U.TLW … allein schon dieses Kürzel … da muss man erst einmal draufkommen. Auch die Auflösung dieses Buchstabenrätsels wird bei vielen wohl nur ein Stirnrunzeln verursachen: Ultra Trail Lamer Winkel. Lamer? Winkel? Klingt ziemlich schräg, fast schon skuril, jedenfalls ziemlich hinterwäldlerisch und nicht unbedingt nach etwas, wo man unbedingt mal hin muss. Wer zu diesem Trail hin will, muss sich tatsächlich tief ins Oberpfälzer Outback begeben, bis hart an die tschechische Grenze. Aber er muss vor allem eines sein: Schnell. Zumindest wenn es darum geht, einen der heißbegehrten Startplätze zu ergattern. Denn dieser Lauf ist vor allem eines: Kult.
Der U.TLW hat etwas geschafft, und das innerhalb kürzester Zeit, was sich viele Start Ups in der Trailrunningszene wünschen, aber nur die wenigsten schaffen: Sich einen Ruf als etwas ganz Besonderes, ja Einmaliges zu erobern. Und sich damit vor allem auch gegen die zahlreichen alpinen Trail- und Bergläufe durchzusetzen. Das mag zum einen am Streckenkurs, der über eine Vielzahl, wenn auch vergleichsweise kleiner Berggipfel führt, aber auch am von reichlich Lokalkolorit geprägten Rahmen, in den das Event eingebettet ist, liegen. Jedenfalls sind die 450 Startplätze des 54 km langen „König vom Bayerwald“ und die 250 Plätze des 24 km messenden „Osser-Riese“ alljährlich binnen kurzer Zeit vergeben.
Nachdem pandemiebedingt zweimalig die Austragung des vierten U.TLW verschoben werden musste, ist es am 9. September 2021 wieder soweit. Und ich bin dieses Mal dabei, dem Geheimnis dieses Kultlaufs auf die Spur zu kommen. So ganz optimal ist der Zeitpunkt für die Spurensuche allerdings nicht. Denn wie das veranstaltende Team Gamsbock schon im Internet verkündet: „Uns ist bewusst, dass durch den Wegfall vieler U.TLW-typischer Merkmale eine Reduzierung unseres Laufes auf den sportlichen Kern erfolgt.“ So müssen die Läufer bei der diesjährigen Ausgabe „umständehalber“ auf Pastaparty und Expo ebenso wie auf die traditionelle Marktplatzfeier und die After Race Party verzichten, sind Zuschauer weder am Start noch im Ziel zugelassen. Stattdessen stehen 3G-Nachweis und Hygienekonzept im „Pflichtprogramm“. Da bleibt nur, sich anhand früherer Laufberichte von Bernie auf marathon4you.de oder trailrunning.de einen Eindruck von der zünftigen Stimmung rund um diesen Lauf zu verschaffen.
Idyllisch wie abgelegen, selbst für Oberpfälzer Verhältnisse, eingebettet in einer hufeisenförmigen Bergkette und umrahmt von zahlreichen Tausendern des Bayerischen Waldes: Das ist die Region Lamer Winkel im Landkreis Cham, ein beliebtes Erholungs- und Wandergebiet. Drei Orte bilden den Kern der Region: Lam, Arrach und Lohberg. Alle drei Orte wären normalerweise in die Veranstaltung eingebunden. Aber der Konjunktiv sagt es schon: 2021 gilt das nicht. Heuer konzentriert sich alles auf Lam und dort wiederum auf das Sportgelände am Osserbad am Ortsrand.
Hier bekomme ich im Race Office in der Sporthalle am späten Freitagnachmittag ganz unspektakulär meine Startnummer. Für den morgigen Start ist schon alles gerichtet: Gitter und Fahnen säumen den Start-Ziel-Kanal, ein paar Bögen wölben sich darüber, Pavillons sind aufgebaut, eine Videoleinwand läuft im Testbetrieb, Rockiges schallt aus dem Boxen. Aber das war es schon – mehr passiert nicht.
