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Laufberichte

Freiheit gebucht

 
Autor: Joe Kelbel

Wir biegen ab in den Boulevard Mohamed VI, mein liebster Aufenthaltsort. Man kann dort sehr schön zwischen den weissen Rosen sitzen und abends den bunten Wasserspielen vor der Mall zuschauen. Dies ist das Bellagio von Las Vegas in klein. 

Am Marathontag wird die Bewachung deutlich verschärft: je zwei Soldaten und ein Polizist beobachten das Geschehen, in den Seitenstrassen stehen Mannschaftswagen.

Wir laufen schnell, sehr schnell, links das Kongreßzentrum, rechts die Oper, Mittelpunkt der Filmbiennale. Vor zwei Monaten geriet ich irgendwie zwischen die Stars und Sternchen, hatte so ein Erlebnis wie aus 1001 Nacht. Wer eigentlich ist Käthe Blänschett?

Vor uns der Bahnhof, schön, majestätisch, sauber und sicher. Wir sind auf der Avenue Hassan II, benannt nach dem Vater des jetzt amtierenden Königs. Vor dem Ibis ist der Busbahnhof der staatlichen Busgesellschaft Supratours. 12 Euro kostet von hier aus eine Fahrt nach Agadir, 14 nach Zagora.

Bei den Marathonläufern sind 90 % europäischer Herkunft, beim HM, der später startet, ist es umgekehrt. Das Startgeld ist mit 70 Euro (für Ausländer) recht hoch, jedoch wird viel Verkehrspolizei eingesetzt. Wer Marrakesch an einem normalen chaotischen Tag kennt, der kann sich nicht vorstellen, wie es verkehrsmäßig jetzt zur Ferienzeit aussieht. Wir haben freie Bahn, voll die Freiheit auf 15 Meter Breite. Aber entlang der Strecke stauen sich die Abgase der wartenden Fahrzeuge, nervig ist das ständige Hupen.

Bei km 5 kommen wir in die Menara Gärten. Die Stämme der uralten Olivenbäume sind gekalkt, jetzt dienen sie als Pinkelstelle, später werden hier wieder Laken gespannt. An der Strecke gibt es keine Dixiklos, aber entlang der breiten Strassen reichlich Deckung. Leider werden die Büsche in Hüfthöhe gestutzt.

Wir sind nicht in Köln, dies ist nicht Araberland, sondern das Land der Berber, angenehme Leute, deren Bezeichnung vom römischen Wort „Barbar“ für die Germanen abstammt. Genetische Untersuchungen ergaben, daß etwa 5000 Germanen im Zuge der  Völkerwanderung über die Strasse von Gibraltar kamen. Es gibt noch viele germanische Wörter: Bekka ist der Bäcker, da! heisst da! Verpflegungsstellen gibt es alle 5 km. Es gibt Wasser und Orangen, mehr nicht.

Nach dem Menara Garten geht es wieder auf die Mohamed VI, jetzt aber Richtung Süden, zum schneebedeckten Atlas Gebirge. Dieses Jahr gibt es nicht viel Schnee, sonst wäre ich morgen nach Oukaimeden zum Skifahren gefahren.  Bei km 10 geht es durch die Agdalgärten. Im 12. Jahrhundert lernten die Soldaten hier im Wasserbecken Dar al Hana schwimmen, danach ging es zum Feldzug nach Spanien. Die Agdalgärten sind am Freitag und Sonntag geöffnet, Eintritt frei. Beste Trainingsstrecken.

Km 15: Im typischen Marrakshi Distrikt Sidi Youssef Ben Ali spielt im gleichnamigen Fußballstadion der sagenhafte Zweitligaclub Olympique Marrakech. Der Lauf geht wieder nach Norden.

Entlang des Wadi Issy befindet sich die ärmliche Gegend von Marrakech. Gräberfelder. Die Müllhalden im Flussbett sind fast beseitigt worden. Seit Jahren wird an der Kanalisation gearbeitet, jahrelange Großbaustelle hier.

