Knastmarathon. Denkpause. Außen rum oder wie? Nein, innendrin - im Knast. Wie bitte? Wieviel Kilometer? 42 in 24 Runden? So ein Schmarrn - warum machste denn das? Zugegeben, ich kann das Unverständnis derer verstehen, die zum ersten Mal vom Knastmarathon hören. Obwohl es doch gerade schwer populär ist, Marathon am möglichst ausgefallenen Ort zu laufen. Marathon im Bergwerk? Längst ein alter Hut. Verkleidet und alkoholisiert im französischen Weinberg? Hat auch schon jeder gemacht. Marathon am Nordpol? Am Everest? In der Wüste, auf der Chinesischen Mauer, im Zeittunnel?
Doch der Knastmarathon hat eine ganz andere Botschaft, denn die Kulisse lebt: Die Inhaftierten laufen mit. Seit 2007 bietet der SV Kiefer, der Sportverein der JVA Darmstadt, den Gefangenen jedes Jahr ein sechsmonatiges Marathonprojekt mit einem gezielten Marathontraining an. Trainiert wird innerhalb des JVA-Geländes unter den Augen und Kommentaren der nichtbeteiligten Mitgefangenen, was ich eine beachtliche mentale Leistung nenne. Logisch, dass der Marathon ebenfalls innerhalb des Geländes stattfinden muss. Auch Läufer aus den drei benachbarten JVAs sind eingeladen.
Endlich habe ich es geschafft, mir eines der begehrten Tickets zu sichern. Die Anmeldung öffnet im November, und die 180 Plätze für externe Teilnehmer sind ruckzuck weg. Nicht einmal das Formular für die polizeiliche Auskunft kann da abschrecken. Ich bin sehr gespannt, was wir erleben werden.
Wer schon einmal beim Knastmarathon dabei war, der berichtet nur Positives. Doch auch die ablehnende Haltung vieler Läufer kann ich verstehen. Warum willst Du mit Verbrechern laufen? Nein, ich will nicht per se mit Verbrechern laufen, das ist nicht mein Antrieb. Beim Laufen sind wir alle gleich und es ist egal, ob Du Chirurg, Briefträgerin, Koch oder Marketingfuzzi bist. Oder ein verurteilter Straftäter - wenigstens für diese 4 oder 5 Stunden. Wir sollten da möglichst vorurteilsfrei hingehen, oder eben zuhause bleiben.
Für die Inhaftierten bietet der Sport viele Möglichkeiten. Körperliche Fitness, Stressabbau, Verbesserung der Frustrationstoleranz, Ausdauer ... sind klar, das kennen wir ja alle. Aber das Laufen kann auch eine Maßnahme im Hinblick auf eine spätere Resozialisierung sein. Wer sich später draußen einer Laufgruppe anschließt, kann schneller Kontakt und Anschluss finden und seine Freizeit gestalten. Ich weiß nichts über Rückfallquoten von Straftätern, glaube aber fest daran, dass der Mensch durch sein Umfeld geprägt wird, das er sich vor allem in jungen Jahren vielleicht auch nicht immer aussuchen kann. Sicher wird ein bißchen Joggen einen Schwerverbrecher nicht in den Traum aller Schwiegermütter verwandeln, aber vielleicht lebt es sich gedanklich ganz gut mit ein paar der möglichen anderen Varianten.
Gut. Soviel zur Theorie. Es ist 8:30 Uhr, Anja und ich stehen mit einem versprengten Grüppchen Buntgekleideter vor einer rostroten Metalltür neben dem großen Gefängnistor. Kameras, Mobiltelefone, Alkohol, Waffen und Drogen müssen leider draußen bleiben. In Fünfergruppen werden wir nach und nach eingelassen. Was wird uns erwarten? Zuerst müssen wir uns ausweisen. Unsere Namen werden auf den Listen für Läufer und Begleiter abgehakt. Der Ausweis wird einbehalten, dafür erhalten wir ein nummeriertes gelbes Papierbändchen um den Arm. Weiter geht's zur Taschen- und Personenkontrolle, wie am Flughafen. Nur dass das Personal hier deutlich freundlicher ist.
Danach werden wir angehalten, uns auf im Viereck aufgestellte Bierbänke zu den anderen zu setzen. Eng nebeneinander, wobei die Beine des einen in die eine Richtung, die des nächsten in die andere Richtung zeigen müssen. Die Taschen müssen ordentlich zwischen den Füßen abgestellt werden. Jetzt kommt "Drogenkontrolle mit Hund", wir werden etwas barsch aufgefordert, alle Reißverschlüsse der Taschen zu öffnen, die Hände auf die Knie zu legen und ja keine ruckartigen Bewegungen zu machen. Der große schwarze Schäferhund arbeitet gründlich und fokussiert und scheint so gar nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein. Der Hundeführer schon zweimal nicht.