Auf besagtem Sportplatz sammeln sich am frühen Samstagmorgen die Teilnehmer der beiden Läufe, vor allem die des zuerst startenden „König vom Bayerwald“. Klar ist die Luft, klar der Himmel, zumindest weiter oben, aber frostig sind die Temperaturen – bei eisigen 1,5 Grad im Morgennebel. Alles andere als frostig ist dafür die Stimmung. Am Dialekt merkt man schon, dass die Locals klar die Oberhand haben. Und die sind richtig gut drauf.
Auch wenn das Rahmenprogramm heuer ins Wasser fällt: Auf die Blaskapelle am Start müssen wir nicht verzichten. Der Kälte trotzend spielt sie auf und geleitet die Läufer zum Einzug in die Startblöcke. Je nach Einschätzung der persönlichen Fähigkeiten haben wir uns in einen der vier Blöcke einzureihen. In der Hoffnung, länger und mehr Mitläufer als „Opfer“ für meine Streckenfotos zu bekommen, wähle ich meinen Platz im Mittelfeld, auch wenn er realistischer Weise deutlich weiter hinten wäre. Gänsehaut bekomme ich - nicht von der Kälte - als dann auch noch die pathetische Ultrahymne „Conquest of paradise“ von Vangelis aus den Lautsprecherboxen tönt.
Um 7:40 Uhr ist es so weit: Rumms macht es. Mit drei zeitgleich zündenden Böllerkanonen wird mehr als überdeutlich kundgetan, dass es losgeht. Losgehen heißt hier aber nicht gleich loslaufen. Erst einmal wird marschiert. Traditionell schreitet die Blaskapelle dem Läufertross auf den ersten Metern voran und gibt die Strecke erst dann frei, als sie zur Seite tritt und weiter aufspielt, bis der letzte Starter vorbeigezogen ist. Auch hieran merkt man schon: Dieser Lauf ist eben etwas Spezielles.
Schnell kommt der Konvoi nun in Schwung. Schon die Kälte motiviert dazu, den inneren „Motor“ möglichst flott auf Betriebstemperatur zu bekommen. 11 Stunden haben wir nun Zeit, den Rundkurs zu bewältigen. Wobei zur Herausforderung nicht nur 54 km in der Horizontalen, sondern auch und vor allem 2.700 Meter in der Vertikalen gehören.
Zwei Prozent Asphalt weist das Profil des Rundkurses auf. Und diese zwei Prozent legen wir weitestgehend auf dem ersten kurzen Flachstück zurück. Zum Einlaufen ist das aber gerade recht. „In den Wiesen“ heißt bezeichnenderweise das Sträßlein, das uns aus dem Ort herausführt. Eine geradezu mystische Stimmung zaubert der über der sanft hügeligen Landschaft wabernde Bodennebel.
Ein paar Biegungen, über das Flüsslein Weißer Regen hinweg und schon finden wir uns auf dem Woidbauern-Steig wieder. Über Stock und Stein, wie man so schön sagt, führt uns der Weg auf einem zunächst noch breiten, dann sich zum Single Trail verengenden Pfad durch den dicht bewaldeten Hang geradewegs in die Höhe. Das Geräusch klackernder Stöcke mischt sich mit dem Getrappel und Schnaufen schneller Marschierer, die einer Ameisenstraße gleich durch das Gehölz wuseln.
Der Steig mündet in eine Forststraße, die uns nach Vorderöd leitet, das im Wesentlichen aus dem Wirtshaus „Zum Ödbauern“ besteht. Herrlich ist, hier erstmals die pralle Morgensonne zu spüren, als wir eine taunasse, im intensiven Licht grün leuchtende Wiese queren. An dem pittoresken Wirtshaus endet die Naturstraße und unser Weg setzt sich bei gemütlichem Trab in einem breiten Forstweg durch den Nadelwald fort.
