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Laufberichte

Der Rennsteiglauf gehört verboten!

16.05.09
Autor: Joe Kelbel

„Ich schlage vor, alle damit zusammenhängende Fakten einer gründlichen Überlegung und Prüfung zu unterziehen!“ So schrieb der zuständige Staatssekretär der DDR, Prof. Dr. Erbach. Das war 1974.

Es begann als Experiment Anfang der 70er Jahre. Orientierungsläufer aus Weimar und Jena wollten erproben, was man seinem Körper an Anstrengung aufbürden kann. Bevor sie an die physischen Grenzen ihrer Körper gelangten, stießen sie auf organisatorische und politische Grenzen. Der Rennsteig lag nunmal im Grenzgebiet zu Westdeutschland, die DDR Führung drückte es diplomatisch aus : „..keine sportpolitische, sportliche oder sportmedizinische Notwendigkeit.“

Dieser Anordnung widersetzten sich glücklicherweise 1975 die „Partisanen“ der  Universität Jena und „der Sekretär der Universitätssportkommission, der gleichzeitig Vorsitzender der Fachkommission Orientierungslauf beim Präsidium für Hoch-und Fachschulsport der DDR war“, reichte eine Ausschreibung für eine 100 km- Leistungswanderung ein.

Auf Anhieb traten über 500 Teilnehmer an, denn anders als bei den Wessis, gab es für DDRler keine Möglichkeit in New York, am Toten Meer oder durch die Sahara zu laufen.

Die DDR-Führung hielt in den Folgejahren an der Nichtanerkennung des Rennsteiglaufs fest, internationale Starter waren nicht zugelassen, selbst „befreundete“ Sportler aus den kommunistischen Nachbarländern durftten nicht teilnehmen. Nur einige wenige Läufer aus der  Bundesrepublik durften teilnehmen, weil sie Mitglieder der DKP waren.

Was aber verboten ist, übt seit der Existenz der ersten beiden Menschen einen starken Reiz aus, und westdeutsche Läufer, die schon überall auf der Welt gelaufen waren, suchten den letzten Kick. Sie  versuchten illegal über Verwandte in der DDR eine Startberechtigung zu erlangen. So eine Teilnahme ging nur unter falschem Namen, da alle Startunterlagen über  den  Personalausweis geprüft wurden. Gelang es westlichen Sportlern, diese Hürde zu umgehen, so durften sie dann nicht zu schnell laufen, da es spätestens bei der Siegerehrung den Mitarbeitern des MFS aufgefallen wäre, wenn bis dahin unbekannte Sportler auf dem Siegerpodest erschienen wären.

Hunderten Westdeutschen gelang es in all den Jahren verbotenerweise am Lauf teilzunehmen. Der Rennsteiglauf mutierte damit aber auch  zeitgleich zum Stasilauf, da bei jedem Lauf hunderte von offiziellen Mitarbeitern zur Verhinderung von „Westkontakten“ mitlaufen mussten. Sie wurden gemeldet unter „Dynamo“,“Wachregiment“ o.ä. und bekamen dafür im Anschluß  einige Tage dienstfrei.

1989 berichtet der IM Friedrich Jahn  über den Versuch von drei Personen,

„die kurzfristig eine zulassung zum o.g. lauf erwirken wollten.....im gespräch kam zum ausdruck, dasz es sich um brd-bürger handelt.

1. person: rentner, soll aus münchen sein (spitzname „tarzan“)
2. person: soll ein journalist sein
3. person: keine angabe

o.g. buerger boten dem ...fuer eine kurzfristige zulassung westliche waehrung, die dieser jedoch ablehnte.“

(Schreibweise aus dem Originaldokument Nr. 103 vom 30.5.1989 übernommen).

Ein Mythos war geboren: verboten, gefördert, verehrt, geduldet,geliebt, gewagt, gewonnen. Das ist der Rennsteiglauf.

Allein die seit Jahrhunderten währende Existenz des Rennsteigs als Grenz-und Patroillenweg, als Grenze zwischen Ländern und Sprachen, hat den Rennsteig laufenswert gemacht. So wie ein Berg bestiegen werden muss, weil er da ist, so muß der Rennsteig gelaufen werden, weil er existiert.

