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Laufberichte

You'll never run alone

 

 

Bei allen Unterschieden – hier Stadtlauf, der seinen Namen auch verdient, dort Landschaftslauf – gibt es zumindest eine Gemeinsamkeit mit dem Mugello-Marathon bei Florenz: Beide finden seit 1974 statt, heuer somit zum 43. Mal. Alberto, den wir letzte Woche in Mugello getroffen haben, wird heute in 3:54 finishen. Leider steht die  Nationalflagge des jeweiligen Teilnehmers in Berlin nicht auf der Startnummer. Dafür informieren viele Sportler durch einen Aufdruck auf dem Shirt über ihre Herkunft. Neben Mexikanern und Brasilianern kann man vor allem die Dänen (1.972) samt ihren unzähligen Begleitern nicht übersehen. Sie stellen nach den Briten (2504) die zweitgrößte ausländische Gruppe. Irgendwann rufe ich den Zuschauern zu, ob sie nicht auch einige EU-Fähnchen haben, und ernte höflich-verlegenes Lachen.

Streckenhighlights? Der Plan verzeichnet nur eine Handvoll prominenter Orte, von denen sich einige kilometerweit von der Laufstrecke entfernt befinden. Aber mit 40.000 Gleichgesinnten durch die unterschiedlichsten Viertel einer Weltstadt zu laufen und dabei quasi nur durch mehrstöckige Bebauung, getragen von der Begeisterung Hunderttausender Zuschauer - wo gibt es so etwas schon? Wobei das gute U- und S-Bahn-Netz die Verfolgung von Teilnehmern wirklich leicht macht. 1996 ist Judith in Berlin ihren zweiten Marathon gelaufen und ich mit der Bahn hinterher. Oft habe ich sie gesehen – bei damals knapp 20 000 Teilnehmern und ihrer Fabelzeit von 3:31 Stunden nicht sehr schwer.

Nichtsdestotrotz sind wir jetzt in Moabit und laufen an der berühmt-berüchtigen Justizvollzugsanstalt vorbei, errichtet 1881 als Königliches Untersuchungsgefängnis. Während der Zeit des Nationalsozialismus waren hier viele Regimegegner inhaftiert.

 

 

Das nächste Highlight nähert sich bei Kilometer 7. Davor sehen wir kurz ein Straßenbahngleis, was darauf hindeutet, dass wir uns im Ostteil der Stadt befinden. Mit 189,4 km Strecke ist die Berliner Straßenbahn der größte Betrieb seiner Art in Deutschland und nach Melbourne und St. Petersburg das drittgrößte Straßenbahnnetz der Welt. Westberlin ist nahezu tram-frei: Bis 1967 wurden hier alle Linien stillgelegt, nur drei Ost-Streckenteile wurden nach der Wiedervereinigung in den ehemaligen Westteil verlängert.

Links von uns ein großes Shopping- und Verwaltungsgebäude, Insidern auch als Hauptbahnhof bekannt. Vor uns das Reichstagsgebäude mit seiner berühmten Kuppel, die der mit dem Umbau beauftragte Architekt Norman Foster nur widerwillig realisierte. Zwischen Bundeskanzleramt und Schweizer Botschaft samt eidgenössischen Fähnchenschwingern hindurch geht es über die Spree.

1983 konnten wir hier auf Berlinschulfahrt aus der S-Bahn noch genau die Grenzsicherung der DDR betrachten. Viele „Republikflüchtlinge“ kamen hier ums Leben. Berlin ist ein phänomenales Beispiel, wie sich die Welt verändern kann.

Von der Brücke aus bietet sich ein schöner Blick auf das Läufermeer. „You'll never run alone“ - der leicht abgewandelte Titel des bekannten Songs ziert das T-Shirt eines Mitläufers und behält seine Gültigkeit über die gesamte Strecke. Vor uns liegt nun der Friedrichstadt-Palast, 1984 als Revuetheater errichtet und wie das 200 m entfernt gelegene, inzwischen abgerissene historische Vorgängergebäude einst der ganze Stolz der DDR. Für Besucher Ostberlins bot sich hier eine unterhaltsame Möglichkeit, die zwangsumgetauschte Währung loszuwerden. Ich habe mir lieber das „Kapital“ von Karl Marx gekauft. Beste Wertarbeit. Muss immer noch im Keller stehen.