Nach neun Kilometern erreichen wir das auf 860 m üNN auf einem Bergsattel gelegene Eck, dominiert von dem gleichnamigen Berggasthof. Ein dichtes Zuschauerspalier erwartet uns heftig johlend und applaudierend. Was für ein Empfang! Die nahe Durchgangsstraße macht’s möglich. Hier ist für uns die erste Verpflegungsstelle eingerichtet. Und auch die erste Zeitkontrolle. Wer es bis 9:10 Uhr nicht bis hierher geschafft hat, ist renntechnisch „draußen“. Aber noch ist das Zeitlimit kein Thema. Es empfiehlt sich, die „Ruhe vor dem Sturm“ an der Verpflegung auszukosten. Denn das bevorstehende Teilstück bis zum nächsten Verpflegungsposten wird schon in der Ausschreibung als längster und härtester Abschnitt des Rennens angekündigt.
Die nächsten 15 Kilometern führen uns auf teils überaus anspruchsvollen Trails über einen der schönsten Höhenzüge des Bayerischen Waldes, entlang des sogenannten Goldsteiges über zahlreiche Tausender zum Gipfel des Großen Arber. Auch im Nachhinein betrachtet verdient vor allem diese Passage das Prädikat „Trailrunners paradise“.
Der 2007 wiedereröffnete Fernwanderweg des Goldsteigs ist eines der Highlights der Region. Die „Nordroute“, der eigentliche Hauptweg und auf weiten Teilen identisch mit dem Europäischen Fernwanderweg E 6, verläuft auf 433 Kilometern von Marktredwitz über die Höhenzüge des Bayerischen Waldes bis nach Passau. Ab Eck folgt unser Parcours über einen besonders aussichtsreichen Abschnitt dieses Steigs. Im Prinzip ist es so, dass wir uns über den entlang der Kammhöhe führenden Steig rauf und runter von Tausender zu Tausender, immer ein wenig höher steigend, hangeln, bis zum Großen Arber als „Grande Finale“. Dabei präsentieren sich Steig und Landschaft in höchst unterschiedlicher Ausprägung. Aber der Reihe nach.
Vergleichsweise gemütlich geht es los. Auf Waldpfaden gewinnen wir langsam, aber beständig an Höhe. Die Sonne blitzt zwischen den hohen Stämmen hindurch. Im Wechsel aus gemütlichem Trab und flottem Marsch geht es zügig voran. Ein Schild weist den Mühlriegel (1.080 m üNN) als ersten Tausender am Weg aus, doch ein Blick auf ihn oder gar ein Gipfelerlebnis ist uns nicht vergönnt. Mit dem Gipfelsammeln geht es aber jetzt Schlag auf Schlag. Ab sofort aber unter erschwerten Bedingungen: Vermooster Fels, Wurzelwerk und eine deutlich ausgeprägte Hangneigung fordern Kondition und Stockeinsatz. Der Wald über uns lichtet sich und einige markante Felsentürme ragen in den Himmel. Es sind die Gipfelfelsen des Ödriegels (1.156 m üNN), die wir zwar nicht erklimmen, wo uns jedoch ein kleines Plateau mit grandiosem Panoramablick auf den Bayerwald und die tief unter uns hängenden Nebelbänke belohnt. Ein kurzes Päuschen mit Erinnerungsfoto gönnt sich hier fast jeder.
In luftiger Höhe geht es ein Stück weit kommod weiter, bevor sich der Pfad in den Wald abtauchend wieder absenkt. Ausgesetzte, fels- und wurzelverblockte Steilpassagen, auf und ab, wechseln einander ab, fordern nicht nur Kraft und Ausdauer, sondern auch den Gleichgewichtssinn und den Grip der Trailschuhe. Immer neue Überraschungen warten am Wegesrand, etwa ein paar Einheimische, die lautstark und kuhglockenbewaffnet inmitten der Bergeinsamkeit die Trailer anfeuern. Ein silberleuchtendes Gipfelkreuz signalisiert das Erreichen eines weiteren Gipfels. Ist es der Hängende Riegel (1.183 m üNN) oder das Schwarzeck (1.235 m üNN)? Ich habe keine Ahnung, zumindest markieren diese laut Streckenplan weitere Stationen.