Etwa 2000 Läufer (davon etwa 300 Frauen), so viele wie nie zuvor, werden den Supermarathon über 72,7 km in Angriff nehmen, über 3000 den Marathon. Weiterhin gibt es noch den Halbmarathon und Walkerstrecken, Junior-und Spezialcross. Über 15.000 Sportler werden im Thüringer Wald erwartet, aus 32 Nationen. 1500 Helfer schaffen erstklassige Bedingungen und 181 Bergretter stehen für die Versorgung von wunden Füßen, oder mehr bereit.

„Ihr lehrt Religion, ihr lehrt Bürgerpflicht,
Auf ihres Körpers Wohl und Bildung seht ihr nicht“

So schrieb GutsMuths im 18 Jahrhundert. Damit dürfte klar sein, daß Johann Christoph Friedrich GutsMuths nicht der Sponsor , sondern quasi der Pilates vom Goethe war. Sein 250ter Geburtstag wird dieses Jahr gefeiert.

Die eigenwillige Schreibweise seines Namens war übrigens seine eigene Erfindung, also war er genauso bekloppt wie sein neuester Anhänger, der jetzt in Eisenach am Bahnhof ankommt, um GutenMuthes am nächsten Tag den Höhenweg zu meistern.

Die Stadt brodelt. In jeder Straße, in jeder Ecke sind Marathonläufer. Finisher-shirts in allen Farben, aber meistens mit den magischen 4 Buchstaben: BIEL.
An fast jedem Straßenschild sind Hinweisschilder zur Startnummernausgabe. Aus jedem fast jedem Gebäude kommt ein Läufer. Ein lautes „Hallo“ und „Mensch bist du auch hier?!“

Vom Marktplatz schallt schon das Rennsteiglied herüber. Hier im Festzelt woher die Musik kommt, treffen sich die Ultras.Köstritzer ,Rotkohl und Klöße...Mannmannmann ist das geil!

Das Gerücht hat sich bestätigt: Erstmals treten auch hier zwei Läufer aus Kenia an, wenn auch nur für den Marathon. Auch wenn es beim Rennsteiglauf immer wieder heißt, dabei sein ist alles, darf man gespannt sein, an welcher Position die beiden  den Zielstrich in Schmiedefeld überqueren.

Erstaunt bin ich, daß Carmen Hildebrand hier ist. Schließlich hat sie letztes Wochenende erst den 24Std-Lauf in Basel gewonnen!Sie lacht und umarmt uns lahme Ultras.

Den ganzen Abend verbringe ich im Festzelt. Die Chaoten aus ganz Deutschland stehen für die fetten Klöße, mit Rotkohl und Gulasch  an. Es ist ne unvorstellbare Party, Klasse Musik und als spät in der Nacht ein gewaltiges Ungeheuer seine drohend-schwarzen Flügel über der im Nebel erleuchteten Wartburg ausbreitet, da klappe ich, zusammen mit Vizeweltrekordler Chriastian Hottas noch die Tische zusammen.

Ich bin kaum im Hotel, da kracht es los: Die Niagarafälle von Eisenach. Feuerzungen  zucken über der vernebelten Wartburg. Ich laß das Fenster ein wenig offen, um dieses Schauspiel zu genießen und döse im Rauschen des Regens weg. Irgendwann, weit nach Mitternacht tut es einen riesen Schlag.

Hitchcock hätte einen Riesenspaß gehabt:  Im Flackern der Blitze fliegt das Fenster  krachend auf, der Vorhang breitet seine häßlichen schwarz-nassen Flügel weit auf und reißt eine blöde Vase mit blöder künstlicher Rose und blöden weißen Kieseln zu Boden. Ein Riesenradau!

Das Glitzern des Regens vermischt sich mit den Glassplittern und im Lichtschein der Blitze  meine ich,  ein großes, weiße R auf dem schwarzen Teppichboden zu erkennen. Heute nacht schläft kein Rennsteigläufer.

