Es war in meinem ersten Dutzend, als ich mich an einem frühen Sonntagsmorgen am Bahnhof Tuttlingen einfand und mit zahlreichen ähnlich Gekleideten einen Sonderzug nach Hausen bestieg. Die lange Fahrt hielt mir deutlich vor Augen, auf was ich mich eingelassen hatte. Zumindest in Sachen Distanz, nicht aber in Sachen Naturgenuss. Entlang der Donau liefen wir durch den pittoresken Canyon talaufwärts nach Tuttlingen.
Es ist wieder ein früher Sonntagmorgen und es ist wieder Tuttlingen, die Welthauptstadt der Medizintechnik. Statt Bahnhof heißt die Adresse Festplatz. Da ist das Zentrum der über das Wochenende stattfindenden Bewerbe von run&fun in Tuttlingen. Das sind nicht gerade wenige. Von 500 Metern für die Jüngsten, Staffellauf zu fünft auf 6,95 km, 5000 Meter Lauf, 10 Kilometer, Walkingbewerb, Halbmarathon, Staffelmarathon und Marathon. Dieser trägt immer noch den Namen des damaligen und aktuellen Titelsponsors, Aesculap.
Der Gott der Heilkunst konnte aber auch nicht verhindern, dass das Skalpell angesetzt wurde. Manchmal muss zum Überleben ein radikaler Schnitt vorgenommen und amputiert werden. In der Tat ist mit knapp hundert gemeldeten Teilnehmern auf dem langen Kanten kein Staat zu machen. Umso schöner, dass er im Programm blieb. Statt auf der Punkt-zu-Punkt-Strecke durchs Donautal, wird der Marathon nun auf einem Rundkurs gelaufen, den es zweimal zu bewältigen gibt.
Bei der Mühlau-Sporthalle finde ich einen Parkplatz, allerdings keine Beschriftung bezüglich der Garderobe, also gehe ich mit Kati, die auch hier herumirrt, zum Festplatz und hole gleich die Startnummer ab. Der Chip für die Zeitnahme ist daran befestigt und muss noch in die Schnürung des Schuhs eingefädelt werden. Anschließend gehe ich zurück in die mittlerweile geöffnete Sporthalle, wo ich in der sonst leeren Garderobe die letzten wichtigen Vorbereitungen treffe. Eine davon ist die umfangreiche Applikation von Sonnenschutz in kosmetischer, textiler und optovisueller Art.
Kurz vor dem Start gibt es noch ein Gruppenbild mit Kati, Axel, Charly, Greppi und mir, den klassischen Wiederholungstätern, die dankbar sind, dass solche Marathons allen Widrigkeiten organisatorischer Art trotzen und weiterhin stattfinden. Kurz danach kommt noch Judith dazu. Außer den beiden orange gewandeten Vertretern eines bekannten Laufportals werden diese heute alle nochmals besonders in Erscheinung treten.
Die Stimmung vor dem Start ist entspannt, es ist kein Stress zu spüren, dabei zeigt die Uhr im Starttor an, dass der Startschuss noch im Lauf steckt. Als es so weit ist, schweben die bunten Luftballons wie früher in Hausen in den stahlblauen Himmel.
In Anbetracht der zu erwartenden Temperaturen will ich meinen Effort auf dem ersten Viertel oder gar der ersten Hälfte machen und hänge mich an den einzigen Zugläufer, der auf 3:59.59 getimt ist. Danach nehme ich es so, wie es dann kommt.
Auf dem Radweg geht es entlang der Donau in westlicher und südwestlicher Richtung gen Möhringen. Noch sieht das Freibad verwaist aus, etwas, das sich noch kräftig ändern wird. Nach gut zwei Kilometern kommt schon die erste Verpflegungsstelle. Man kann an solchen Tagen nie früh genug beginnen, also greife ich zu und beginne mit der ersten meiner kamelesken Hydrierungsbemühungen.
Der Asphalt muss wenig später geschottertem Untergrund weichen, ist also naturiert. So wie der Verlauf der Donau im Gebiet des Nägelsees. 1971 in einen graden Lauf gezwängt, gönnte man ihr 1997 die Rückkehr in ihr altes Bett auf einem Abschnitt von 1200 m. Durch diese Rückverlegung und das Anlegen von naturnahen Strukturen wie Inseln und Buchten gelang eine starke ökologische Aufwertung. Dass zugleich der Hochwasserschutz verbessert wurde, stört vermutlich weder Anrainer noch Versicherungen.