Nur kurz währt der Gipfel- und Aussichts-Flow, schon stürzt sich der Steig wieder in die Tiefe und wir verlieren uns bergab kraxelnd im Wald. Allmählich wandelt sich nun das Umgebungsbild: Weniger ausgesetzt und breiter ist der Weg, durch eine Landschaft mit immer weniger und niedrigeren Bäumen und dafür mehr Gesträuch und hohen Gräsern führend. Die sanft gerundeten Gipfelregionen der beiden benachbarten Berge Heugstatt (1.262 m üNN) und Enzian (1.287 m üNN) präsentieren sich mehr wie afrikanische Savanne, aus der die Stämme zahlreicher meist abgestorbener Bäume wie tote Finger in den Himmel ragen. Ob Stürme, der Borkenkäfer oder der saure Regen hierfür verantwortlich waren – ich weiß es nicht, vielleicht auch alles zusammen. Jedenfalls hat die Landschaft hier oben eine gewisse geheimnisvolle Aura. Und beschert uns zudem einen wundervollen Rundumblick in die Tiefe, auch auf das, was nun vor uns liegt: Der Kleine und der Große Arber. „35 km to go“ – wie alle fünf Kilometer weist beim Abstieg ein einsames, handbemaltes Schild darauf hin, welche Distanz noch vor uns liegt, und damit mittelbar, was wir als Haben verbuchen können.
Weitgehend offen bleibt die Landschaft auch im Folgenden. Im angenehmen Trab geht es über einen holprigen breiten Pfad hinab. Ein Feuchtgebiet im Zwischental wird von einem Holzsteg überspannt. Auch hier gedeihen nur vereinzelt und zumeist kleinere Bäume in den ocker-rötlich schimmernden Gräserwiesen. Über einen zunächst breiten, sich aber zusehends verengenden Pfad erreichen wir die Flanke des Kleinen Arber und gewinnen schnell an Höhe. Ein letztes Stück durch den Wald und schon stehen wir auf dem Gipfelfelsen in 1.384 m Höhe. Eine freundliche Helferin gibt handfest denjenigen Zughilfe, die nicht so schnell mit der letzten Felsstufe klarkommen. Wie ein großer Balkon überragt der Felsgipfel mit dem Gipfelkreuz die weite Landschaft. Einmal mehr Gelegenheit, für einen Moment innezuhalten.
Wieder spannender ist der Pfad, der von hier über reichlich Fels und Wurzeln meist steil durch das Gesträuch in die Tiefe führt, begleitet vom stetigen Blick auf den „großen Bruder“ nebenan. Je tiefer wir kommen, desto imposanter ragt der Große Arber vor uns in den Himmel. Deutlich prägen schon von hier aus seine beiden Wahrzeichen, die großen Radome am Gipfel, die Bergsilhouette. Am Fuße des Kleinen Arber erreichen wir nach gut 20 km die Chamer Hütte, wo bei Bedarf frisches Wasser an einem Brunnen gezapft werden kann. Im waldigen Tal kann man auf einem breiten Naturweg wieder etwas Tempo machen. Ein holpriger, durch ein Feld rosaschimmernder, niedriger Büsche führender Pfad bereit uns langsam wieder auf den anstehenden Anstieg vor.
