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Laufberichte

Lauf der Geschichte

14.10.07

In einem anderen Bericht habe geschrieben, dass meine Vorfahren aus dem Berner Oberland stammen. Das stimmt nach wie vor, bezieht sich aber nur auf den Namen gebenden Teil der Familie. Doch wie alle Kinder habe ich Vater und Mutter, und auch diese hat eine Herkunft. Somit ist ein anderer Teil meiner Wurzeln im Emmental zu finden, dieser Gegend, deren Namen durch den Emmentaler Käse bekannt ist, diesen mit Käse umwickelten Löchern, deren Ursprungsbezeichnung zu spät geschützt wurde und die nun auf der halben Welt hergestellt werden.

Im Angebot von Schweiz Tourismus ist das Emmental nicht prominent vertreten. Zu wenig spektakulär sind Landschaft und Eigenarten dieses Landstrichs. Die Geschichte hat den Dingen eben einen anderen Lauf gegeben. Die Amischen sind – wegen der religiös-politischen Engstirnigkeit der Vergangenheit - zwar eine große Touristenattraktion, dummerweise aber nicht mehr im Emmental, woher viele ursprünglich stammten, sondern in den USA. Und erdgeschichtlich haben die nahen Alpen einen unübersehbaren Vorteil erhalten, welcher sich auch in den Besucherzahlen manifestiert.

Zu nationaler Berühmtheit kam das Emmental durch das Werk des Schriftstellers Jeremias Gotthelf (1797 -1854), vor allem durch die Verfilmungen, die vor über einem halben Jahrhundert die Schweiz in einen Filmtaumel versetzte. Er beschrieb das Emmental so:

 „Eng begrenzt ist sein Horizont von waldigen Hügeln, an deren Fuß sich unzählige Täler ziehen, von rauschenden Bächen bewässert, die in stillem Murmeln ihre Geschiebe wälzen, bis sie den Schoss der Emme finden.“
Über seine Bewohner schrieb er: „Seinem Lande ähnlich ist der Emmentaler. Weit ist sein Gesichtskreis nicht, aber das Nächste sieht er klug und scharf an; rasch ergreift er das Neue nicht... aber was er einmal ergriffen, das hält er fest mit wunderbarer zäher Kraft. Viel spricht er nicht, Lärm treibt er nicht; aber wo er einmal Hand anlegt, da lässt er nicht ab, bis alles in der Ordnung ist, und wenn er einmal losbricht, so wahre man seine Glieder!“

Gut hundert  Jahre nach Jeremias Gotthelf kam mein Großvater zur Welt. Viel hatte sich in der Zwischenzeit auf den Talterrassen und Eggen dieser Gegend nicht geändert, jedenfalls was ihre Bewohner betrifft. Mein Großvater war ein schweigsamer, drahtiger Mann, der dieser Beschreibung ziemlich gut entsprach.

Nach dem frühen Tod meiner Großmutter half er als Rentner Sommer für Sommer einem Verwandten bei der Sömmerung der Rinder. Dabei legte er täglich unzählige Kilometer einsam zu Fuß zurück, um die Weidzäune zu kontrollieren und zum Vieh zu schauen. Hätte er ein Trainings-Tagebuch geführt, so würde mancher Läufer beim Anblick der wöchentlichen Kilometerleistung erblassen, zumal er die als – so würde man ihn heute bezeichnen – Power Walker zurückgelegt hatte. Später, er war schon weit über Neunzig, half er tageweise bei einer Bergbauernfamilie aus und machte weiterhin seine Spaziergänge. Mittlerweile führte er dabei einen Wanderstock mit; zwei Stöcke brauchte er beim „Walken“– obwohl schon eine Modeerscheinung - auch im hohen Alter nie.

Ich bin sicher, dass er, wäre er sechzig Jahr später zur Welt gekommen, auch Freude am Laufsport gehabt hätte und an Laufsportveranstaltungen  anzutreffen gewesen wäre.

Als mein Großvater noch lebte, fuhren wir regelmäßig zu ihm ins Emmental. Vor bald fünf Jahren starb er, ein paar Monate bevor wir seinen hundertsten Geburtstag hätten feiern können. Seither fehlte ein guter Grund, um in seine Heimat – und ein Stück weit auch meine – zu fahren.

Da kam der Napf Marathon gelegen. Die familiär-geschichtlichen Argumente sprachen eindeutig für eine Teilnahme an diesem Lauf, der zum achtzehnten Mal stattfand.

