Die inzwischen bald 15 Mio. Einwohner zählende türkische Metropole Istanbul mit ihren vielen historisch bedeutsamen Bauwerken aus 2600 Jahren, die auf die Griechen, Römer, Kreuzritter und Osmanen zurückgehen – somit ein Schmelztiegel der Kulturen – ist die einzige Stadt der Welt, die sich über zwei Kontinente erstreckt. Ihr westlicher Teil sowie das gesamte Umland innerhalb der Staatsgrenzen der heutigen Türkei gehört geografisch zu Europa, die sich 50 km nach Osten erstreckenden Wohngebiete auf der anderen Seite des Bosporus zu Anatolien und daher kartografisch zu Asien.
Für viele Läuferinnen und Läufer ist die Überquerung der 1560 m langen Bosporusbrücke, die sonst für Fußgänger gesperrt ist, ein Highlight und ein Grund, am heuer bereits zum 37. Male durchgeführten Marathon in Istanbul teilzunehmen.
Ich denke, dass jeder Marathon, der am Beginn über eine lange Brücke führt wie hier in Istanbul, beim New York City Marathon von Staten Island über die Verrazano Narrows Bridge nach Brooklyn oder beim Vienna City Marathon über die Donaubrücke von Wien-Kagran in den zweiten Bezirk, eine besondere Attraktivität hat. Das sieht man an den von Helikoptern aus gemachten Aufnahmen.
Da ich seit einigen Monaten Mitglied im Country Marathon Club bin, bei dem 30 Marathons in ebenso vielen Ländern Grundlage für die Aufnahme sind, bin ich bestrebt, in dosiertem Rahmen mein Kontingent langsam auszubauen. Die Türkei fehlt mir bisher als „Marathon-Land“, so kommt mir der Marathon in Istanbul am 15. November recht gelegen, um Land Nr. 38 abhacken zu können – das mag vielleicht fürs erste imposant sein, doch nach einem Blick auf die Statistik der Country-Leute um John Wallace mit 125 Ländern und dem nachrückenden Klaus Westphal mit 100 plus rangiere ich im hinteren Drittel.
Also gilt es, die Geschichte dieser Weltmetropole, der Mix aus europäischer und orientalischer Lebensweise, Kunst und Kultur, Bauwerke, rechtfertigt meinen Vorsatz, die Stadt, die im Laufe von 2600 Jahren dreimal ihren Namen wechselte – zur Zeit der Griechen war es Byzanz, unter den Oströmern Konstantinopel und nach der Eroberung durch die Osmanen ab 1453 Istanbul – wiederzuentdecken.
Ich kenne Istanbul aus früheren Tagen, genau genommen war ich mit einem Schulkollegen im Juni 1973 zum ersten Mal dort. Die bleibenden Eindrücke vom damaligen Istanbul, die ich bis heute im Kopf habe und die sich bei unserem letzten zweitägigen Aufenthalt an Bord eines Kreuzfahrtschiffes vor einigen Jahren mir wieder bestätigt haben, beziehen sich auf die wunderbaren Bauwerke, aber auch das einfache und harte Leben vieler armer Menschen in dieser Stadt.
In der seit 1985 zum UNESCO Kulturerbe gehörenden Altstadt Sultanahmet befinden sich die imposantesten Gebäude wie z.B. die Hagia Sophia, die Blaue Moschee, die Süleymanje Moschee oder der Topkapi Palast. Der Große Bazar ist ebenso eine Touristenattraktion wie eine Bootsfahrt durch das Goldene Horn, ein Seitenarm der Bosporus, und weiter über das Marmarameer zu den Prinzeninseln, wo es auch Strände zum Schwimmen gibt. Der Marathonkurs führt an etlichen dieser historischen Bauten vorbei, die man sich aber vorher oder nachher anschauen sollte.
In den letzten Jahren gab es in der Türkei, die seit der anhaltenden Flüchtlingskrise für die EU gegenwärtig einen neuen Stellenwert als Beitrittskandidat bekommen hat, speziell in Städten wie Istanbul und Ankara sowie den östlichen Gebieten mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil öfters politische Unruhen, die auch Opfer forderten. Der Taksim-Platz im Istanbuler Stadtteil Beyoglu ist strategischer Ort für Demonstrationen und gleichzeitig auch ein Verkehrsknotenpunkt. Ich hoffe, dass am Tag des Marathons nicht irgendwelche Attentäter wie vor einigen Jahren in Boston auf die Idee kommen, eine friedliche Sportveranstaltung zum Ziel ihrer Angriffe zu machen. Man soll den Teufel nicht an die Wand malen, aber heutzutage ist Sicherheit kaum mehr zu 100% zu garantieren.
Aber ich bin gerne in der Türkei und speziell in Istanbul. In den kommenden sechs Tagen werde ich Gelegenheit haben, die Metropole am Bosporus wiederzuentdecken.
