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Laufberichte

Das Läufer-Woodstock in Schmiedefeld

17.05.08
Autor: Klaus Duwe

„Adele Stuttgart, ich geh nach Thüringen“, heißt einer der flotten Sprüche, mit denen der Freistaat auf sich aufmerksam machen und Investoren ins Land holen will. Begrüßt werden die so umworbenen mit einem „Willkommen in der Denkfabrik“. An Landschaft, Natur, Kultur und Geschichte, Musiker, Dichter und Denker, Essen und Trinken, denkt man in Ost und West, wenn von Thüringen die Rede ist. Das soll so bleiben, nur soll man künftig auch wissen, dass hier pfiffige Leute zu Hause sind. Schließlich kommen Thermometer, Mikroskope und hitzebeständiges Glas aus dem waldreichen Land. Und wenn die nächste Mikrochip-Generation an den Start geht, wird eine Schlüsselkompetente aus der Denkfabrik kommen. Kalziumfluoridkristall, wer’s genau wissen will.


In die Diskussion, wer die Bratwurst erfunden hat, will ich mich nicht einmischen. Verschweigen will ich aber keinesfalls, dass mir die Thüringer Variante sehr gut schmeckt. Ähnlich ist es mit dem Rennsteiglauf. Bestimmt haben die Ossis damit nicht den Landschaftsmarathon oder Ultralauf erfunden – aber sie haben ihn kultiviert. Und sie haben ihn nach der Wende vom Einfluss der Besser-Wessis bewahrt und ihn zu DEM Kultlauf in Deutschland gemacht. Auch jenseits unserer Grenzen fallen mir nur Biel und der Jungfrau-Marathon ein, von denen ein ähnlicher Mythos ausgeht. Wobei man in Biel von Teilnehmerzahlen wie beim Rennsteiglauf  nur träumt. 

Informationen: GutsMuths-Rennsteiglauf
Veranstalter-WebsiteE-MailErgebnislisteFotodienst HotelangeboteOnlinewetterGoogle/Routenplaner

Als jemand der weit rum kommt, werde ich schon mal gefragt, was denn so Besondere an einer bestimmten Veranstaltung ist. Da komme ich dann schon mal ins Grübeln, weil es  auch mir ein Rätsel ist, wie mancherorts die Teilnehmerzahlen zustande kommen. Das ist beim Rennsteiglauf nicht so, dann da ist alles, aber auch wirklich alles anders. Beispiele gefällig?

Eisenach ist Startort für den Supermarathon (72,7 km). Gestartet wird um 6.00 Uhr in der Früh. Wo gibt’s denn so was?

Wie viele Kilometer hat ein Marathon? Überall 42,195 – am Rennsteig sind es  43,5. Hat dann der „Halbe“ 21,750 Kilometer? Nein, 21,1 – wie üblich. Gestartet wird der Marathon in Neuhaus, der Halbmarathon in Oberhof.

Ziel aller Läufe ist Schmiedefeld. Keine Stadt mit prachtvollen historischen Gebäuden, die als Kulisse für einen unvergesslichen Zieleinlauf taugen. Noch nicht einmal 2000 Menschen wohnen heute in dem unscheinbaren Ort, der als Bergarbeitersiedlung entstanden ist. Kommt man am Rennsteiglauf-Samstag in den Ort, sieht man vor lauter Blech keine Häuser. Der Ort und die umliegenden Wiesen sind total zugeparkt. Da soll es nach einem anstrengenden Lauf schon zu zeitraubenden Suchaktionen gekommen sein.

Die einzige Grünfläche, die man von Autos frei hält, ist der Sportplatz. Den nennt man ganz bewusst so und nicht zum Beispiel „Stadion“. Es ist halt nur eine Grünfläche, ohne Aschen-, oh Verzeihung, ohne High-Speed-Kunststoffbahn, Tribüne oder ähnlichem. Deshalb hat man ein Zelt- und Containerdorf errichtet. Nur die Duschen und der Vereinstreff sind innerhalb gemauerter Wände. 


Etwas unterhalb des Sportplatzes hinter ein paar Bäumen ist noch einmal eine Wiese. Nicht so groß wie der Sportplatz, aber ausreichend um dort 11.000 Kleiderbeutel zu lagern. Weil die dem Wetter genau so ausgesetzt sind wie die Läufer, sind bei Regen die Wechselklamotten auch genau so nass. Es sei denn, man hat schon einmal eine solche Erfahrung gemacht und verpackt die Klamotten erst wasserdicht und gibt sie dann in den Beutel. Ich erwähne das deshalb, weil ich vor zwei Jahren für einen solchen Hinweis sehr dankbar gewesen wäre. 