Samstag 16.05.09. 5:30 Uhr.

Die Wartburg hängt immer noch im Nebel, der leichte Wind lässt die Regentropfen von den Bäumen perlen. Aber Eisenach lebt! Aus allen Ecken kriechen buten Läufer hervor.

Ziemlich bedeppert stehe ich auf dem kleinen Marktplatz von Eisenach. 2000 Supermarathonläufer und Angehörige bringen die Stadt zum Brodeln. Ich blicke auf zum goldenen Georg, dem Drachentöter. Ich weiss, daß es direkt hinter dem Nikolaitor steil bergauf zum Drachenstein geht. Ich habe den Drachen heute Nacht gesehen! Ich habe keine Angst!

Es ist eine ruhige,enspannte Stimmung. Keine Hektik. Man steht einfach irgendwo rum und wartet. Kein Startblock, nur Marktplatz. Man quatscht und macht Fotos, einfach so. Man kennt sich.

Ich denke an all die Schwierigkeiten, die auf dem Weg zum Rennsteig lagen: Mein Krankenhausaufenthalt letztes Jahr, als ich wegen einer Sepsis, die ich durch eine Marathonblase erlitt, beinahe Bekanntschaft mit den  Würmern machte, dann  meine Blaulichtfahrt durch Rom vor zwei Monaten, und all die Leute, die mich immer wieder ausbremsen wollten, meine Stunden im Fitnesscenter, wo ich unter Schmerztränen mein Knie rehabilitiert habe, den Apotheker, der durch mich reich geworden ist, all die Mühen, nur um jetzt hier stehen zu können.

Die Frage nach dem „warum das Ganze?“ habe ich mir nie gestellt. Ein Kind, was geboren wird, fragt auch nicht, warum es jenen Weg gehen muß. Der Rennsteig ist da, also lauf ich !

Das erste Drittel

Meine Taktik war sorgfältig ausgeklügelt: Voll Stoff von Anfang an, und dann geb ich Alles!

Gleich geht es steil aufwärts. Bloß nicht bei den Lahmen bleiben. Durchlaufen!
Die meisten Höhenmeter macht man bis zu km Marke 25, obwohl der höchste Punkt erst bei km 61 erreicht wird, ist es das schwierigste Stück. Die ersten 25 km muss ich also ganz vorne bleiben. Und es geht! Nein, es läuft!

Erster VP Waldsportplatz bei km 6,9. Schnell ein Wasser und ein paar Fotos, gleich weiter.

Im Nebel, irgendwo  die „Hohe Sonne“ 434 m NN, das  Jagdschloß von Herzog August. Ich kann es  nicht entdecken, keine Zeit. Zu DDR-Zeiten, als das Betreten des Grenzgebietes in der 5 km breiten „Sperrzone“ nicht möglich war, begann hier der Rennsteiglauf (bis 2001). Egal. Weiter!!

Gasthaus Ascherbrück, an der Carolinenhöhe, die nach einer Prinzessin aus dem Hause Sachsen-Weimar-Eisenach benannt ist. Hier ist VP Nr 2 . Weiter! Weiter! Die Lungen pfeifen. Weiter, weiter, bergauf!

Abwärts zur Glasbachwiese, VP Nr 3 bei km 17,9 wo eine Passstraße den Rennsteig kreuzt. Keine Zeit! Mit rechts schnell Fotos schießen, mit links die Getränke runterkippen. Weiter!  Weiter! Keine Zeit verlieren!

Vorbei am Gerberstein. Alles im Nebel,  Pfützen, Schlamm und viel Wald.

Am VP Dreiherrenstein soll der Sage nach eine versunkene Stadt verborgen sein. Der Dreiherrenstein zeigt die Stelle an, unter der im tiefen Morast die Stadt samt Schloß begraben liegt. Ich seh ihn aber nicht, habe keine Zeit! Nur den ersten Sturz-Verletzten schnell fotografieren. Weiter! Weiter!  Hier eine Foto und dort und weiterlaufen!

