Die Marathontradition in Chemnitz ist älter als die des Sparkassen-Marathons. Bereits 1967 fand im damaligen Karl-Marx-Stadt der erste Marathon statt, der sich schnell etablierte und über 20 Jahre eine der bedeutendsten Laufveranstaltungen der DDR war. Bereits bei der ersten Auflage konnte Jürgen Busch mit 2:16:40 Stunden einen nationalen Rekord aufstellen. Waldemar Cierpinski legt hier mit der Olympiaqualifikation den Grundstein für seine Olympiasiege 1976 und 1980.
Leider endete diese Tradition vorerst Anfang der 2010er, als vor Ort letztmals ein Marathon ausgetragen wurde. Dass man dem Laufsport immer noch tief verbunden ist, zeigt die Idee, als Kulturhauptstadt Europas 2025 an diese Tradition anzuknüpfen.
Gründe genug für Silke und mich, unsere Wissenslücken zu schließen und die Metropole im Westen von Sachsen einmal kennenzulernen. Die Anreise erfolgt deshalb bereits am Freitag, um am Folgetag Zeit genug für eine Erkundungstour zu haben. In der Innenstadt erwartet uns das Konzert eines Posaunenchores vom Turm des Rathauses. Wie wir von Einheimischen erfahren, erklingen die Posaunen hier regelmäßig am Freitag.
Wir machen uns weiter auf den Weg zur Stadthalle, in der ab 10 Uhr die Startnummern ausgegeben werden. Eine lange Warteschlange zeugt vom großen Interesse an dieser Laufveranstaltung. Über 8.000 Teilnehmer sind gemeldet. 1.045 davon werden sich schließlich in der Marathon-Finisherliste wieder finden. Alle Übrigen sind als Staffel oder über den Halb- bzw. Viertelmarathon auf der Strecke.
-----------------------------------------------------
(Silke Pitz)
Der Rest des Tages ist intensivem Sightseeing vorbehalten, praktisch im Vorgriff auf den Marathon morgen, bei dem die Halbmarathonrunde zweimal gelaufen wird und nach 10 Kilometer durch die Innenstadt führt. Sehenswert, aber nicht an der Laufstrecke, ist der Kaßberg, eine beliebte Wohngegend, bei den Bombadierungen im 2. Weltkrieg nahezu unbeschadet blieb und noch heute als eines der größten Jugendstilviertel in Europa gilt. Sehenswert ist auch die alte kaiserliche Oberpostdirektion am Stephanplatz. Viele Promis wie z. B. Stephan Heym oder Matthias Schweighöfer haben hier ein Domizil.
Vom Hotel kommen problemlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Rathaus. Die letzten Teilnehmer bekommen noch ihre Startnummer. Vor dem Startbogen treffe ich Herbert aus Linz mit seiner Frau Evi. Nach Abgleich unserer Zielzeiten ordnen wir uns gemeinsam im hinteren Feld ein. Der Startbereich füllt sich jetzt schnell und es wird eng vor dem Rathaus. Vorne wird Waldemar Cierpinski interviewt und zum derzeitigen Laufboom in Deutschland befragt.
„We will rock you“ spornt uns an und wir können den Startschuss kaum erwarten. Als er um 9 Uhr ertönt, bleiben Herbert und mir nur 2 Minuten bis zu Messmatte. Es geht los. Nach wenigen Metern verlassen wir die Enge der Innenstadt und laufen auf großzügig angelegten Straßenzügen nach Süden. Wie so oft, sind wir auf den ersten Kilometern zu schnell unterwegs. Dann gilt einem eisernen Viadukt, liebevoll als liegender Eiffelturm bezeichnet, unsere Aufmerksamkeit.
Bei KM 2 überqueren wir erstmals die Chemnitz. Der Fluss durchquert die Stadt von Süd nach Nord und gab ihr auch seinen Namen, der aus dem sorbischen stammt und Steinbach bedeutet. Anschließend folgen wir der Strecke durch Wohn- und Industriegebiet, um zum Stadtpark zu kommen. Verena begrüßt mich überschwänglich als laufenden Reporter. Sie hat auch schon mal berichtet. Bei KM 3,5 warten schon die Rocket Kings, um mich mit „Rockin‘ all over the world“ am Laufen zu halten. Sie bilden einen von 20 Unterhaltungspunkten, an denen den Marathonis eingeheizt wird. Wenige Meter weiter erreiche ich bei KM 4 die Strecke des ursprünglichen Karl-Marx-Marathons. Er führte im Gegensatz zu heute über 8 Runden durch den Stadtpark. Teilweise wurde die Strecke asphaltiert, um beste Laufbedingungen zu gewährleisten.