Der startet für uns zunächst über die staubige, aber unbefahrene Bergzufahrtsstraße. Ein Abzweig bringt uns neuerlich auf einen Pfad, der vielfach gestuft direttissima über den Hang jäh nach oben führt. Das mag zwar kräftezehrend sein, bringt uns der Gipfelregion aber doch recht schnell näher. Aus der Entfernung konnte ich weit oben schon zahlreiche Menschlein auf dem finalen Felskopf herumspazieren sehen. Auf dem weiteren Weg nach oben bleibt uns dies jedoch verborgen. Als der Pfad endlich auf einen bequem ausgebauten, ziemlich flachen Wanderweg trifft, über den Spaziergänger jenes Typus wandeln, denen man größere Kraftanstrengungen nicht zutraut, weiß ich: ich habe es geschafft, zumindest fast. Über besagten Weg leiten mich die Streckenmarkierungen direkt den schon von fern erspähten riesigen Antennenkuppeln entgegen, die weniger der landschaftlichen Bereicherung als der nicht nur zivilen Überwachung des Flug- und Funkverkehrs in Richtung Osten dienen.
Vorbei an den Kuppeln noch ein paar Meter höher mutiert das Gipfelplateau zum Rummelplatz. Fast wie ein Pavianfelsen im Zoo, nur hier von panoramaheischenden Ausflüglern bevölkert, mutet der weitläufige Felsklotz an, auf dem ein schlichtes großes Holzkreuz nach 24 km Wegstrecke das Erreichen des mit 1.456 m üNN höchsten Berges des Bayerischen Waldes, somit auch den Top Spot unseres Trails markiert.
Ein wenig orientieren muss ich mich, wohin es für mich weitergeht – jedenfalls nicht auf den Felsen hinauf, sondern direkt vorbei über einen steilen Weg bergab. Und hier, bei km 24,4 an der Gipfelstation der Gondelbahn zum Großer Arber und gegenüber der zur Einkehr einladenden Eisensteiner Hütte ist in exponierter Lage die zweite Verpflegungsstelle aufgebaut.
Meinen Laufrucksack und meine Stöcke von mir werfend widme ich mich sogleich beglückt dem Buffet. Vergleichsweise wenige, nämlich nur vier Versorgungsstellen weist unser Kurs auf. Aber das Angebot ist dafür deutlich opulenter als üblich. Allein fünferlei Kuchen mögen das verdeutlichen, wobei ich der kräftigeren Kombi aus Salzbrezeln, Käsewürfeln, Weißbrot und Tomaten sowie Äpfeln und Bananen den Vorzug gebe. Cola und warmer Tee runden die Sache als Getränkebegleitung ab. Natürlich gibt es auch allerlei Hochenergetisches, fest wie flüssig, aber zumindest ich kann dem pappigen „Zeug“ bei so einem Lauf nicht so viel abgewinnen.
Es fällt mir ein wenig schwer, mich von dieser Wohlfühloase loszureißen, meine Sachen zu packen und die Laufreise fortzusetzen. 700 Höhenmeter bergab stehen auf dem Programm, klingt nach easy going, ist aber insofern eingeschränkt ermutigend, wenn man bedenkt, dass der nächste Berg nicht wesentlich niedriger als der Große Arber ist.
Unter der Seilbahn hindurch führt eine gut ausgebaute Naturstraße zunächst geradeaus und dann und in langen Serpentinen durch den Wald beständig in die Tiefe. Hier kann man es so richtig rollen lassen. Mehr Achtsamkeit fordert der wurzelige Pfad, der an einem Abzweig weiter hinab führt. Im Baum- und Buschwerk hängende Trassierbandstreifen, vereinzelte Pfeilzeichen und gelbe Bodenpunkte markieren den Weg; darüber hinaus ist die U.TLM Route ganzjährig mit Plaketten an Bäumen und Pfosten ausgewiesen – auch ein Beleg dafür, welche Wertschätzung die Veranstaltung in der Region genießt. Jedenfalls bietet die ausgezeichnete Markierung kaum eine Chance, sich zu verlaufen.