Rechter Hand die Oranienburger Straße, nach der Wende ein beliebtes Ausgehviertel und Standort vieler Touristenkneipen. Die knapp bekleideten Damen am Rand der Straße habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Das „Tacheles“, ein Kunst- und Veranstaltungszentrum, von 1990 bis 2012 in einem Trakt eines ehemaligen Kaufhauses untergebracht, wird jetzt wahrscheinlich zu teurem Wohnraum. Oder doch nicht? Angeblich ist auch in einem künftigen Neubau die kulturelle Nutzung vorgesehen.

Breite Allee in goldenem Herbst. Rosa-Luxemburg-Platz: „Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden“ - Leute, redet miteinander, aber lasst auch andere Meinungen zu. Aber vielleicht nicht jetzt während des Laufs. Unterhaltungen hört man kaum, obwohl man sich immer in einem mehr oder weniger dichten Pulk befindet. Vielleicht ist die Masse zu groß oder der Wille, eine Bestzeit zu laufen...

 

 

Durch das moderne Berlin aus DDR-Sicht: Das bedeutet viele Plattenbauten und breite Magistralen statt alter Hinterhöfe. Blick auf den Fernsehturm am Alexanderplatz. Es folgt die Karl-Marx-Allee im Übergang zwischen den Stadtteilen Mitte und Friedrichshain. Den Abschnitt in Mitte dominieren Plattenbauten aus den 1960er Jahren, den längeren, in den 1950ern errichteten Friedrichshainer Teil  kennzeichnet eine Mischung aus sowjetischem „Zuckerbäckerstil“ und preußischer Schinkel-Schule. Eine Kollegin hat einst in einer der großzügigen Wohnungen gelebt, wovon sie heute noch schwärmt. Inzwischen ist sie in der bayerischen Provinz beheimatet.

Wir umrunden den Straußberger Platz samt Brunnen und den Cheerleadern von Antenne RBB-Brandenburg. Der Marathon dreht nach Süden. Unter uns die U-Bahn 8, mit der Westberliner vom Wedding nach Kreuzberg unter Ostberlin hindurch fahren konnten, samt Umstieg am Alexanderplatz in die West-S-Bahnlinien. Dunkle Stationen wurden durchfahren. Die Grenzsoldaten waren eingesperrt, damit sie sich nicht mit der U-Bahn in den Westen absetzen konnten.

 

 

Kreuzberg steht auf dem Programm. Kopfsteinpflaster im Teer markiert die Grenze zum Westsektor. In diesem Stadtteil siedelten sich viele türkischstämmige Gastarbeiter an. Die Altbauten und die Lage des Viertels waren bei Westberlinern nicht so angesagt. Hotspot Kotbusser Tor mit der Hochstation der U-Bahn. Natürlich wartet der türkische Folk-Sänger Ferhat Güneyli samt Band auf uns uns. Tausende von Zuschauern, immerhin kreuzen sich hier zwei U-Bahnlinien.

Bei Kilometer 17 sind wir am Hermannplatz in Neukölln. Hier befinden sich Europas erstes Kaufhaus mit unterirdischem Zugang zur U-Bahn aus dem Jahr 1929 sowie viele günstige Lokale ohne Touristen. Am Volkspark Hasenheide vorbei. Links ein kleiner Tierpark, wo man Lamas, Hängebauchschweine, Emus & Co. zum Nulltarif bewundern kann.  

An wie vielen Kirchen werden wir heute vorbeikommen? Die Berliner scheinen wirklich fromme Menschen zu sein. Gneisenaustraße: Hier rockt im Frühjahr der Karneval der Kulturen. Jetzt rocken wir die Straße.

Unzählige total verrostete Eisenbahnbrücken. Oben fährt der ICE zum Hauptbahnhof. Schöner Park Richtung Potsdamer Platz. Eine Trommelgruppe hat sich akustisch vorteilhaft unter einer breiten Brücke postiert. Die Halbmarathonmarke erreichen wir nach 1:59 Stunden. Keine Zeit, zur Ruhe zu kommen. Fotos machen und Judith wieder einholen. Von einem Balkon schallt fetzige Musik zu einem Text voller orthopädischer Fachbegriffe. Die dazu gehörigen Damen (vielleicht eine Physiotherapeutinnengruppe?) verbreiten eine super Stimmung.

 

 

Alphornbläser – die ganze Welt zu Gast in Berlin. Technomusik mit den entsprechend durchgeknallten Mädels als nächstes. Ok, Jungs waren auch dabei.