Die schnellen HM-Läufer stoßen zu uns, sie haben jetzt etwa 13 km hinter sich, wir knapp 20. Es geht entlang der Route des Reparts, die Strasse der Zinnen, so benannt nach der Befestigung der Medina. Die Stadtmauer ist aus rotem Lehm und Kalk auf einem Holzgerüst gebaut, nicht kanonenresistent, aber wehrhaft gegen ungebetene Zuwanderer. 22 Tore geben Einlaß in die Medina. Jeder Stamm hat sein eigenes Tor, durch das er die Altstadt betritt, die Tore (Bab) tragen den Stammesnamen. 19 km lang, 8 Meter hoch, 200 Türme, wahrlich beeindruckend.

Entlang der Mauer sind sechs der Mausoleen der Sieben Heiligen von Marrakesch. Nicht leicht zu erkennen, eher daran, dass einige Frauen vor dem Eingang Glücksbringer (Baruk) verkaufen. Die Segenskraft (Baraka) der Heiligen (Sidi) geht bei der Wallfahrt auf die Gläubigen über, der Glücksbringer ist nur Erinnerung. Barak heisst übrigens „Der Gesegnete“. Mubarak heisst: „Der Gesegnet wurde“ und eine Baracke ist ein Haus, welches das Zeitliche gesegnet hat.

Zwischen uns und der Mauer wird Fußball gespielt, oder der Platz dient als Parkplatz oder als Taxistand für die Überlandtaxis (Grand Taxi). Tagsüber läuft der Verkehr auf der Umgehungsstrasse rund um die Remparts recht gut, doch abends gibt’s hier Chaos. Nun sind die Einfallstraßen abgesperrt. Bis zum Horizont stauen sich die Fahrzeuge. Es wird gehupt, als hätte man kein Radio. Wer würde bei uns einen Polizisten anhupen? Ich habe es mir erklären lassen: Die Fahrer in der ersten Reihe sehen offensichtlich nichts, weil sie zu dicht an der Ampel oder am Polizisten stehen, deswegen muss gehupt werden.

 


 
Mir geht’s nicht gut, habe Magen- und Feinstaubprobleme. Wir sind im Töpferviertel, die Ware stapelt sich meterhoch. Schnell in einen Kiosk, eine Cola kaufen. Leider nicht gekühlt. Nein, Bier gibt es nicht entlang der Strecke.

Ich bin auf 4 Stundenkurs, die Laufstrecke ist breit.  Das wäre ich auch gern, geht nicht, also bin ich schnell. Die Halbmarathonläufer laufen nun in die Medina, das wäre spannender als meine  Strecke jetzt. Wir biegen ab nach Osten. Der Aufpasser an der Marathonweiche brüllt hinter mir her. Ich brülle „Labbas! Labbas!“-  „Gut-Gut“, das scheint passend zu sein. Ich bin durch. Als er mich nicht mehr sehen kann, fange ich an zu marschieren. Unpassend, jetzt wo sehr viele Halbstarke entlang der Strecke sitzen.

Etwa bei km 26 biegen wir  in die Palmerai ab, einer Oase, aus über 100.000 Palmen. Angeblich hat man in den letzten Jahren nochmals 300.000 gepflanzt. Die Sage erzählt, arabische Krieger unter Yussouf Ben Tachfin hätten hier Dattelkerne ausgespuckt. In Wirklichkeit wurde die Oase vor 1000 Jahren gepflanzt und unterirdisch bewässert. Zwischen den Palmen sind Reitkamele und Quads für Touristen geparkt. Wer nicht in den teuren Resorts hier wohnt, der kommt mit dem Doppeldecker „Marrakech Romantique“, um über die Dromedare herzufallen. Es sind marokkanische Touristen.

Wir sind dieses Jahr unglaublich viele Marathonläufer, jeder beginnt nun zu schwächeln. Ich habe mich einigermaßen gefangen, kann viele Kontrahenten hinter mir lassen. Die Sonne brennt, Temperatur 25 Grad. Unglaublich trocken ist die Luft. Wenn der Mundraum trocken ist, dreht sich jeder Gedanke nur ums Trinken, sehr unangenehm, denn im Magen blubbert gleichzeitig das Wasser. Aber die Strecke begeistert mich, ich habe die gesamte Breite der Strasse für mich.