Steil, sehr steil, extra steil mehr als 5 km! Jeder geht, auch ich, doch dies ist der Rennsteig und nicht der Gehsteig! Wie weit noch? Km-Markierungne sind nur alle 5 km. Egal, wir müssen hier hoch, aber zack! Ich erinnere mich nicht - mehr.Im Nebel verschwimmt die Zeit. Laufen ! Laufen! Immer weiter! Es ist egal, wo ich bin, die Strecke ist das Ziel.

Irgendwann ahnt man, daß man bald oben sein wird. Die Bäume sind knorzlig und klein. Rechts. hinter mächtigen Felsen ahnt man das weite Land. Die „Thermosflasche“, der Funkturm auf dem großen Inselsberg ist aber nicht zu sehen. Da werden gefährlich aussehende Zäune sichtbar! Ja, wir sind oben! 916 Meter hoch. Der Nebel ist klasse!

Vor 200 Jahren verlief hier über den Berg die Grenze zwischen dem Herzogtum Sachsen-Gotha und dem Kurfürstentum Hessen. Aus diesem Grund wurde auch auf beiden Seiten ein Gasthaus errichtet: 1810 auf der hessischen Seite der heutige Berggasthof Stöhr und auf der gothaischen 1852 der heutige Berggasthof Stadt Gotha. Hier verlief später die deutsch-deutsche Grenze, und wir laufen jetzt mitten durch.

Links wird der thüringische Dialekt, rechts der ostfränkische Dialekt gesprochen. Die fränkische Kolonisation fand schon im 8 Jahrhundert statt und endete hier am Rennsteig, eine sprachliche Vermischung jedoch fand nie statt. Was für ein wahnsinniger Ort hier oben!

Mehr als 1000  Grenzsteine im Verlauf des Rennsteigs erzählen Geschichten von Herzog- und Fürstentümern,  von Krieg und Frieden und der Zerstückelung des Landes. 13 Dreiherrensteine markierten den Punkt des Zusammentreffens von Terrotorien dreier Landesherren. Zeitweilig kannte man sogar Vierherrensteine. Dazu kommen noch Forststeine, Steinkreuze und Gedenksteine, Ämtergrenzsteine, Markierungssteine - eEgal jetzt!  Weiter, weiter!

Vom Großen Inselsberg geht es steil bergab. Zunächst über schmerzende Holzstufen bis zur Grenzwiese, wo einst die Grenze zwischen Sachsen und Gotha war. 200 Höhenmeter geht es abwärts, das schmerzt in den Oberschenken, noch nie war ich so steil abwärts gelaufen. Ich bin total kaputt, als ich unten ankomme, aber ich habe das erste Drittel zügig gemeistert.

Das zweite Drittel

„Trainiert ständig seinen Körper, macht ihn robust und gesund, damit er klug und vernünftig wird.“ Hier muß ich jetzt aber an der Lehre von GutsMuths zweifeln. Gut isser, aber niemals vernünfig!

Hier an der Grenzwiese haue ich mir jetzt zig Becher vom berühmten Haferschleim rein. Der tut verdammt gut! Schmalzbrote und Käsestullen! Rechts die Kamera, links die Schmalzbrote grapschen, der Leser will informiert sein!
Jetzt kommen noch Rauchschwaden von gegrillten Thüringern dazu und vermischen sich mit dem Atem des Drachen. Egal! Weiter,  weiter!

Im Halbdunkel steht ein unscheinbares Steinkreuz, senkrecht eine seltsame Inschrift „POSSENROD“. Ost-Cola rein und weiter! Erklärungen zu diesem Kreuz sind dürftig. Die Sage berichtet von einem ermordeten Postreiter. Und tatsächlich rennen 3 Pferde kilometerweit mit uns mit! Gesehen? Tunnelblick beim Laufen, es ist schwierig seitlich etwas zu erkennen. Das Gehirn schaltet ab. Man vergisst viel !