„Ich bin ein Berliner“ Wer kennt diesen Ausspruch John F. Kennedys vor dem Rathaus Schöneberg nicht, an dem es gerade vorbei geht?  Wenn es in Berlin so etwas gibt wie ländliches Ambiente, dann zwischen km 27 und 29. Hier stehen Häuserzeilen mit wenigen Stockwerken. Die einzige Verpflegungsstelle mit Gel-Tütchen wartet auf uns. Ansonsten gibt es mindestens alle fünf Kilometer Wasser, Iso, Tee, Bananen, Äpfel. Dazwischen Wasser und Schwämme. Am Anfang auf beiden Laufseiten, dann einseitig. Drei bis fünf WC-Häuschen in der Nähe. Zertretene Plastikbecher säumen den Weg. Der einzige Barfußläufer, den ich gesehen habe, bekam damit so seine Probleme.

Leider verliere ich Judith aus den Augen. Sie wird sicher noch mit dem Gel-Tütchen kämpfen. Wieder die bange Frage: Vor oder hinter mir? Wann gibt es endlich eine Laufuhr, die mir das beantworten kann? Ich bin so aufgewühlt, dass ich einfach weiter mache. Hier sollten auch zwei Bekannte auf uns warten. Aber ich hatte schon vermutet, dass wir uns in diesem Getümmel verpassen werden. Dafür steigt die Zuschauerdichte stark an. Ein Blick fällt auf ein Plakat mit einem Wildschwein: Der berühmte Wilde Eber ist erreicht. Traditionell geht hier die Post ab. Die Empfehlung des Veranstalters an alle Marathonis lautet denn auch: „Jetzt die Sau rauslassen“.

 

 

Weiter Richtung Wilmersdorf. Km 36 Kurfürstendamm. Die City-West wartet auf uns. Vor uns die Gedächtniskirche. Der hier verlegte blaue Untergrund der Laufstrecke löst sich gerade auf. Verdi macht Musik für uns. Dann am KaDeWe vorbei. Das Kaufhaus des Westens ist einer der bekanntesten Shopping-Tempel des Kontinents, insbesondere die Feinkostabteilung soll riesig sein. U-Bahn Wittenbergplatz. Ich ziehe mein Programm durch, etwas langsamer, aber dafür konstant Richtung Berlin Mitte. Am Nollendorfplatz wird die Untergrundbahn zur Hochbahn. Verleiht quasi Flügel. Daher auch das Energiegetränk – leicht verdünnt, damit es nicht auf den Magen schlägt.

Der Landwehrkanal wird überquert. Vor uns die Staatsbibliothek und die in gelb gehaltene Philharmonie. Dann das neue Berlin: Die Gebäude um den Potsdamer Platz. Bis 1989 war hier Todesstreifen, also Sandboden. Jetzt Sony-Center, DB-Hauptverwaltung. Dann gleich der achteckige Leipziger Platz. Bundesrat, Bundesministerium der Finanzen. An der Leipziger Straße baute die DDR große Wohnblöcke mit Blick auf Kreuzberg. Sehnsüchtig warte ich auf die Linkskurve, welche die finalen zwei Kilometer ankündigt. Langsam wird’s doch anstrengend. Gut, dass es noch mal etwas zu trinken gibt.

 

 

Gemeinhin wird der folgende Gendarmenmarkt mit dem Deutschen und dem Französischen Dom sowie dem Konzerthaus als schönster Platz Berlins bezeichnet. Heute bei diesem Sonnenschein glaube ich das gerne. Sogar in der von Bürogebäuden gesäumten, recht öden Französischen Straße stehen die Zuschauer recht zahlreich. Unglaublich.

Noch eine Kurve, dann schwenken wir auf Unter den Linden ein. Erdinger-Weißbier-Zone. Aber nur mit Cheerleadern. Den Zuschauer scheint es zu gefallen. Für uns wartet das flüssige Gold im Ziel. Links wäre das riesige Gebäude der Botschaft der russischen Föderation. Der letzte blaue Bogen gibt den Blick auf das Brandenburger Tor frei.

Pariser Platz, Hotel Adlon. Die Zuschauer stehen in mehreren Reihen am Rand. Durchs Brandenburger Tor und dann die letzten 200 Meter, wieder im ehemaligen Westsektor. Links vor der Zuschauertribüne das Mahnmal „Der Rufer“: Der Nachguss der Bremer Plastik von Gerhard Marcks wurde 1989 zum 100. Geburtstag des Künstlers hier aufgestellt.