Dann werden wir in den Hof entlassen und die Party beginnt. Es ist klar, dass dies heute ein Fest im Knast ist, und dass der Alltag hier ganz anders aussieht. Wir sehen uns um: Das Gelände erscheint weitläufig mit einigen hoch eingezäunten Grünflächen, die Unterkünfte sind auf verschiedene Backsteingebäude verteilt, die Fenster vergittert. Es gibt einen Sportplatz und eine Turnhalle, in der Tische für später eingedeckt sind. Die Umkleiden sind spartanisch, für die Damen steht ein kleineres Zimmer mit einer einzelnen Dusche bereit. Einige der Toiletten sind speziell für Besucher reserviert. Wer sich nun einen weitläufigen Park mit gepflegtem Rasen, netten Häusern und schick gefliesten Sanitäranlagen vorstellt, liegt aber falsch.
Alles ist hervorragend und mit viel Routine organisiert. An einem Versorgungspavillon werden Kaffee und Tee ausgeschenkt, es gibt belegte Brötchen und Kekse für lau, die freiwillige Spende dafür wird einem Forschungsprojekt gegen Leukämie zufließen. Start/Ziel und die übliche Infrastruktur sind bereits aufgebaut, der Kurs ist markiert und großenteils mit Flatterband abgesperrt. Alles ist bereit. Mit den Startunterlagen erhalten wir ein sehr ansprechendes Knastmarathon-Funktionsshirt, auf dem Startnummer und Vorname aufgedruckt sind. Das darf auch anstelle der papierenen Bratpfanne getragen werden. Angesichts des sonnigen Himmels laufe ich aber lieber ärmellos. Seinen Kram kann man in der Halle in großen, bewachten Kleidersäcken aufbewahren. Zu faul zum Anstehen, werfe ich meine Tasche in eins der offenen Zelte, die für Besucher und private Bewirtung am Rand der Stecke aufgebaut sind.
Die inhaftierten Teilnehmer tragen als Vereinskleidung rote Laufjacken mit dem Aufdruck "JVA Darmstadt - Marathonprojekt 2015". Nicht jeder der so Eingekleideten wird selbst laufen, viele sind auch Betreuer oder Helfer. Natürlich sind wir neugierig und schauen uns um, ob wir die Inhaftierten von den Externen unterscheiden können. Anhand der Startnummer ist dies nicht möglich. Wäre dies hier ein Lauf wie jeder andere, würde niemandem auf den ersten Blick ein Inhaftierter auffallen. Die Unterschiede zeigen sich hauptsächlich in der neutralen Kleidung der Inhaftierten- im Kontrast zu vielen bunten Finishershirts von überall - und in der relativ einheitlichen nicht vorhandenen Haarpracht. Man begegnet sich erstmal mit höflichen Distanz und vor allem mit gegenseitigem Respekt. Das mit der Distanz wird sich bald von selbst erledigen.
Ein Moderator führt fachkundig durchs Event, wir werden noch kurz begrüßt und dann auch bald auf die Strecke geschickt. Es gibt keine unnötigen Reden und entgegen meiner Erwartung auch keine Verhaltensregeln oder sonstigen Erklärungen. Wer was wissen möchte, fragt einen der Diensthabenden. So erfahre ich, dass theoretisch jeder Inhaftierte am Marathonprojekt teilnehmen kann, Gesundheit vorausgesetzt. Dennoch sind es nur eine gute Handvoll Starter, die aus der JVA Darmstadt ins Rennen gehen, etwas mehr kommen aus den umliegenden Einrichtungen. Inhaftierte Frauen sind hier wohl auch schon gelaufen, wie es scheint, sind heute aber keine dabei.
Sehr diszipliniert wird losgelaufen. Die Strecke besteht aus einem vielfach verwinkelten Begegnungskurs, der zusätzlich über zwei kleinere Schleifen verfügt. Die Strecke von 1,7 Kilometern ist 24 mal zu durchlaufen. Pro Runde begegnet man jedem anderen Läufer also zweimal. Nach zwei bis drei Runden hat sich das Feld entzerrt und die Ersten beginnen schon mit den Überrundungen. Der Platz ist ausreichend und man nimmt gegenseitig Rücksicht. Das klappt.