Hier am Pass kreuzt die alte Handelsstraße, die die Messestädte Erfurt und Frankfurt verband. Im Tal mieteten die Fuhrleute zusätzliche Pferde als Vorspann, um mit ihrer Hilfe die Steigung bis zur Passhöhe überwinden zu können – ein willkommener Nebenverdienst für Waldbauern. Wir sind bei km 33,6 und noch nicht mal die Hälfte der Strecke. Aber es läuft prima soweit.

Die Erbertswiese ist ein sumpfiges Gelände, in dem die Splitter entspringt und später Thüringens höchsten Wasserfall bildet. Hier kreuzt die  alte Postlinie Nürnberg-Hamburg sowie der Weg zur Messe Leipzig, weswegen der Ort „Alte Ausspanne“ heißt. Denn hier wurden die Vorspannpferde ausgespannt.

Man läuft die Wiese runter. Absolut scharfe Atmosphäre. Die Hälfte ist geschafft! Ein Schlid macht es klar. Die Verpflegungsbuden stehen wie auf der Theresienwiese, doch hauptsächlich Walker tummeln sich hier und stopfen sich die Fettstullen und die heißen Würstchen rein. Kaum ein Durchkommen in dem Gewühle! Ey, Leute! Ich hab´s eilig, macht euch fort! Mit Links  haue ich mir schnell 5, 6 Becher Heidelbeerschleim und jede Menge Ostcola rein und laufe sofort weiter, mit  Rechts Fotos, Fotos! Der Leser will informiert sein! Volle Pulle, alles geben, keine Gnade! Lauf, lauf, lauf!

Neue Ausspanne Passstraße, hier kommt wieder ein steiler Anstieg auf fast 900 m. Oh Mann! Bloß nicht gehen! Schnell noch 4 oder 5 Becher Ost-Wellnessdrink, das Wort Iso fällt hier nicht. Das Wellnesswasser ist erstaunlich wenig gesüßt. Sehr gut! Ihr Wessis: Von der Verpflegung hier könnt ihr mal gewaltig was lernen!

Auspanne an der Neuhöfer Wiese -  weiter. Rechts der Gipfel des Donnershaug. Auf dem befindet sich eine altgermanische Kultstätte, dem Donnergott Donar geweiht. War das jener böse Bube, der heute nacht in meinem Zimmer randaliert hat? Oder war es der eklige Drache? Egal!  Wir sind bei km 50, alle Module stehen auf grün. Das zweite Dritte geschafft. Der Drache ist tot!

Das letzte Drittel!

Ein Schild: Sportler haben Vorfahrt! Es ist die asphaltierte Skirollerstrecke, auf der Andrea Henkel und Kati Wilhelm trainieren! Der Ultraläufer dreht auf!  Über 6 Std bin ich jetzt unterwegs. Ich habe soviel Kraft in mir, daß ich fliege! Ohne schwarze Flügel, nur mit weißen Beinen! Weiter gehts zum großen Parkplatz, genannt „Grenzadler“, ein Stein mit Preußenadler. Wir erinnern uns: Nach der Niederlage von Napoleon wurde Sachsen  aufgeteilt.

Einige steigen hier aus, es gibt eine Wertung, mit Medaille und Urkunde. Jetzt, im Bericht, einen Tag später  ist es sehr schwierig zu registrieren, wo  und wann ich war. Ich glaube aber, daß ich die Punkte (und ich muß mich von VP zu VP hangeln) korrekt wiedergebe!

Ich bin unsicher, aber ich glaube von hier aus habe ich die  Sprungschanzen von Oberhof gesehen. Die Fotos decken sich selten mit meiner Erinnerung. Ich bin zwischen km 55 und 60 und es ist mir alles scheißegal,  wo ich bin, weil ich fliege!

Südlich von Oberhof führt unter uns Deutschlands längster Autobahntunnel durch.
Es ist verdammt schwer chronologisch zu schreiben. Die Tortur löscht die Erinnerung aus.Aber ich glaube es ist so.

Vom VP „Rondell“ geht es steil berauf, hinauf auf den Beerberg, einem erloschenen Vulkan, zugleich höchste Stelle des Rennsteiglauf. Kaum Gespräche, nicht allein, aber man hört die Vögel des Waldes. Aufwühlende Stimmung. 