Kurz vor Möhringen geht es links ab und an der Schulanlage vorbei. In einer 180°-Kehre geht es unter dem ersten Sprinkler der Feuerwehr hindurch zurück nach Tuttlingen. Bevor das fünfte Kilometerschild auftaucht, wird schon wieder Verpflegung angeboten.
Entlang der Bahnlinie geht es weiter Richtung Tuttlingen. Damit dies auf direktem Weg geht, wurde eine Brücke erstellt. Dazu brauchte es keine zahnmedizinische Kenntnisse, obwohl die und entsprechende Implantate in Tuttlingen sicher zur Hand wären. Eine Fußgänger-Pontonbrücke sorgt mit kurzem Ab- und Anstieg für einen Rhythmusbrecher.
Warum der bald darauf folgende Weg „Am Lokschuppen“ heißt, ist nicht ersichtlich. Dort, wo er eine sanfte Biegung beschreibt, liegt rechts oben, hinter Bäumen und Geäst versteckt, das Bahnbetriebswerk Tuttlingen. Das 1933 eingeweihte Bahnbetriebswerk mit all seinen ursprünglichen Einrichtungen ist Sitz des Deutschen Dampflok- und Modelleisenbahnmuseums. Hier kann im Original besichtigt werden, was vor fünfzig Jahren bei der Durchsicht des Märklin-Katalogs mein Modelleisenbahnherz höher schlagen ließ: Ein siebenständiger Ringlokschuppen, eine voll funktionsfähige 21-Meter-Drehscheibe sowie die Bekohlungsanlagen. Auf dem Freigelände sind 26 Dampflokomotiven, mehrere Diesellokomotiven, Personen-, Schlaf- und Güterwagen ausgestellt. Viele der Exponate brauchen noch intensive Restaurationsarbeiten, Aufgaben, die eher mit Hammer, Amboss und Schneidebrenner als mit Laser und Skalpell getätigt werden müssen.
Wenig später ist an einem der wenigen Schattenplätze der Strecke der nächste Verpflegungsposten aufgebaut, dann geht es entlang der hinter einer Baumreihe versteckten Donau weiter. Hier ist die eine Straßenhälfte gesperrt. Es gibt dennoch bereits einige Läufer, die einen Umweg in Kauf nehmen, um auf dem Gehsteig im Schatten der Bäume zu laufen. Auf der anderen Seite der Donau ist der Festplatz, auf dieser Seite Verpflegungsposten Nummer 4. Wohlverstanden, bevor der zehnte Kilometer eingetütet ist.
Noch bin ich im Gefolge von Volker, dem Pacemaker, und gedenke, dies für die nächsten Kilometer auch zu bleiben. Ob es für die ganze erste Hälfte reicht, bezweifle ich allerdings.
Die Donau wird wieder überquert und die Strecke führt uns zwischen ein paar Häusern hindurch zur Bahnlinie. Beim elften Kilometer wird ein Bypass gelegt. In einer engen Unterführung und nachfolgender Rampe mit Spitzkehre geht es unter dem Gleis hindurch ins Industriegebiet. Die Straße ist benannt nach dem berühmten Medizintechniker und Gründer des gleichnamigen Unternehmens Dr. Karl Storz. Diese Firma ist Titelsponsor des 5 Kilometer-Laufs und mit ihren Endoskopen Wegbereiter der minimal-invasiven Chirurgie. Ich wette, es waren Instrumente aus ihrer Produktion, die den Chirurgen schon dreimal den erfolgreichen Blick in meine Mechanik gewährleistet haben. Für mich zählt jetzt aber weniger der Ein- als der Ausblick. Der Ausblick auf das, was mir noch bevorsteht. Für die direkte Unmittelbarkeit bedeutet das zuerst einen weiteren Verpflegungsposten. Nicht unbekannt ist mir aber auch, dass es von nun an kein Entrinnen vor der immer stärker wärmenden Sonne gibt. Diese zweite Schlaufe der Runde führt über das offene Feld und bietet keinen Schatten, in welchen man die Ideallinie verlegen kann.