 

 

Rechts taucht kurz ein Panzer vor dem Sowjetischen Ehrenmal auf. Wer hat dafür schon Augen. 10 Meter vor dem Zielbogen drehen sich Läufer um, für ein Foto vom Brandenburger Tor. Ich hebe mir das für gleich auf. Unendlich viele Läufer kommen ins Ziel. Irgendwo muss doch Judith sein. Jeder bekommt die Zeit, mal kurz innezuhalten und eventuell ein Erinnerungsfoto zu schießen. Die vielen freundlichen Helfer fordern erst zum Weitergehen auf, wenn es zu eng wird. Kein Kasernenton. Ich lasse mich treiben, mache viele Fotos von Läufern. Leider verdecken der Zielbogen und eine Fußgängerbrücke das Brandenburger Tor.

Eine schwere Medaille. Meine erste mit schwarz-rot-goldenem Band. Wärmefolien werden gereicht, trotz der sommerlichen Temperaturen. Kurze Zeit später werfen die Läufer die Folien wieder weg.

Getränke und weiter geht’s. Leider treffe ich Judith nicht. Dann halt am vereinbarten Treffpunkt beim Ausgang. Wieder kein Gedränge bei der Taschenabholung. Viele Läufer liegen in den Sonnenflecken der Bäume. Ein friedliches Bild. Erdinger Alkoholfrei bis zum Abwinken und ohne Anstehen. Vielleicht liegt die Ausgabe hier zu abseits? Eine reich gefüllte Verpflegungstasche wartet auf mich. Endlich treffe ich eine strahlende Judith: 3:59:58. Noch Fragen? Ich war bis gerade mit meinen 4:08:30 ganz zufrieden. Da habe ich auf den letzten 15 Kilometern genau 30 Sekunden pro Kilometer verloren. So etwas passiert, wenn man seinen Hasen aus den Augen verliert. Wer Statistiken liebt, wird auf der Internetseite der Berliner Morgenpost fündig: Ich erfahre, dass ich in allen Wertungen in der zweiten Hälfte liege. So auch unter den 399 Münchner Finishern.

 

 

Der SCC lädt alle Teilnehmer ein, sich noch ein Weilchen vor dem Reichstag auszuruhen. Wir machen davon keinen Gebrauch: Schnell ein Bild vor dem Bundeskanzleramt, dann treibt es uns weiter. Als Straßenbahnfreund muss ich auf die Innotrans-Messe, die heute einen Publikumstag veranstaltet. Dort sind auf 3,5 km Länge Straßenbahnen und Züge ausgestellt. Uns wird mit den Medaillen viel Aufmerksamkeit zuteil: Wer ist schon so verrückt, nach einem so langen Lauf auch noch eine Messe zu besuchen? Überhaupt wird einem in Berlin von vielen Menschen gratuliert, echt toll.

Dann noch Sightseeing in Friedrichshain und zur Marathonparty ins „Kosmos“ an der Karl-Marx-Allee, einst größtes Kino der DDR und heute Veranstaltungszentrum. Dort wird hinter der Bar der Film vom Zieleinlauf der ersten Männer und Frauen gezeigt. Unglaubliche Geschwindigkeiten, wenn auch der Weltrekord um 7 Sekunden verfehlt wurde.

 

Der Tag danach

 

Wir fahren erst um 15:30 Uhr zurück. Beim Schlendern durch die Stadt fallen uns viele Marathonshirts auf. Viele tragen dazu noch ihre Medaillen. Die Gravur des netten Armbands mit der Zielzeit sparen wir uns: Die Schlange vor dem Adidas-Shop beim Kudamm ist endlos und für 40.000 Armbänder steht anscheinend nur eine Maschine zur Verfügung.

Im Schnellrestaurant beim Zwischenhalt in Fulda treffen wir noch einen Läufer mit Berlin- Marathon-Armband. Eine tolle Marketingidee.

Ein außerordentlich beeindruckender Marathon liegt hinter uns. Ein Lauf, den man erlebt haben muss. Ich verstehe jetzt auch, dass man ihn öfter absolvieren muss, um alle Facetten der Großstadt aufzunehmen. Die Stimmung an der gesamten Strecke ist phänomenal, die vielen Bands tun ein Übriges. Ich bin hin und weg.

Zusätzlich zum Marathon Wettbewerbe für Handbiker, Rollstuhlfahrer, Inline-Skater, Powerwalker und Kinder sowie ein Frühstückslauf. Insgesamt wurden rund 70 000 Teilnehmer/innen mobilisiert.

Starter beim Marathon: 37.077 (41283 gemeldet), Finisher: 36.054, geschätzte Zuschauerzahl: eine Million.

Läufer aus 122 Nationen
Läufer aus Deutschland: 24.137
100 Sportler mit Doppelstart Inline/Marathon

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