 »Man lasse jeden aufhören, so bald die Erhitzung zu stark und der Odem zu kurz wird. Nimmt man diese Regel zur Grenze, so ist durchaus nichts vor dem längsten Laufen zu befürchten.« Wo der alte Aerobiclehrer  Recht hat, da hat er Recht, aber mir ist alles scheißegal. Ich will nur laufen, und das verdammt schnell, was kümmert mich mein Odem?!?

In meinem Bericht über die 50 Km-Meisterschaft in Rodenbach hatte ich über Napoleon berichtet, der 1806 von Hanau kommend über die Rodenbacher Chausse nach Norden zog. 

Die Preußen und Sachsen rätselten noch, ob Napoleon westlich oder östlich des Thüringer Waldes nach Berlin ziehen würde. Da nahm der Witzbold einfach die schwierigste aber schnellste Strecke: den Rennsteig und kloppte  die Preussen und Sachsen kaputt.

Mit dem folgenden Seitenwechsel der Sachsen zu Napoleon wechselte auch der berühmteste aller Rennsteiger die Seiten:  Julius von Plänkner mußte Napoleon dienen.. Erst  als Napoleon mit Affenzahn zurück über Rodenbach geflohen war, fragte sich  Julius, wie es der Korse  mit 95.900 Soldaten und 44 Kanonen über den Rennsteig schaffte und startete einen Privatmarathon:  43,5 Stunden(143,3 km, in 5 Tagen) brauchte er, um den Rennsteig abzuwandern. Seine Schilderungen machten ihn zum Vater des Rennsteigs.

Am höchsten Punkt des Rennsteigs an „Plänkers Ausssicht“ steht eine Tafel:

Justus von Plänckner aus Gotha
geb. 1791, gest. 1858.
Dem Erforscher des Thüringer Waldgebirges
gewidmet vom Rennsteigverein 1898

Es ist inzwischen schönstes Wetter. Sonnig und kühl. Keine Spur vom dunkel-schwarz-naß-glänzenden Drachen! Bis weit nach Westen geht der Blick. Wir sind bei km 61. Wunderbar hier oben, keine Laufbeschwerden. Es ist wunderbar und ich fliege! Egal ob Aufwärts- oder Abwärtsflug, es ist einfach nur geil. Pfützen, Steine, Wurzeln, richtig tiefer Morast! Alles piepegal. Der Drache ist tot und der Ultraläufer läuft und läuft und läuft!

Der Blick schweift weit in die glasklare Ferne. Zu sehen ist der Aussichtsturm auf dem Schneekopf. Mit diesem Turm hat Thüringen endlich einen Tausender zu bieten. Auf dem Schneekopf hatten die Russen einen Horchposten, der die Flugbewegungen in Frankfurt überwachte. Das hatte ich vorher recherchiert, denn, beim Laufen ist mir alles egal ist. Es geht nur ums Überleben! Und es läuft, geil!

Fast nur noch bergab, aber teilweise sehr schwieriges Gelände. Auch bergauf. Keine Erinnerung. Alles ist durcheinander. Bis ich von einer matschigen Wiese aus die Verpflegungsstation Schmücke bei km äh, ja. Oder wo wo war das ? Scheißegal!

Ich laufe und laufe, wie ein Uhrwerk. Taktik geht voll auf: Ich geb alles!  Getränkestelle „Bierfleck“ bei km 68. Endlich ein Köstritzer Schwarzbier, eins? Zwei? Drei? Ich verliere sagenhafte 7 Minuten! Oder doch mehr?  Weniger? Ich habe mir seit Jahren nicht mehr so den Arsch für einen Marathon aufgerissen! Und jetzt geht es los! Grandios! Jetzt gebe ich alles! Es ist so scheißegal! Ich laufe, laufe, laufe! Und ich werfe die Beine nach vorne und ich laufe, laufe und laufe, Köstritzer powert!  Es ist voll der Wahnsinn! 

