Wir schreiben Samstag, den 20. März 2010. Es ist 6:30 Uhr und ich stehe etwa 40 Kilometer östlich vom Berliner Alexanderplatz im Bundesleistungszentrum Kienbaum/Grünheide an der Startlinie des 30. 100-Kilometer-Laufes.
Nach 25 Marathons, 6 Ultras und etlichen Läufen auf Unterdistanzen gehe ich zum ersten Mal in meiner Läufer-Laufbahn eine dreistellige Distanz an. Schweißnasse Hände und eine unruhige, fast schlaflose Nacht zeugen von meiner Nervosität und Ehrfurcht von dieser Strecke. Bestand doch meine längste, bisher zurückgelegte Strecke aus den 78,5 Kilometern des K78 in Davos, den ich 2008 erfolgreich absolvieren konnte.
Beruhigend war da der Hinweis eines Kameraden meines Heimat-Laufvereines: Wer den K78 meistert, hat die Kondition für etwa 93 bis 94 Kilometer auf der flachen Strecke. Na, die restlichen 7 Kilometer schaffe ich ja dann auch noch, egal wie.
Gerhard und ich machten uns am Freitag morgen auf den Weg vom Süden der Republik ins rund 600 Kilometer entfernte Kienbaum. Staufrei und beinahe ohne Probleme erreichten wir am frühen Nachmittag das Bundesleistungszentrum in Kienbaum.
Das Bundesleistungszentrum Kienbaum ist ein Spitzensportzentrum in Deutschland und dient Kaderathleten, auch die des Behindertensports, als Trainingszentrum für die Vorbereitung auf nationale und internationale Höhepunkte. Neben so ziemlich allen leichtathletischen Disziplinen werden hier Trainingsmöglichkeiten für zahlreiche Ballsportarten, Turnen, Boxen, Wassersport und vieles mehr geboten.
Für die Übernachtung bezogen wir unser Zimmer im Unterkunftsgebäude Kienbaum II im hinteren Teil dieses riesigen Geländes am Liebenberger See. Die Startnummernausgabe war im benachbarten Seminargebäude. Auch die Umkleiden und der Start und Ziel waren direkt angrenzend, somit war dies eine Veranstaltung der sehr kurzen Wege.
Nachdem wir unsere Startnummern abgeholt und ein Informationsblatt für den Streckensprecher ausgefüllt hatten, machten wir uns auf den Weg zur Pastaparty. Diese war im Speisesaal des Bundesleistungszentrums im vorderen Bereich des Geländes. Es gab zweierlei Sorten Nudeln und Soßen, ein Beilagensalat und auch ein Nachschlag war im Preis dabei. Man durfte sich sogar selber schöpfen. Für eine Großküche waren der Geschmack und die Qualität hervorragend.
In der benachbarten Bar genossen wir noch ein kühles Hefeweizen. Zwei große Plakate mit etlichen Autogrammkarten diverser Athleten erregte unsere Aufmerksamkeit. Der Barkeeper eröffnete uns daraufhin, dass es bisher nur ein Marathoni auf diese Plakate geschafft hat: Waldemar Cierpinski. So ein Mist, hatte ich ausgerechnet heute keine von meinen Autogrammkarten dabei. Aber nächstes Mal sind die im Koffer, versprochen. Dann gibt es zwei Marathonis in dieser Hall of Fame.
Nach dem Rückmarsch in die Unterkunft erfolgte die schon geschilderte unruhige Nacht, die um 4 Uhr mit dem unerbittlichen Klingeln des Handys endete. Das Frühstück konnten wir im benachbarten Seminargebäude einnehmen. Es wurde alles, was das Läuferherz begehrt, aufgeboten.
Derart gestärkt trafen wir unsere letzten Vorbereitungen auf diesen Lauf. Im Start- und Ziel-Bereich wurde vom Veranstalter ein Pavillon aufgestellt, unter dem wir unsere Wechselkleider ablegen konnten. Wegen den doch recht kühlen Temperaturen entschied ich mich für die dreiviertel-Hose und einem langen Laufshirt unter einer Laufjacke. Ein zweites Paar Laufschuhe und ein kurzes und langes Laufshirt deponierte ich zusammen mit meinen Gels und Salztabletten in einem Beutel unter dem Pavillon.
Der Organisationsleiter Gerd Schlarbaum richtete noch ein paar Worte an uns Teilnehmer, zählte die letzten Sekunden herunter und entließ uns mit einem Startschuss um Punkt 6:30 Uhr auf die Strecke.
Unmittelbar nach dem Überqueren der Start- und Ziel-Linie macht die Strecke einen Linksknick und es ging zum ersten Mal vorbei an den Verpflegungsständen, die neben Wasser, Tee, Iso und Cola gegen später auch noch Bier (mit Alkohol) anboten. Zu Essen gab es Bananen, Rosinen, Butterkekse und Haferschleim. Im Anschluss an die Verpflegungsstände des Veranstalters hatte jeder Läufer die Möglichkeit, seine eigene Verpflegung zu deponieren.