Auf den nächsten Kilometern durch den Stadtpark bieten zahlreiche Bäume Schutz vor Wind und spenden Schatten. Etwas, was ich heute noch schätzen werde, denn das Wetter spottet der Prognose. Vom vorhergesagten Regen fallen lediglich am Ende der Veranstaltung Tropfen. Dafür strahlt die Sonne meist umso mehr.
Am Verpflegungspunkt bei KM 6 wird neben Wasser auch Cola gereicht, auch Bananen sind im Angebot. Frisch gestärkt geht’s weiter. Fahnenschwenker zeigen ihre Kunst. Kurz darauf treffen wir auf der Beckerstraße ein zweites Mal auf ein kurzes Begegnungsstück. Noch sind wir also schnell genug unterwegs. erst kurz hinter KM 9 überholen uns die Pacemaker für eine Zielzeit 4:45 Stunden. Wir lassen sie ziehen.
Nur wenige Meter trennen uns noch von der Innenstadt, Evi und Silke erwarten uns. 10 KM liegen schon hinter uns. Wir biegen nach links in die Bretgasse ein, die uns zuvor nach Süden führte. Mit dem Blick auf das Rathaus und dem Kopfsteinpflaster unter den Füßen fühle ich mich an die Salzstraße in Münster erinnert.
Links geht es um das alte Rathaus und die St. Jacobi-Kirche herum. Die romanischen Ursprünge des Sakralbaues reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Mit diesem schönen Anblick beginnt die nördliche Schleife der Marathonstrecke. Diese wird noch mehr architektonische Leckerbissen bereithalten. Der nächste wird bereits bei KM 11 geboten: die alte Markthalle. Erbaut 1890, erinnert sie an die Zeit, als Chemnitz eine prosperierende Industriestadt war und auch das Manchester Sachsens genannt wurde. Genutzt wird das Gebäude jetzt für Gastronomie und Kultur. Derzeit beherbergt sie eine Ausstellung des bekannten Fassadenkünstlers Banksy.
Links an der Hartmann-Fabrik wartet nicht nur der nächste Verpflegungspunkt, sondern auch das Herz der Kulturhauptstadt Chemnitz. Das heutige Gebäude ist lediglich noch ein kleiner Teil der ursprünglichen Fabrikanlagen aus dem 19. Jahrhundert. Neben zahlreichen anderen Maschinen verließen zwischen 1848 und 1929 4.699 Lokomotiven die Werkhallen, die teilweise in alle Welt geliefert wurden. Cheerleader weisen uns den weiteren Weg.
Bei KM 13 umrunden wir den Schlossteich, um kurz darauf den Schlossberg zu erklimmen. Dabei darf man den Begriff durchaus wörtlich nehmen, denn auf kurzer Strecke sind steile 40 Höhenmeter zu bewältigen. Begrüßt werden wir von Kuhglockengeläut, begleitet vom Applaus zahlreicher Zuschauer. „Coole Socken“, ruft man uns nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal zu.
Auf dem Schlossberg wartet zwar kein Schloss, aber der Küchwaldpark den wir bis KM 16 durchlaufen. Ich genieße den Schatten der Bäume. Nach der Steigung schaffen wir es, wieder in einen gleichmäßigen Laufschritt zu verfallen. Das Ensemble Amadeus spielt gerade „Muss sie denn zum Städele hinaus.“ Eine Empfehlung, der nicht zu folgen ist. Denn nur bis KM 17 führt die Strecke noch stadtauswärts. Am nördlichsten Punkt der Strecke wartet der nächste VP am Heizkraftwerk Nord, leicht zu erkennen am mächtigen Schornstein. Die bunte Esse ist das höchste Gebäude in Chemnitz.
