marathon4you.de

 

Laufberichte

Nicht erwünscht, nur geduldet

17.01.10
Autor: Joe Kelbel

Man muss ja nicht immer ein Riesengedöns um einen Marathon machen. Oft gibt es die Möglichkeit, direkt vor der Haustür einen zu laufen. Manchmal erst auf den zweiten Blick erkennbar: Mörfelden-Staffelmarathon.

Die Leichtathletikgemeinschaft Mörfelden richtet hier einen Marathon aus, den sich 4 Läufer teilen. Letztes Jahr gab es heimlich 4 Einzelkämpfermeldungen, allerdings konnte damals nur Daniel finishen. Dieses Jahr sind enorme 160 Staffeln gemeldet, dazwischen schon deutlich mehr Einzelkämpfermeldungen. Unter ihnen auch der Joe. Der erste Satz des Stadionsprechers richtet  sich auch gleich an uns: „ Einzelkämpfer sind nicht erwünscht, allenfalls geduldet!“ Daß ich mir aber für 10,61 km nicht die Laufschuhe anziehe, ist  jedem Leser klar.

Aber auch ich weise hiermit ausdrücklich darauf hin, daß nur Läufer geduldet werden können, die absolut erfahren sind. Die Strecke ist zwar eben, aber spiegelglatt. Wie im letzten Jahr hat es auf die geschlossene Schneedecke geregnet. Wie im letzten Jahr sind die Schuhe schon vor dem Start klatschnass, dazu kommt der Dauerregen von oben. Es gibt keinerlei Verpflegung auf der Strecke, abgesehen von ein wenig warmen Tee im Stadion. Zwar gibt es drei Streckenposten, doch gerade auf den  letzten 2 Runden ist es so einsam, daß sogar ein Rehbock keine Angst hat, mit seinen 6 bis 8 Gespielinnen nebenherzulaufen. Wer hier unterzuckert, hat ein verdammt großes Problem. Wie gesagt: Es bleibt ein Staffellauf, und 10 km-Läufer brauchen eben keine Verpflegung.

Mörfelden ist uralt, sehr uralt. Doch die jüngere Geschichte gab ihr ein anderes Bild: Ursprünglich lag der Frankfurter Flughafen  in der Stadt Frankfurt, im Ortsteil Bockenheim, am Rebstockbad, wo jetzt die Parkplätze für die Teilnehmer des Frankfurt Marathon sind.  1933 wurde dann der jetzige Flughafen gebaut, 1934 die A 3, 1935 die A 67 und  nun liegt  Mörfelden, die Schlafstadt für Piloten und Stewardessen, mitten zwischen diesen Großprojekten. Geblieben ist Wald, viel Wald, und eine Retortenstadt, die sich um  wunderschöne Fachwerkhäuser gruppiert.

Die Strecke ist ein  Rundkurs, mit 19 Meter Höhenunterschied, die im Waldstadion anfängt und endet. Sie führt über Fußwege durch den Mörfelder Wald, dem ehemaligen exklusiven Jagdgebiet der mittelalterlichen Kaiser. Die Parkplätze vor dem Stadion sind schnell voll, doch auch hier wird wieder geduldet, nämlich das phantasievolle Parken.

Im Eingangsbereich des Sportlerheims kämpfe ich mich durch den warmen „Duft“ der aus den Sanitäranlagen wabert und frage mich, warum 10 km-Läufer schlimmer als Marathonläufer .... aber egal, die Kamera macht mir Sorgen, die will nicht. Ich will auch nicht. Heute ist eh kein guter Tag. Ich hatte nicht schlafen können, das kommt schon mal vor einem Lauf vor, aber diesmal kamen ganz dunkle Bilder hoch ....

Sehr schnell hatte ich meine vier Startnummern, viermal die 95, aber in dem Moment ist mir noch nichts aufgefallen. Stevie meldete noch 15 Minuten vorher nach, gerade noch Zeit für ihn, zwei fette Stückchen Torte zu verdrücken.  Etwa zehn Einzelkämpfer sind wir, man kennt sich.

Witzig sind die „Sitzkissen“ aus Schnee, die auf den wenigen Sitzplätzen am Stadion liegen. Hier deponiere ich eine große Verpflegungstüte und versuche meinen Transponderchip zu befestigen. Das Klettarmband ist gut, aber ich bin vollkommen neben mir und kriege das Ding nicht befestigt.