Nach etwa einer halben Stunde füllt sich ein eingezäunter Rasenbereich an einem der Wendepunkte mit Insassen - alle tragen weinrote Oberteile und graue Hosen. In Darmstadt sitzen ausschließlich Männer ein und der Hofgang ist zeitlich auf etwa eine Stunde am Tag begrenzt. Ich trage bunten Mädelskram und das KATI prangt in großen Buchstaben vorn und hinten auf dem Shirt. Vereinzelt werde ich beim Durchlauf jetzt mit Namen angefeuert, aber die Stimmung ist eher zurückhaltend und die Männer interessieren sich mehr für ihre eigenen Starter. Ich habe Berührungsängste, die Eisengitter sorgen doch für eine Art Zoo-Ambiente und ich möchte nicht als Gaffer missverstanden werden. Eine hübsche jüngere Läuferin mit einem langen blonden Zopf erntet ebenfalls ordentlich Beifall. Nach ein paar Runden ist der Hofgang auch schon wieder beendet.
Die Verpflegungszone ist kurz nach dem Start/Ziel-Durchlauf aufgebaut und funktioniert besser als bei so manch anderem Lauf. Von Beginn an gibt es Wasser, ISO und Bananen. Später werden Schoko-Müsliriegel und Cola angeboten. Wer möchte, kann seine Eigenverpflegung am ersten Tisch ablegen. Die Station wird von Insassen bewirtet, die mit ungeheuer viel Einsatz und offensichtlichem Spaß am Werk sind. Ich finde das alles ziemlich großartig. Die Stimmung ist gut. Den Rennverlauf an der Spitze beobachte ich natürlich auch, allerdings ist er für diesen Bericht absolut uninteressant, die Schnellen mögen mir verzeihen.
Die Teilnehmer des Marathonprojekts und diejenigen aus den umliegenden JVAs sind vorwiegend jüngere Männer und gut vorbereitet. Für viele ist es der erste oder zweite Marathon, es fehlt natürlich trotz allem an Wettkampfroutine. Während die externen Teilnehmer eher keine Einsteiger, sondern mehr die alten Hasen sind. So überrascht es nicht, dass viele doch über ihren Möglichkeiten losgelaufen sind und zwischen km 15 und 20 deutlich langsamer werden. Inzwischen haben wir uns aneinander gewöhnt und ich wechsle ein paar Worte mit jedem, den ich überhole. Durch die Häufigkeit der Begegnungen entsteht so schnell ein netter Kontakt. Jeder ist freundlich zum anderen und ich denke, das tut uns allen gut. Ich jedenfalls bekomme in der zweiten Hälfte das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht und bin nur noch am Anfeuern und Aufmuntern. Zu viele Details möchte ich an dieser Stelle aber nicht erzählen.
Die gelaufenen Runden werden auf einer großen Anzeigetafel aufgeführt, das spart die lästige Zählerei. Ich habe noch etliche Runden vor mir, als sich ein Rasenstück direkt an der Strecke mit den nächsten Hofgängern in Rot-Grau füllt. Diesmal sind es deutlich mehr und sie sind auch nicht durch hohe Gitter vom Geschehen getrennt, sondern nur durch ein lächerliches Flatterband. Jetzt ist der Teufel los. Schon in der ersten Runde entdeckt einer meinen Namen auf dem Shirt und versteht das Angebot richtig, mich anzufeuern. Eine LaOla-Welle mit meinem Namen semmelt durch fast die komplette Mannschaft. Ich winke und grüße natürlich zurück und schon ab der nächsten Runde werde ich abgeklatscht und von da an immer mehr angefeuert. Die Mädels allgemein sind im Läuferfeld ganz deutlich in der Unterzahl und werden frenetisch gefeiert. Noch größere Begeisterungsstürme lösen jedoch die Teilnehmer aus den eigenen Reihen aus, denen man die Anstrengung jetzt doch vielfach schon sehr deutlich ansieht. Uns anderen aber genauso.
Mir gefällt das. Richtig gut. So viel Begeisterung auf einem Haufen habe ich selten irgendwo bei einem Lauf erlebt. Die Freude ist authentisch. Anzügliche Kommentare oder Ähnlches? Absolute Fehlanzeige. Am liebsten würde ich noch ein paar Runden dranhängen, bin dann aber doch zu platt und froh, im Ziel zu sein.
Die Zielverpflegung mit eiskaltem Malzbier und belegten Brötchen ist super. Wir feuern unsere Läufer noch auf ihren letzten Runden an. Alle haben sich wieder berappelt und ziehen ihr Rennen bis zum Ziel durch. Absolut starke Leistung. Die anschließende Siegerehrung müssen wir leider auslassen, da sie recht spät angesetzt ist und wir noch einen weiten Heimweg haben. Aber die Tour hat sich gelohnt. Sehr gerne komme ich nächstes Jahr wieder.