 

 

Nach etwa 8 Kilometern endet dieses schöne Stückchen Marrakesch, das dieses Jahr ungewöhnlich ausgedörrt ist. Mein Gesicht riecht nach Sonnenbrand, Kappe vergessen. Mit Klebeband hatte ich mir ein Stirnband gemacht, das löst sich jetzt auf. Morgen wird der Friseur weiße Stellen freilegen (2 Euro).

Jetzt beginnt die N9, die über den Hohen Altas nach Zagora führt. Unsere Spur ist komplett gesperrt für Fahrzeuge, wir könnten irgendwo auf einer Breite von 30 Metern laufen, doch wir krebsen am Rinnstein entlang. Die Mainzer Landstrasse ist nichts gegen diese Straße. Meine Mitstreiter sehen schlecht aus. Vor mir taumelt einer, seine Frau versucht ihn aufzufangen. Ich kann einige Worte polnisch, die sind aber unpassend. Im Ziel ist ein norwegischer Halbmarathonläufer gestorben. Er stand mit seinen Freunden hinter der Absperrung, erzählte  über seinen Lauf, da bekam er Krämpfe. Der Notarzt hat vergeblich versucht, seinen Mund zu öffnen, um die Zunge herauszuziehen.

Ich krampfe nicht, ich kämpfe. Laufe. Ich laufe zur Stadt, ich rieche die Stadt, die Abgase der wartenden Autos. Ich rieche meine verbrannte Haut, das Wasser der weggeworfenen Plastikflaschen auf dem flimmernden Asphalt. Keine Ausrede mehr, um zu marschieren, der Weg ist frei, die Beine schweben.

Etwa bei km 37 kommen wir bei Marjane vorbei. Das ist keine Dame, die halbnackt und fahnenschwingend auf den Barrikaden in Paris steht, sondern die Supermarktkette des Königs. Dort bekommt man alles, auch kühles Bier. Links  eine Tankstelle. Nein, ich brauche nichts für die eiskalte Cola zu zahlen, der Tankwart steht noch nicht mal auf.

Das Verkehrschaos ist unmenschlich. Von den hiesigen Polizisten hatte ich nie viel gehalten, doch  heute leisten sie Schwerstarbeit, halten dem Druck der Massen stand, um uns zu schützen.  Respekt!

Der Bahnhofskreisel ist der größte in Marrakesch, es wird gepfiffen, gebrüllt und gerudert. Die Polizei kämpft mir den Weg frei. Auf der Mohamed VI ist schon die Fahrspur freigegeben, der Fahrzeugdruck unangenehm spürbar.

Viele HM-Läufer stehen am Streckenrand, peitschen mich nach vorne.Vor mir der schneebedeckte Hohe Atlas. Dann biege ich nach links ab, auf die Zielgerade. Es gibt viele Tore vieler Sponsoren. Ganz da hinten, beim letzten Tor, ist die Zeitnahme.

Benhali Aziz, der Halbmarathonläufer, dessen Nummer ich jetzt über die Linie trage wird sich freuen. Ob Benhali jemals einen Marathon laufen wird, weiß ich nicht. Die Zeit, die ich ihm heute erlaufe, wird er niemals mehr toppen. 

Auf der Ziellinie Wiedersehen mit Karim. Ich kenne ihn von den 235 km in Kambotscha, seine Frau macht das Zielfoto von uns. Wenig später, die Bierdose in der Hand, sitze ich auf der Mohamed VI  vor dem Borjel Arab und beobachte die letzten Läufer. Nein, bei „Borjel“ wurde kein Buchstabe verwechselt, obwohl der rote Eingang das vermuten lässt. „Borjel“ heisst Turm und es ist der bekannteste Nachtclub von Marrakesch. Die letzten Läufer kommen nach 6 Stunden ins  Ziel, zwei junge Damen, Hand in Hand.

Wie sagte Anja heute Morgen zu mir: „So hätte ich mir Marrakesch nie vorgestellt, das ist ja der absolute Wahnsinn!“ Der Wahnsinn wird mit unvergesslichen Nächten und tollen Geschichten belohnt, Geschichten, die nur die Tochter des Wesirs aufschreiben kann.

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Informationen: Marrakech Marathon
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