Am Anfang des Napf Marathons stand eine Bieridee, entstanden an einem gemeinsamen Schlussturnen der Turnvereine Trub und Trubschachen. Die reizvolle, anspruchsvolle Strecke, die Schönheit der Landschaft und die familiäre, gute Organisation haben ihm zu einem festen Platz im Schweizer Laufkalender verholfen.

Da ich erst nach Berlin über eine Teilnahme entscheiden wollte, entging mir das umweltfreundliche Sonderangebot einer kostenlosen Anreise mit der Bahn, welches allen zustand, die sich bis einen Monat vorher angemeldet hatten. In meinem Fall wäre die Anfahrt, ohne Ermäßigungskarte der Bahn, bereits teurer als das Startgeld.

Als Nachmelder nahm ich es mit den Vorbereitungen weniger genau, als wenn ich meinen Startplatz schon bezahlt gehabt hätte. Carbo Loading war mit den Essenswünschen des Restes der Familie nicht kompatibel, und so stand am Samstagabend statt Pasta ein feines Raclette auf dem Menuplan und statt Power Porridge, welches mir ausgegangen und noch nicht ersetzt war, aß ich zum Frühstück Haferbrei ohne zusätzliche Anreicherung.

Der Tag war eben angebrochen, als ich in Trubschachen ankam. Wäre ich mit dem Zug gereist, hätte ich nach dem Aussteigen nur fünfzig Meter bis zur Startnummernausgabe gehen müssen, viel mehr war es aber auch für die Motorisierten nicht.

Eine dichte Hochnebeldecke – im Herbst und im Winter eine typische Wetterlage – zog sich aus dem Mittelland bis weit in die Täler. Der Vorteil dabei war, dass die Morgentemperatur nicht zum Gefrierpunkt sinken konnte. Dennoch brauchte es etwas Überwindung, bei 7 Grad in kurzer Kleidung an den Start zu gehen.

Kurz nach dem Start begann bereits der Anstieg. In einer immer länger werdenden Schlange bewegte sich das Feld auf der asphaltierten Straße den Hang hoch. Hier war der Untergrund noch keine Herausforderung für den einen Läufer, der traditionellerweise barfuß unterwegs ist.

Etwas später, das Feld war schon ziemlich langgestreckt, wünschte mir ein altes Ehepaar am Wegrand eine gute Reise. So werden die Dinge hier eben gesehen.

Mittlerweile war ich nicht mehr unter der Hochnebeldecke, sondern in ihr drin. Die Wasserperlen hängten sich nicht nur in alle Haare und Härchen, sondern kühlten die vom Anstieg erwärmte Stirn auf angenehme Weise. Dann, das Zeichen, dass schon ein ordentlicher Höhenunterschied überwunden war, brach langsam die Sonne durch. Aber kaum wähnte ich mich über dem Nebel, kam ein Abstieg. Während einiger Zeit ging es nun im Wechsel unter und über der Nebelgrenze weiter. An einer Stelle, knapp über dieser Decke, strichen letzte luftige Nebelschwaden über den bewaldeten Grat. Trotz aufmerksamem Blick auf den mittlerweile von Steinen und Wurzeln durchsetzten Untergrund konnte ich auch diese Naturschönheit genießen. Der Anblick hatte etwas Verzaubertes und es hätte mich nicht gewundert, wenn statt eines Läufers plötzlich ein Hobbit vor mir aufgetaucht wäre.

Stellenweise musste ich Acht geben, dass ich nicht in die lehmigen, morastigen Bereiche des Weges geriet. Auch nach langen Trockenperioden ändert sich an dessen Beschaffenheit nichts. Ich war froh, dass ich bei diesen Wetterverhältnissen und nicht im Regen unterwegs war.

Die Distanz war nur alle fünf Kilometer angegeben. Mehr braucht es auch nicht. Mir hat es gereicht festzustellen, dass ich auf den ersten drei Abschnitten gleichmäßig mit einem Schnitt von 6 Minuten unterwegs war. Auch den vierten, bis zum Kulminationspunkt beim Berghotel Napf, konnte ich im gleichen Tempo zurücklegen, obwohl sich mittlerweile die Stelle am Wadenansatz mit Schmerzen bemerkbar machte, wo ich mir am Zermatt Marathon einen Muskelfaserriss zugezogen hatte.

Auf dem Napf, kurz vor der Verzweigung in Durchlauf- und Wechselzone, überholte mich der erste der Team-Läufer, welche eine halbe Stunde nach den Einzelläufern starteten.