Gut gestärkt sind wir wieder am Fluss angekommen, dem wir zurück nach Süden folgen. Erst begeistert noch die Industriearchitektur, dann die „Draufgänger Guggis“ mit ihren schrägen Klängen ein. Der Schlossteich wird erneut bei KM 19 erreicht. Bevor ich nach links abbiege, bewundere ich die Mitstreiter, die jetzt geradeaus erst den Schlossberg erklimmen. Ich bin froh, diesen hinter mir zu haben und erfreue mich an dem vielen Grün der Stadt. Bevor wir den Schlossteich endgültig verlassen, heizen uns die intensiven Beats von „Kukaye Moto“ ein.
Es verbleiben auf dem kurzen Stück noch ein paar Highlights. Kurz hinter KM 20 wartet neben der Petrikirche das Theater Chemnitz. Um den Bau aus dem Jahre 1909 gebührend würdigen zu können, führt die Strecke einmal um den gesamten Platz. Vorbei am Nischel, dem berühmtesten Wahrzeichen der Kulturhauptstadt. Der mitteldeutsche Begriff für Kopf gilt natürlich der 40 Tonnen schweren Plastik von Karl Marx, der mit seiner Philosophie die Grundlagen für den Sozialismus schuf. Von 1953 bis 1990 war die Stadt nach ihm benannt.
Als es Richtung neues Rathaus und Zielbereich geht, sehen wir den roten Turm. Erbaut Ende des 12. Jahrhunderts war er Teil der Stadtbefestigung und ist heute das älteste erhaltene Gebäude der Stadt. Zeitweise diente der Turm als Gefängnis. August Bebel, Begründer der deutschen Sozialdemokratie, saß dort ein.
Ende der ersten Runde. Leichtfüßig nehme ich die zweite Hälfte in Angriff, nicht ohne einen Blick auf die zu erobernden Medaillen zu werfen. Im Startbereich warten die Halbmarathonis auf den Startschuss.
Das Marathonfeld ist jetzt so weit auseinander gezogen, dass ich die Strecke fasst für mich habe. Dann muss beim liegenden Eiffelturm auch noch Herbert abreißen lassen. Abwechslung bieten immerhin etliche Zuschauer, die engagierten Helfer und die Musikgruppen, die wie die Läufer Ausdauer zeigen. Auch wenn ich jetzt langsamer werde, komme ich gut voran. Im Stadtpark auf derselben Strecke wie einst Waldemar Cierpinski unterwegs zu sein, motiviert.
Bei KM 29,5 kommen mir auf einem kurzen Begegnungsstück die Halbmarathonläufer entgegen. Die Schnellsten von ihnen werden mich bald einholen. Kurz darauf wird erneut das alte Rathaus erreicht und ich befinde ich mich auf der Nordschleife. Markthalle und Hartmann-Fabrik, der Gitarrist am Schlossteich empfängt mich mit „Heart of gold“. Bevor ich den Schlossberg hinaufkraxle, bewundere ich den Barfußläufer, der den Zeitmesschip in der Hand trägt und den vielfältigen Straßenbelägen trotzt. Dann begleiten mich die Kuhglockenklänge den Berg hinauf. Abklatschen darf ich auch.
35 Kilometer liegen hinter mir, als mich die ersten Halbmarathons ein. Schnell werden es immer mehr und bald ist auf der Strecke richtig was los. Notger und Sven sind als Tempoläufer für 5 Stunden unterwegs, im Schlepp Debütantin Runa. Sind sie zu schnell, oder bin ich zu langsam? Wir einigen uns, gut in der Zeit zu liegen. Wir tauschen uns über diverse Marathonläufe aus und sind uns einig, dass der heutige Lauf eine echte Empfehlung ist. Vielleicht beginnt ja eine neue Serie.
KM 40 ist erreicht. Am Schlossteich warten meine Freunde mit den Kuhglocken. Die letzten zwei Kilometer lasse ich die Pacemaker ziehen und genieße die Eindrücke und Atmosphäre. Artig verabschiede ich mich vom Nischl, bewundere noch einmal die die Stadthalle mit dem Charme der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts und lasse mich dann von der Begeisterung der Zuschauer ins Ziel tragen, wo mein Heart of gold, Silke, bereits auf mich wartet.
Reichhaltige Verpflegung rundet die gelungene Veranstaltung ab. Bleibt als Fazit: Wer laufend Kultur erleben möchte, bekommt in Chemnitz viele Gelegenheiten.