Neben den 58 Athleten, die die lange Distanz von 100 Kilometern in Angriff nahmen waren auch 22 Läufer, die 50 Kilometer laufen wollten, sowie noch zwei Staffelläufer, die sich mit ihren Vereinskameraden die 100 Kilometer aufteilten. Hierbei war die Anzahl der Staffelläufer und Wechsel innerhalb des Teams nicht limitiert. Der Wechsel hatte aber immer im Start- und Ziel-Bereich zu erfolgen.
Es folgte eine nahezu gerade Passage entlang des Waldstückes im rückwärtigen Bereich des Geländes. Nach etwa einem Kilometer liefen wir in einem Rechtsknick auf die Bitumen-Rundbahn der Anlage entgegengesetzt zur vorherigen Laufrichtung.
Wir liefen in das Waldstück der Anlage. Nach rund 800 Metern verließen wir die Bitumen-Rundbahn, die eine Gesamtlänge von 2,5 Kilometern aufweist, und kamen auf ein kurzes Trail-Stück. Eventuelle Stolperfallen waren hier sehr gut farblich gekennzeichnet. Am Ende dieses Trail-Stückes kamen wir zum Zwei-Kilometer-Schild, ehe es wieder auf die Bitumen-Rundbahn ging.
Sanft ansteigend verließen wir wieder den Wald. In der Schlusskurve der Rundbahn entdeckten wir eine Start-Markierung. Diese war für die Läufer gedacht, die um 11:00 Uhr zum Marathon antraten, es waren also noch 2,2 Kilometer bis zum Ziel. Bei Kilometer 3 verließen wir mit einer Rechtskurve wieder die Rundbahn. Hier wurde eine weitere Wasserstelle aufgebaut, was sich im weiteren Verlauf des Rennens als sehr nützlich erweisen sollte.
Wenige Meter später verließen wir das Gelände des Bundesleistungszentrums und kamen mit einem Linksschwenk auf die Hauptstraße des Ortes. Ordner und Absperrhütchen sorgten dafür, dass wir Läufer gefahrlos eine Seite dieser Straße für uns beanspruchen konnten. Rund zweihundert Meter später betraten wir wieder das Gelände. Wir kamen an der Kantine und diversen Trainings- und Übernachtungsgebäuden vorbei. Am sogenannten Werferhaus, aus dem die Speer- und Diskuswerfer ihre Sportgeräte schleudern konnten, waren vier Kilometer dieses fünf-Kilometer-Rundkurses absolviert. Im Werferhaus hatte man auch die Möglichkeit, Villeroy und Boch Guten Tag zu sagen.
Wir passierten unser Unterkunftsgebäude, drehten noch eine Ehrenrunde im Innenhof zwischen Unterkunft, Seminargebäude und Sporthalle und passierten die Start- und Ziellinie. Wir verpflegten und nahmen die nächste Runde in Angriff.
Schon innerhalb kurzer Zeit hatte sich das Feld weit auseinander gezogen. Gerd und ich liefen gemeinsam, quasselten und so flogen die Kilometer nur so an uns vorbei. Mit dabei war noch die führende Frau, und bewusst oder unbewusst, übernahm jeder mal die Führung und so bildeten wir einen sehr gut funktionierenden Kreisel. Die Profis bei der Tour-de-France hätten sich da eine Scheibe von uns abschneiden können.
Harri, der die Internetseite es Laufes pflegt, war auch als Streckenfotograf unterwegs. Als er zu Beginn unserer siebten Runde mit seinem Objektiv auf uns zielte, rief ich ihm entgegen: „Kilometer 36 und die Frisur hält“. Tja, zum Scherzen waren wir da immer noch aufgelegt.
Schon komisch, bei einem Marathon ist man bzw. frau nach dieser Distanz am kämpfen und versucht, dem Mann mit dem Hammer zu entkommen. Da wir ja aber noch rund zwei Drittel der Laufstrecke vor uns hatten, gab es von ihm keine Spur, wir waren sozusagen erst richtig warm gelaufen.
In der Zwischenzeit hatte es auch zu regnen angefangen. Dieser Regen sollte uns für die nächsten zwei Stunden begleiten. Wir ließen uns aber nicht beirren und drehten weiter gemeinsam unsere Runden. Nach jeder Runde machten wir einen kurzen Stopp und verpflegten uns ordentlich.
Es folgte Kilometer 42 - und was war das: Meine Uhr zeigte eine Zeit knapp über vier Stunden. Ich war rund 14 Minuten schneller als bei meinem Trainingsmarathon, den ich eine Woche zuvor im pfälzischen Kandel absolvierte. Aber es fühlte sich immer noch gut an.