Ich war ja seinerzeit nicht dabei in Woodstock, aber ich habe Bilder und Filme gesehen. Und wenn ich einmal im Jahr nach Schmiedefeld komme, fällt mir nichts anderes als Woodstock ein. Mit Musik hat dieser Eindruck aber nichts zu tun, wie ihr euch denken könnt. Obwohl, ohne Musik geht beim Rennsteiglauf gar nichts. Es gibt sogar eine eigene Hymne, das Rennsteiglied. Ich wollte ja die DiaShow damit vertonen, aber (sorry!) ich habe mir dann doch die GEMA gespart. Gefallen hätte es mir schon. Oder sagen wir es so: es hätte gepasst. 

Eingangs habe ich schon erwähnt, dass viele Thüringen mit gutem Essen in Verbindung bringen. Da versteht es sich von selbst, dass die Rennsteigläufer nach Landesart verköstigt werden. Die Kloßparty (in Eisenach zum Beispiel im Festzelt gleich beim Markt) hat Kultstatus wie der Lauf selbst. Dazu wird soviel Bier (blond oder schwarz) getrunken, wie vor keinem Lauf anderswo. Spielen da auch die Preise eine Rolle? Zumindest die Wessis reiben sich manchmal verwundert die Augen. 

Zwei Gulaschkanonen sind eingeplant. Für 1800 Läuferinnen und Läufer zu wenig. Tatsächlich steht aber nur eine zur Verfügung. Die zweite wurde kurzfristig zu einer Katastrophenübung in die Tschechei einberufen. „Jetzt haben wir  hier eine Katastrophe“, meint der Sprecher und bittet um Verständnis. Völlig überflüssig. Keiner in der endlosen Warteschlange ist am Meckern. Aber auch die Mädels an den Kloß-, Fleisch- und Krauttöpfen verrichten ihren Job klaglos. 

Undenkbar, dass man einem Rennsteigläufer unterwegs Riegel, Gel oder anderes „künstliches  Zeugs“ zumutet. Schwärmt der Teilnehmer von der sagenhaften Verpflegung, meint er Wurst- und Schmalzbrote, Brühe und Schleim. Schleim? Igitt. Dachte ich bei meinem ersten Kontakt mit dem „Rennsteig-Zaubertrank“ auch. Aber erstens ist nur der Name „eklig“ und zweitens zeigt er Wirkung - getreu dem Grundsatz: Was gut ist muss nicht schmecken. Obwohl, nach dem Geschmacks-Tuning mit Heidelbeeren kann man auch darüber nicht mehr meckern. 

Ich kann mich noch erinnern, wie mir früher meine Mutter meist mit viel Überredung, manchmal auch mit etwas Körpereinsatz den nahrhaften Haferschleim eintrichtern musste. Auch hier im Thüringer Wald kannte man den Haferschleim als „Arme-Leute-Essen“, bis er irgendwann nicht mehr ganz so populär war. Die weit gereisten Wintersportler kamen dann besonders bei Wettkämpfen in Skandinavien wieder mit dem guten alten Haferschleim in Kontakt und sorgten zu Hause für dessen Comeback. Mittlerweile kommt kaum ein Marathon in den neuen Bundesländern ohne den Zaubertrank aus. 

Klar, es gibt auch Obst, Wasser, Isotonisches und Cola. Aber am Besten passt zu der deftigen Kost halt Bier – und so ist der Gerstensaft an manchen Verpflegungsstellen ebenfalls im Angebot. 


Ein weiteres Rennsteig-Phänomen sind die Teilnehmer, genauer gesagt deren Treue zu dem Kultlauf. Ich behaupte mal, dass es in Deutschland keine Veranstaltung gibt, die auf eine ähnliche „Kundentreue“ bauen kann. Es gibt mehr als 100 Läufer mit über 30 Teilnahmen und mit mehr als 25 Teilnahmen sind sogar über 500 Läufer registriert. Unzählige Läufer gehen mit einem Jubiläumsshirt (10 x dabei, 20 x Rennsteiglauf) auf die Strecke, einige bringen ihre gesammelten Startnummern als Talisman mit an die Strecke. Der Rennsteiglaufverein hat Mitglieder in ganz Deutschland. Als „Ersttäter“ bist du fast ein Exote, aber sehr gefragt als interessierter Zuhörer aller möglichen und unmöglichen  Stories rund um den Lauf. 

Dass es sich bei soviel „Drumherum“ um einen ernsthaften Wettkampf handeln soll, kann man kaum glauben. Ist aber so. Dennoch, die Rekordjagd nimmt man nicht so wichtig, dass man dazu extra Läuferinnen und Läufer aus Kenia oder Äthiopien einfliegt. Die Bühne gehört den local heroes, den Breitensportlern und Hobbyläufern – und das ist gut so.  