Die Schere zwischen Absicht und echtem Wollen (und Können) wird immer größer, weshalb ich den Pacemaker ziehen lasse. Mehr als ein Viertel, nicht aber die Hälfte, sondern ein Drittel habe ich ihn begleitet. Scheren dieser Dimensionen könnten höchstens in der Großtierchirurgie eingesetzt werden. Womit ich gleich bei einem anderen Thema bin, denn für den Veterinärbedarf hat Aesculap auch Schermaschinen im Angebot. Diese würde ich mir jetzt herbeisehnen, wenn ich mich vergangene Woche nicht endlich von meiner Matte getrennt hätte. Es gibt so weniger heiß und die immer höher werdende Stirn fällt etwas weniger auf. Für letztere Problematik habe sich im Asklepios-Kult einmal ein Mann zur Heilbehandlung in einem Tempel des Asklepios schlafen gelegt, wo ihm im Traum der Arzt erschien und es dem glatzköpfigen Patienten ermöglichte, sich danach an einem neuen Haarwuchs zu erfreuen.
Entlang des Dorfrandes von Nendingen geht es auf den Weg zurück nach Tuttlingen, nicht ohne zuvor noch einmal vollumfänglich versorgt zu werden. Auch hier ist ein Sprinkler installiert, ein Angebot, welches ich beim nächsten Aufkreuzen sicher noch intensiver in Anspruch nehmen werde.
Die folgenden drei Kilometer kommen mir teilweise bekannt vor und die Erinnerung daran hat mit Leiden zu tun. Nichts Gravierendes, einfach das Gefühl, das sich einstellt, wenn es sich mit müden Beinen in der prallen Sonne so hinzieht und das Ziel nicht kommen will. Damals waren es aber die letzten Kilometer…
Die Karl-Storz-Straße ist wieder im Blick und damit auch der schon bekannte Verpflegungsposten. Noch zwei Kilometer, dann liegt die erste Runde hinter mir. Kurz vor der Halbzeit lege ich nochmals eine Verpflegungspause ein. Beim Weiterschlendern – den feinen Hefezopf habe ich noch nicht mal fertig verputzt - werde ich vom Sprecher interviewt. So viel Zeit muss sein.
Zwei Kilometer und einen Verpflegungsposten weiter ist es dann so weit. Die Meute der Halbmarathonis – es sind dreimal so viele Teilnehmer gemeldet wie für den Ganzen – kommt von hinten angeschossen. Nun ist die Strecke wieder belebt und ich lasse die Karawane an mir vorbeiziehen. Dass das Fotografieren Gehpausen mit sich bringt, ist mir willkommen.
Ich laufe ohne Uhr und mache keine Zeitberechnung, doch zurück in Tuttlingen höre ich von der anderen Seite der Donau, wie der Zieleinlauf der Siegerin angekündigt wird und gönne es Sandra von Herzen. Bis ich dort ankomme, wird es dauern. Meine Strategie für das letzte Viertel ist einfach. Vor dem Besenwagen ankommen und dabei trotz hoher Temperaturen nicht leiden und vor allem keine von Tuttlingens Medizintechnik in Anspruch nehmen zu müssen. Die Umsetzung sieht so aus, dass ich weite Strecken als Kampfwanderer – milder ausgedrückt: Powerwalker – zurücklege. Auch das muss für mein Saisonziel geübt sein.
Statt nach dem Tupfer zu schreien, um den Schweiß abzutrocknen, lasse ich mir bei den Sprinklern genügend kühles Wasser angedeihen und hangle mich so von Kilometer zu Kilometer ins Ziel. Mit der Finishermedaille um den Hals kann ich mich an der Zielverpflegung gütlich tun, wobei ich gar nicht viel brauche. Die Versorgung unterwegs lässt mich den Marathon bestens hydriert und ohne knurrenden Magen beenden. Dafür gibt es die Bestnote.
Der Vorteil einer späten Ankunft ist, dass die Siegerehrung gleich folgt. Und da treten, wie eingangs erwähnt, die Vielläufer des Gruppenbildes in Erscheinung. Außer Greppi und mir dürfen alle aufs Podium und ihre Siegerpreise abholen. Wenn ich schon keine dieser edlen Schachteln des Titelsponsors bekomme, kann ich wenigstens einen faulen Spruch wagen und die Geehrten fragen, ob in der Schachtel eine Knieprothese oder ein künstliches Hüftgelenk sei.
Einigen Helfern habe ich unterwegs versprochen, dass sie das nächste Mal nicht so lange ausharren müssen bis ich komme. Dieser kosmetische Eingriff ist aber nicht der Hauptgrund, weshalb ich gerne wieder in Tuttlingen an den Start gehe.