in dieser Nacht auch taten.

Ja, die Körper sind in dieser Nacht andere Nahrungsmittel gewöhnt, doch es gab nur warmes Wasser, warmes Iso, eiskalte Bananen, glibbersüße Gels und Müsliriegel. Oh hätte ich jetzt diese quitschgrüne Eigenverpflegung von diesem Automaten-Zombie!

Die Zeit rannte,  ich nicht. Das Durchgangslimit bei km 31 mit 3:20 Uhr schaffte ich gerade noch so, da gab nicht nur meine Stirnlampe den Löffel ab. Meine Beine erhielten kein Support vom Glucosespiegel und meine Füße nahmen jeden Stein mit. Wie Frankenstein versuchte ich durch windmühlenartige Armbewegungen mein Fortkommen zu sichern, zum Glück war es stockdunkel.

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Informationen: Neujahrsmarathon Zürich
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