Den Moment hier oben genoss ich in vollen Zügen. Bei schönster Sicht auf die ganze Alpenkette und das Nebelmeer im Mittelland, in der milden Herbstsonne, auf dem satten Grün des kurzgeschnittenen Rasens zwischen den zahlreichen uns anfeuernden Ausflüglern hindurch den zweiten Streckenteil in Angriff zu nehmen, setzte einen ungeheuren Energieschub frei.

Wie sehr ich diesen brauchen würde, war mir nach dem Studium des Streckenplans und vor allem des Streckenprofils nicht bewusst gewesen. Auf der Grafik sah es nach einem erholsamen Abstieg mit nur zwei größeren Steigungen aus. Nicht ersichtlich, da nicht so detailliert aufgeschlüsselt, waren die unzähligen kleinen Gegensteigungen auf anspruchsvollen Single Trails, die nicht nur keinen richtigen Laufrhythmus zuließen, sondern in ihrem für mich unerwarteten Auftauchen mentale Knacknüsse darstellten.  Ich fühlte mich fast vierzig Jahre zurück versetzt, als wir im Urlaub auf diesen Hügelkämmen wanderten. Wie oft hatte ich damals meine Eltern wohl mit der Fragerei genervt, wie weit es bis zum Ziel noch sei und wie lange man dafür brauche? Wie weit wusste ich – und das war die momentane Schwierigkeit. Jetzt war ich ziemlich mit mir selbst beschäftigt und damit, dass ich in diesem Gelände nicht zu Fall kam. Die Ausschilderung von Kilometer 25 habe ich nirgends gesehen. Die bisher aber tadellose Organisation mit Verpflegungsposten in kurzen Abständen ließ mich annehmen, dass das Schild sicher irgendwo gestanden, ich es in der Beschäftigung mit mir selbst aber übersehen hatte.

Mein Vorrat an Energy Gel neigte sich bereits dem Ende zu und obwohl ich genügend Energie in den Beinen verspürte, stellte sich im Magen ein Hungergefühl ein. Das war der kleine Unterschied zwischen Haferbrei und Power Porridge. Von nun an wagte ich es deshalb, das angebotenen Sportgetränk, welches ich bisher erst nach Läufen ausprobiert hatte, zu trinken und dazu Banane in mich hineinzustopfen.

Der Blick auf die Uhr bei Kilometer 30 war ernüchternd: Auf den letzten zehn Kilometern war ich nur noch mit einem Schnitt von siebeneinhalb Minuten unterwegs. Ohne die Strecke zu kennen, hatte ich mir ausgerechnet, dass ich problemlos unter 4:30 ins Ziel kommen sollte, da man für diese Strecke einen Richtwert von Flachmarathon-Zeit plus eine Stunde nehmen könne. Mit den restlichen zwölf Kilometern und einem weiteren Gegenanstieg vor mir, glaubte ich nicht mehr so recht an die Möglichkeit dies zu schaffen. Wenigsten hatte sich mittlerweile der Nebel in den unteren Lagen aufgelöst und so konnte ich wenigstens diesen wunderbaren Herbsttag auf mich wirken lassen.

Die folgenden fünf Kilometer waren gnädig und die letzte große Steigung war zwar lang gezogen aber sanft. Den beiden Halbmarathon-Läuferinnen, die mich hier überholten, konnte ich nicht mehr folgen. Zumindest nicht, solange es bergauf ging. Auf den letzten vier Kilometern kamen sie wieder langsam in  Sichtweite und zur einen konnte ich nochmals aufschließen. Aus ihrem Windschatten heraus setzte ich einen halben Kilometer vor dem Ziel zu meinem obligaten Schlussspurt an. Mit einem Schnitt von fünf Minuten auf dem letzten Streckenteil schaffte ich sogar die rechnerisch zu erreichende Zielzeit: Marathon-Bestmarke plus 58 Minuten.

Wie alles andere, war auch die Infrastruktur nach dem Lauf bestens organisiert. Zugute kam den Organisatoren dabei, dass sich unter der Mehrzweckhalle, in welcher Garderobe, Toiletten und Duschen sind, eine Zivilschutzanlage befindet. Deren sanitären Einrichtungen standen uns ebenfalls zur Verfügung, und noch nie habe ich nach einem Lauf so warm geduscht. Warm ist nicht das richtige Wort, heiß muss man das nennen. Es war nicht ganz einfach, sich den Schaum vom Körper abzuspülen und sich dabei nicht selbst zu pochieren.