Die Marathon-Expo im Attaköy-Sportzentrum öffnet am 12.November. Für alle, die am Atatürk-Flughafen ankommen, benannt nach Mustafa Kemal (genannte „Atatürk“, Vater der Türken), dem Staatsgründer der heutigen modernen Türkei, der für die Säkularisierung des Landes verantwortlich ist und u.a. das lateinische Alphabet statt der arabischen Schriftzeichen einführte, sind es mit der (roten) Metrolinie M1 nur drei Stationen. Ich brauche vom Karaköy Port Hotel mit der Tram T1 und einem Umstieg in die M1 am Knoten Zeytinburnu eine gute Stunde.
Die Anmeldung für den Marathon konnte man bequem über Internet erledigen. Die Gebühr war zeitlich gestaffelt und betrug 60 bis 120 Türkische Lira (1 Euro ist ca. 3,1 TL). Laut Informationen auf der Homepage ist ein Adidas Funktionsshirt und eine Umhängtasche, die als Kleiderbeutel fungieren soll, inkludiert. Drei Bewerbe stehen auf dem Programm: Die Marathonläufer haben rot als Leitfarbe (rote Startnummern auf weißen Untergrund), die 15 km-Läufer erkennt man an den grünen Kleiderbeuteln und grün unterlegten Nummern, die Teilnehmer an der 10 km-Distanz haben blaue Startnummern. Bei der Expo sind die einzelnen Ausgabestellen entsprechend farblich gekennzeichnet.
Das Attaköy Sport Center ist am ersten Tag bestens besucht, ich gustiere an zahlreichen Ständen die Vorschauen auf kommende Marathons im Jahr 2016. Darunter sind auch jene Destinationen, wo es mich hinzieht: Riga und Skopje im Mai, Sofia im Oktober. Länger verweile ich bei einer Schauwand, an der Zeichnungen von Schülerinnen und Schülern aller Altersstufen angebracht sind, die den Istanbul-Marathon thematisieren. Ein ähnliche Aktion wurde voriges Jahr in Reggio Emilia gestartet, die das kreative Potenzial von Kindern und Jugendlichen sichtbar machte.
Wie bei jeder Expo interessiert mich, wie viele Nationen am Marathon vertreten sind. Ein guter Indikator dafür sind die nahe der Saaldecke aufgehängten Fahnen. Grob geschätzt sollten drei bis vier Dutzend Länder vertreten und an die 4000 Läuferinnen und Läufer für den Marathon gemeldet sein – mir wird die Startnummer 3761 im letzten Block ausgehändigt. Ob es eine Bedeutung hat, dass die deutsche Fahne neben der türkischen hängt und die österreichische von den „Stars and Stripes“ und der argentinische Flagge eingebettet wird, lasse ich offen. Nicht unwesentlich ist der Hinweis, dass Österreicher, die in die Türkei einreisen und nicht auf Transit sind, ein Visum brauchen, während deutsche Staatsbürger ohne einen gebührenpflichtigen Nachweis im Reisepass auskommen. Österreich ist mit Frankreich gegen eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei, von den Deutschen werden in jüngster Zeit neue Signale in die andere Richtung ausgesendet. Sport und Politik sind eng miteinander verwoben – die Anordnung der Fahnen hier in der Attaköy-Halle könnte gewisse Schlüsse zulassen, die aber für den eigenen Marathonverlauf am Renntag natürlich völlig unbedeutend sind.
Ich stelle mich in die Schlange für die Nudelparty. Es dauert länger, denn der Koch schmeckt mehrmals ab und befindet die Nudeln als noch nicht weich genug. Bei der Tomatensauce wird gespart, aber die Portion schmeckt trotzdem vorzüglich. Eine Banane (oder auch mehrere) und ein Saftpäckchen bekommt man dazu. Ich beobachte, wie sich einige unsportlich aussehende Herren mit Anzug, weißem Hemd und Krawatte gleich mehrfach bedienen und ungeniert so viel wie nur möglich in große Taschen verfrachten. Eröffnungsreden kosten Kommunalpolitikern und Sportfunktionären Kraft, die irgendwie wieder kompensiert werden muss. Aber ich gönne ihnen den Nahrungsvorrat, ich hätte ja auch nachfassen können.
Ich prüfe den mit dem Starterpaket ausgegeben Einweg-Chip in der Größe und Form einer Kreditkarte mit vier Löchern, durch die man die Schnürsenkeln zieht und ihn so befestigt. Dafür wird keine Kaution und auch keine Gebühr verlangt, man kann ihn behalten. Die Organisatoren scheinen alles bestens unter Kontrolle zu haben. Hoffentlich klappt es auch so gut wie hier auf der Expo mit den Shuttlebussen am Renntag, die die Starter von zwei Sammelstellen über die Bosporusbrücke in den asiatischen Teil bringen werden.