Ich habe geglaubt, diesen Bericht zu Ende zu bringen, ohne einen einzigen Namen zu erwähnen. Geht nicht – an dieser Stelle muss ich Birgit Lennartz erwähnen. Das Lauf-Phänomen aus dem Bergischen wird in Wikipedia zwar als „ehemalige“ deutsche Marathon- und Ultraläuferin bezeichnet, in der Praxis sieht das aber so aus, dass sie am Samstag mit deutlichem Vorsprung in 6:32:38 Stunden zum 8 x den Rennsteig-Supermarathon gewinnt. Ihre Siegesliste macht einem schwindelig: 7 x Biel, 10 x Swiss Alpine, 6 x Defi Val Traverse. Dazu an die 60 Marathonsiege. Ihre Bestzeit über 100 km (7:18:57 Stunden) ist noch heute Deutscher Rekord. 

Normalerweise braucht man über Zuschauer bei einem Landschaftslauf nicht ausführlich berichten, weil sie ganz einfach nicht vorhanden sind. Auch das ist beim Rennsteiglauf anders. 15.000 Teilnehmer, mit Begleitpersonen, Familienangehörigen usw. mögen es gut 30.000 Menschen sein, die anreisen. Sie konzentrieren sich nicht auf einen Ort, sondern verteilen sich (und ihr Geld) durch die verschiedenen Veranstaltungsorte (Eisenach, Neuhaus, Oberhof, Schnepfenthal und Schmiedefeld) auf die ganze Region. 

Den Einheimischen sind aber nicht nur die Euros willkommen, sondern auch die Menschen. Gerne und begeistert geben sie zurück, was nichts kostet und doch so gut ankommt. Und so beklatschen sie an jeder Straßenquerung die Läuferinnen und Läufer. An den Verpflegungsstellen, insbesondere an der Ebertswiese oder beim Grenzadler geht es zu, wie auf einem Volksfest. Und die Situation in Schmiedefeld habe ich ja bereits mit Woodstock verglichen. Die Marathonis werden schon unten in der Bahnhofstraße von unzähligen Zuschauern in Empfang genommen und den letzten Anstieg zum Sportplatz förmlich hinauf gebrüllt. Wehe dem der meint, er könne zum Marschierer werden. Dem machen gleich hundertfache Zurufe Beine. Zum Glück hat man die Laufstrecke mit Gittern abgesperrt. Sonst würde man die armen Teufel hoch schubsen. 

 
Wer endlich keuchend oben ankommt, traut seinen Augen nicht. Von der Wiese, Entschuldigung, vom Sportplatzrasen ist vor lauter Menschen kaum was zu sehen. Nur die riesigen Werbeträger der Sponsoren ragen aus der Menge heraus. Rustikal wie die ganze Strecke sind auch die letzten 400 Meter. Ein breiter Wiesenpfad ist für die Läuferinnen und Läufer rund um den Sportplatz frei gesperrt, rechts und links massig Zuschauer. Vor der Zielgeraden wird separiert: Marathonis linke Seite, Supermarathonis rechts. So geht es unter ohrenbetäubenden Lärm ins Ziel. Obwohl sich Sprecherin und Sprecher abwechseln, kommen sie kaum nach, alle Finisher namentlich zu begrüßen. Sie kennen halt viele Stammläufer und ihre Geschichte, die sie dem Publikum nicht vorenthalten wollen.  Die Kulisse ist grandios, die Atmosphäre unvergleichlich, handgemacht, wie der ganze Lauf. Ich sehe etliche Tränchen fließen.

Jetzt habe ich soviel erzählt über Dinge, die anders sind. Etwas muss doch sein wie überall? Stimmt, die Zeitnahme: Championchip, wie bei allen großen Rennen. 

Ach so, ihr wolltet wissen, wie es unterwegs war. Sorry, kann ich nicht mit dienen. Ich bin immer noch verletzt. Lest nach auf dieser Seite, was euch dazu Eberhard Ostertag  und Bernie Manhard zu sagen haben. Bernie hat übrigens am Samstag seinen ersten Ultra gefinisht.


Auszug aus der Ergebnisliste:

Supermarathon
Männer

1. Christian Stork GER 5:16:29
2. André Collet BEL  5:20:31
3. Matthias Dippacher GER 5:30:28


Frauen

1. Birgit Lennartz GER 6:32:38
2. Astrid Staubach GER 6:39:58
3. Heike Resche GER 6:52:21

Marathon
Männer

1. Christian Seiler GER 2:40:49
2. Markus Koch GER 2:44:00
3. Jens Borrmann GER 2:49:08


Frauen

1. Diana Lehmann GER 3:13:43
2. Stefanie Wiesmair 3:14:47
3. Kathrin Schroettke GER 3:26:31

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