Zurück beim Zielgelände, sah ich auf dem Aushang der provisorischen Rangliste, dass der „Läufer-Pfarrer“, welcher mal in unserem Lauftreff mittat (s. Kurzbericht Rheinfall-Lauf im Weblog), im Teambewerb auf den zweiten Rang gelaufen war - dabei hatte er mir am Morgen noch gesagt, dass er leider nicht mehr auf gleichem Niveau laufe wie damals. Die Maßstäbe sind eben verschieden…

Von meinem Vorhaben, nach dem Duschen und einer zünftigen Bratwurst mit Pommes umgehend nach Hause zu fahren, wich ich ab, damit ich meinem ehemaligen Laufgefährten bei der Siegerehrung gebührenden Applaus spenden konnte. Dieser Entscheid hatte den positiven Nebeneffekt, dass ich noch eine Stunde länger den herrlichen Sonnenschein genießen konnte, während meine Familie daheim den ganzen Tag unter dem hartnäckigen Nebeldeckel blieb. Im Nachhinein konnte ich also einen weiteren Grund nennen, warum es sich auch lohnen kann, mich an einen Lauf zu begleiten…

In der Schweiz knüpft man nicht schnell Kontakte. Im Emmental, wo der Blick zu den nächsten Hügeln – oder von ihnen herab auf den Nebel oder zu den Alpengipfeln – reicht, geht es noch gemächlicher. Gesprochen wird sowieso nur das Nötigste und von klaren Aussagen distanziert man sich tunlichst. Es sei denn, sie stehen im Zusammenhang mit populistischen politischen Denkmustern, was aber eine Erscheinung der Neuzeit ist. Sonst pflegt der Emmentaler zu sagen „ es möchte einen dünken“ und versucht damit seine Meinung kundzutun.

Umso erstaunter war ich, als ich beim Warten auf die Siegerehrung mit einer netten älteren Dame ins Gespräch kam. Anlass waren meine halbbatzigen (ein wunderbar treffender Ausdruck aus dem Schweizer Wortschatz) Dehnungsübungen. Mit einer erstaunlichen Offenheit sagte sie mir, dass sie es bedaure, dass es solche Anlässe noch nicht gegeben habe, als sie jung gewesen war. Sie hätte mit Sicherheit auch teilgenommen. So habe sie es „erst in den letzten Jahren und nur“ zur Teilnahme an Sponsorenläufen für Behinderte geschafft und dabei jeweils „nur“ sechs Kilometer in einer Stunde zurückgelegt. Aber es gebe im Emmental auch schöne lange Wanderungen (was mir aus meiner Kindheit bekannt ist). Eine davon habe sie kürzlich mit einer Gruppe auf dem Täuferweg unternommen.

Und damit waren wir bei dem ernsten Thema, dessen im Emmental in diesem Jahr mit dem Täuferjahr gedacht wird. Sie meinte, es sei schon übel, was damals geschah und sie sei froh, dass dieses Kapitel der Geschichte, für das sie sich moralisch mitschuldig fühle, endlich aufgearbeitet worden sei.
Und da war es wieder: Das innere Gesicht dieser Landschaft und seiner Bewohner. Oder in der Beschreibung Gotthelfs ausgedrückt: „…aber wo er einmal Hand anlegt, da lässt er nicht ab, bis alles in der Ordnung ist …“

Solche Begegnungen, zu denen mir die Laufveranstaltungen eine Plattform bieten, sind es, die zusammen mit dem Laufen selbst diese Anlässe zu besonderen und bereichernden Erlebnissen lassen werden, auf die ich schlecht verzichten kann.

Übrigens: Am Anfang und am Schluss des Berichtes habe ich die Täufer erwähnt. Der Vollständigkeit der Familiengeschichte halber muss ich deshalb anfügen, dass die Großmutter väterlicherseits einer ausgewanderten Täuferfamilie entstammt. Ob es Seekrankheit oder sonst ein Grund war, weshalb sie sich nicht in die Vereinigten Staaten absetzten, sondern sich zuerst in Frankreich, dann in Deutschland niederließen, entzieht sich meinen Kenntnissen. Mir ist es aber recht so. Der Gedanke, irgendwo in Pennsylvania in handgestricktem Lauf-Shirt, handgewebter Leinenhose und knöchelhohen Arbeitsstiefeln dem Laufsport zu frönen - so fern man mich überhaupt ließe, ist nicht der, der meinen an Funktionsbekleidung gewohnten Körper in Wallung bringt.

 

Informationen: Napf-Marathon
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