Ticino - das klingt schon nach Sonne, Süden, Meer, vor allem aber nach bella Italia. Schein und Sein liegen ja bekanntlich oft recht weit auseinander. Aber wenn man es mit den Fakten nicht ganz so genau nimmt, dann liegt man hier gefühlsmäßig schon ganz richtig.
Ticino, in unseren Breiten besser bekannt als Tessin, ist zwar nicht ganz Italien, aber schon fast: auf drei Seiten von Italien umzingelt, italienisch sprechend und italienische Lebensart pflegend ist man hier Italien emotional näher als dem politischen Mutterland. Dieses nimmt man eher in Nuancen wahr: bei den Autokennzeichen, der überaus gepflegten Infrastruktur, dem properen Erscheinungsbild der Ortschaften, tja, auch bei den Preisen .... die Schweiz eben.
Ticino ist eine der weniger bekannten Facetten dieses einerseits kleinen und doch so vielgesichtigen Landes im Herzen Europas, das wir gedanklich viel zu sehr auf Berge, Hochfinanz und Schwyzer-Dütsch reduzieren. Wer käme schon auf die Idee, dass sich in diesem Winkel der Schweiz die Palmen im klaren Wasser des Lago Maggiore (dem imaginären “Meer”) spiegeln, dass Sonne und Wärme selbst noch im November ein unbeschwertes dolce far niente im Freien ermöglichen? Was geografisch betrachtet an sich kein Wunder ist: Das Ticino liegt südlich des Alpenhauptkamms und daher klimatisch bereits im mediterranen Einflussbereich. Und mit gerade einmal 193 m üNN befindet man sich am Lago Maggiore am tiefstgelegenen und wärmsten Punkt der Schweiz.
Jedenfalls findet man hier auch noch nach dem in unseren Breiten üblichen Ende der Marathonsaison optimale Rahmenbedingungen und eine reizvolle Gelegenheit, die Saison zu verlängern. Dank der Baukunst Schweizer Straßenbauingenieure ist das Ticino /Tessin auch nicht mehr nur auf langwierigen, witterungsanfälligen Schleichwegen erreichbar, sondern bequem über Autobahnen und Schnellstraßen via Chur und St. Bernardino- oder Gotthard-Tunnel.
Der Start- und Zielpunkt des Marathons ist das eher unscheinbare Örtlein Tenero am Nordufer des Sees, eine Gemeinde im Bezirk des sehr viel berühmteren Locarno. Das weitläufige, moderne Centro Sportivo Nazionale della Giovento in Tenero, anlässlich der Fußballeuropameisterschaft 2008 “geadelt” als Trainingsstätte der deutschen Fußballnationalmannschaft, ist das logistische Zentrum des Marathons. Hier bekomme ich am Samstagnachmittag meine Startnummer.
Ansonsten wird nicht viel Aufhebens um den Lauf gemacht: keine Laufmesse, keine Pastaparty, kein sonstiges Rahmenprogramm. Dennoch: Die etwa 1.300 Meldungen für die Halb- und die Volldistanz, davon etwa 160 Deutsche, sprechen ebenso für sich wie die Tatsache, dass sich die Veranstaltung heuer zum 29. Mal jährt. Für die Pastaparty finde ich eine attraktive Alternative im Restaurant “Manora” schräg gegenüber dem Bahnhof von Locarno: Nudeln und Saucen kann man hier nach persönlichem Gusto zusammenstellen und sogleich live zubereiten lassen, und das zu einem Preis, der einem noch nicht den Schweiß aus dem Poren treibt. Überhaupt: Locarno ist als Stadtquartier ohnehin die erste Wahl.
Locarno - von diesem Ort haben schon viele etwas gehört, ohne spontan sagen zu können, woher. So manchem dämmert zumindest aus lange vergangenen Schulzeiten, dass das Fach Geschichte der Quell der Erinnerung sein könnte. Und so ist es auch: Weltpolitische Bedeutung hat das Städtchen anno 1925 durch die sogenannten Locarno-Verträge erlangt, die dem Deutschen Reich seinerzeit die Aufnahme in den Völkerbund ermöglichten. Genützt hat es bekanntlich nicht viel.
Bis ins frühe Mittelalter reicht die Historie der Stadt zurück, deren Name übrigens dem Begriff “Leocarni” (lateinisch: Löwenfleisch) entlehnt sein soll. Viele Jahrhunderte bestimmten mächtige italienische Adelsfamilien die Geschicke der als Handelszentrum aufblühenden Stadt, ehe vor ziemlich genau 500 Jahren die Eidgenossen die Hoheit erlangten. Die italienische Prägung blieb allerdings bis heute erhalten.
Das Herz der Stadt ist die Piazza Grande, eingerahmt von pastellfarbenen Fassaden und Laubengängen, überragt vom mittelalterlichen Torre del Commune und erfüllt vom bunten Leben in den Straßencafes und Geschäften. Außergewöhnlich ist die Pflasterung mit großen, runden Flusskieseln. Geradezu klischeehaft erfüllt sie die Vorstellung von einer italienischen Bilderbuchpiazza. Von hier zweigen die winkeligen Gassen der Altstadt ab. Kaum zu glauben ist, dass die Piazza einst direkt an den See grenzte, aber die Aufschwemmungen der Maggia verlagerten den Platz immer weiter weg vom Ufer.
Ein weiteres mittelalterliches Highlight der Stadt ist das Castello Visconteo am Rand der Altstadt, dessen Optik die Herzen von Ritterburgenfans höher schlagen lassen dürfte, obwohl von der ursprünglichen Wehrburg, einst von den italienischen Visconti-Familie im 14. Jh. errichtet, nur mehr ein Fünftel erhalten ist. Fast schon ein Muss ist ein Abstecher zur barocken Wallfahrtskirche Madonna del Sasso, im Stadtteil Orselino hoch über der Stadt auf einem Felssporn thronend und bequem mit einer alten Standseilbahn zu erreichen. Selbst wer mit Kirchen und Kultur wenig anfangen kann, sollte sich diesen kleinen Ausflug schon wegen des Bahnfahrterlebnisses und des besonderen Panoramas nicht entgehen lassen.