Von der Skipiste sehe ich Schmiedefeld! Super! Da runter! Das isses! Dicke, rauchende Feuerwehrleute sitzen an der Liftstation und gröhlen. Kilometerschilder. Geil! Der 70er ist weg. Geil! 71er ist weg  Oh Scheiße, ich fliiiiiiiiiiieege! Mann, ist das geil, ich lasse es mal richtig krachen und schmeiß die Füße wech!  Geht es  nach oben? Oder nicht? Abwärts? Ich glaube, da waren Häuser. Fotos? Kaum Erinnerung. Egal! Ich fliege! Fliege, Fliege! Super geile Power! Die Leichtigkeit des Fliegens, die Freude des Ultras!  Scheißegal. Ich könnt noch mehr! Gib mir mehr Kilometer!  Gib mir määäääähr! 8:33 Std.! Leck mich, was für ne geile Zeit!

Drache, du bist  ist tot ! Und sicherheitshalber hau ich dir nächstes Mal mal richtig eins auf die Mütze, Du Sau, Du!

Party in Schmiedefeld

Gehört habe ich ja schon viel davon. Von der Party, der legendären, großen Rennsteigerparty! Ein riesiges Wiesental gefüllt mit Festzelten und Menschen! Oben am Hang glänzen hunderte von weißen Caravans und bunten Zelten. Irrsinnige Stimmung! Die Wiese kocht! Die Gepäckwiese: hier liegen die geschafften Sieger. Oben:die Duschen: Warm! Super Warm! Hunderte von Dusch-Lotion-Tuben türmen sich. Fotoverbot! Leider auch im Damenbereich . Aber sonst, alles im grünen Bereich! 

Da kommt eine Trommlergruppe! Nepp? Nääääää! Die trommeln uns brutal den Rest Lunge weg!  Das wummert!  Die Lunge bebt!  Die Stimmung geht ab! Im Festzelt springen wunde Füße auf die Bänke.  Da kommt Hannes Kranixfeld , die Nummer Drei von Europa, zusammen mit Coach Udo Pitsch. Jaaaa! Ihr habt ja keine Ahnung, und ich habe Euch heute nur mit Napoleon belästigt!

Dann lasst uns zusammen versinken im Nebel der Festhalle! Vermischt sich mit dem süßen Schwarzbierdunst, es geht drunter und drüber! Links oder rechts, ich weiss nicht mehr. Tische, Bänke, wieviel km waren es? Mir doch scheißegal! Ich kann noch weiter! Und dann war der  Bus  weg.

Sonntag: Stadtbesichtigung von Eisenach

Ich dachte, Eisenach wäre jetzt am Sonntag  tot. Nee! Ich schleppe meine müde Knochen zur Wartburg hoch. Da kommen mir schon die roten  Finishershirts entgegen! „ Joe, da oben ist es voll mit Touris! Sei vorsichtig! Die sind alle dick!“ Also ich todesmutig da hoch.

Geht man vom Marktplatz über den Pfarrberg oder Schloßberg zur Wartburg hoch, da schmeiß du dich wech! Super scharfe Villen! Riesige Dinger vom Feinsten! Alle mit Talblick, alte Eichen im Steingarten und überall der Drache!  Am Gartentor, an der Lampe! Überall der Drache! Sogar oben im Biergarten von der Wartburg, wo sich Finishershirts das gute schwarze Köstrizer genehmigen, überall der Drache, aber der ist jetzt tot!

Ich zahlt 50 Cent für die Turmbesteigung. Klar, ich bin Sportler, aber ein Anständiger!  Also zahlt ich. Geh ich da hoch, schau auf den Inselsberg, mit den Türmen, die ich jetzt auch mal sehe. Da, am Horizont unverkennbar. Da stöhnt so ein 17jähriger mit Bierflasche inner Hand und ner dicken Mutti im Arm  hinter mir:„ Boah, ey , sind die Treppen steil!“ Was soll ich dem sagen, wie der Berg da am Horizont heißt, und daß ich noch 2 mal soweit gelaufen bin?!? Soll ich dem vom Drachen erzählen?

 

 

 

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