Viel zu schnell erfolgt der Start, wir  Durchläufer hätten gern mehr gequatscht. Der Schneematsch auf der Tartanbahn spritzt hoch auf, als wir durchpflügen, die Schuhe quitschen vor Nässe, dann geht es auch schon in den Wald. René Strosny überholt mich, auch er ein heimlicher Einzelkämpfer. Es ist sein erster langer Lauf seit 2 Monaten. Viele der 10-km-Läufer haben Spikes an den Schuhen, ich dachte der Regen hätte den Schnee beseitigt und die flachen Laufschuhe angezogen, schlechte Wahl.

Schnurgerade ziehen sich die Schneisen durch den Wald. Ich  erkenne zahlreiche Hügelgräber aus der Bronze- und Eisenzeit zwischen den Bäumen. Die mehr als 70 Grabhügel (so meine jetzige Recherche) sind allerdings in den Jahrtausenden mehrfach durchwühlt worden. Grund der Ansammlung ist die wichtige Ost-West-Handelsstrasse, die hier vor 4000 Jahren durch die hochwasserfreie Dünenlandschaft des Maines führte. Man begrub reiche Händler, Führer und angesehende Personen einfach entlang der Handelsstrasse.

Wenn man dies weiss, dann kann man seine Gedanken schweifen lassen, ansonsten bieten nur die zwei Begegnungsstrecken ein wenig Abwechslung. Auf den ersten zwei Runden bin ich  damit beschäftigt, Getränke zum Kilometerpunkt 5 zu bringen. Das muss für die schnellen 10-km-Läufer witzig aussehen, wenn so ein schwerer Läufer wie ich auch noch Verpflegung durch den Wald schleppt. Sonja jedoch bewundert meine Transportkünste und erzählt mir wovor sie fortläuft. Ja, wir müssen noch viel laufen!

Daniel schliesst zu mir auf, als ich gerade eine Bierflasche transportiere. Wir lachen ein wenig, weil Bernhard heute nicht hier ist, er hat keinen Führerschein mehr. Und dann beglückwünscht mich Daniel zu meiner passenden Startnummer. Erst da begreife ich, daß es doch mein 95. Marathon ist, doch meine Stimmung bleibt düster.

Ich muss ihn ziehen lassen, im Nebel verschwindet seine Silouette. Ich bin allein. Wenn es mir gelingt, meinen schwermütigen Kopf zu heben, dann schaue ich die langen, einsamen Schneisen entlang, die grau-weiß in deprimierende Unendlichkeit führen. Ich bin komplett durchnässt, mir ist kalt, so kalt, unendlich kalt. Meine Füße schlurfen durch den dreckigen Schneematsch, rutschen zurück, knicken weg  und erzählen bei jedem Schritt von unbeschreiblichem Leiden. Ich versinke im Grau der Melancholie. Wenn es nicht so kalt wäre, würde ich jetzt heulen.

Bald begreife ich, daß niemand mehr hinter mir ist, niemand mehr vor mir, niemand mehr bei mir. Ich begreife, dass ich nicht etwas beenden will, was ich  beenden soll. Wenn dir etwas so ans Herz gewachsen ist, wenn du ohne nicht mehr leben kannst und sollst dann aufhören, dann stehst du vor dem Ende.

Das Ende  ist  im Waldstadion. Als Letzter aller Läufer beendete ich  diesen Lauf, Schmerz im Körper und vor allem in der Seele. Geduldet, nicht erwünscht. Kein Vorwurf an den Veranstalter, das war perfekt - passend zu meiner Gemütslage. Mit meinem 95. gefinishten Marathon endet erst mal eine wunderschöne Laufzeit. Ich  verabschiede mich hiermit von allen treuen Lesern bis auf  Weiteres.Es gibt von mir weitere Berichte -  später. Nach überstandener OP bekommt Ihr wieder spannenden Geschichtsunterricht  aus diesem unserem Land.

 

 

Informationen: Marathon-Staffellauf SKV Mörfelden
Veranstalter-WebsiteErgebnislisteHotelangeboteOnlinewetterGoogle/Routenplaner

 
NEWS MAGAZIN bestellen
Das marathon4you.de Jahrbuch 2024