Fast wie aus dem Nichts taucht das nächste Streckenhighlight auf: Der Kleine Arbersee (919 m üNN). Bekannt ist der ungemein idyllisch inmitten der Wälder gelegene See für seinen niedrigen pH-Wert, der ihn als Lebensraum für Fische fast unbewohnbar macht, und seine „schwimmenden Inseln“, entstanden aus vom Ufer losgelösten Moorfilzen, auf denen selbst vereinzelte Bäume gedeihen. Die im Sonnenlicht glänzende Kulisse des Sees mit eben jenen Inselchen reißt mich, am Nordufer entlang trabend, zu einem Fotostopp nach dem anderen hin. Man könnte den See auf einem Weg umrunden, nur das gehört leider nicht zum Streckenprogramm. Ehe ich mich versehe, ist die „Vorstellung“ für mich schon wieder beendet und ich tauche erneut ein in die Tiefen des Waldes. Waren bisher und vor allem auch am See noch vereinzelt Wanderer unterwegs, wird es nun recht einsam. Immer weiter und tiefer senkt sich der Weg ab und zunehmend befällt mich der bange Gedanke: Das muss ich alles auch wieder rauf!
Bis auf etwa 650 m üNN führt der steinige Weg hinab, zuletzt dem im Talgrund malerisch durch vermoostes Gestein rauschenden Bach Weißer Regen folgend. Mit der kleinen Reischbrücke endet die lange Downhill-Passage. Es geht wieder aufwärts, aber zunächst weiterhin gesittet. Viel optische Abwechslung bietet der schattige Weg durch den Wald nicht: meditatives Powerwalking ist angesagt. In langen Geraden fließen die Kilometer dahin, zunehmend lichtet sich der Wald und bietet schließlich auch wieder Fernblick auf die dunstige Silhouette des Großen Arber.
Auf dem Scheibensattel beim Langlaufzentrum Scheiben erreiche ich, nun wieder auf 1.050 m üNN angelangt, nach 37 km die nächste Verpflegungsstelle. Gleich neben der Straße liegt diese. Strategischer Vorteil: Man kann hier die zu spät Gekommenen einsammeln und per Bus nach Lam zurückfahren. Denn auch für diesen Punkt gilt ein Zeitlimit. Bis 14:40 muss man es geschafft haben. Mit 14 Uhr bin ich schon spät dran, aber nicht zu spät, und kann so frisch gestärkt in die nächste Etappe einsteigen.
Die setzt sich zunächst in einem breiten Forstweg durch den Wald fort. Anstrengender, aber deutlich spannender ist die Fortsetzung des Anstiegs über den stark verwurzelten und verblockten Zwerchecker Steig. Einmal mehr leistet ein U.TLM-Fan lautstark trommelnd Aufstieghilfe. Der Wald lichtet sich und eröffnet erneut jenen wunderbaren Ausblick über die Rundungen des Bayerischen Waldes.
Das Gipfelplateau des Zwercheck (1.333 m üNN) präsentiert sich ganz ähnlich dem von Heugstatt und Enzian: eine weitflächige Gräser- und Buschlandschaft mit vereinzelten Baumruinen und nachdrängendem jungen, aber noch niedrigen Nadelgehölz. Ein herrlicher Höhenweg führt hindurch. Ein alter Grenzstein mit bayerischem und böhmischem Wappen belegt, dass wir direkt an der tschechischen Grenze unterwegs sind. Und auch an der Sprache so manchen Wanderers merkt man, dass die Grenze zu „drüben“ hier keine trennende ist.
Über teils ausgesetzte und matschige Wiesen- und Waldpfade geht es steil hinab, begleitet von einem sich im dunstigen Horizont verlierenden Blick über all die Berge, die wir schon bewältigt haben. Hinab führt der Weg bis zu einer nur leicht abfallenden Schotterstraße, die auf einer Distanz von 4,7 Km nur eines tut: Immer geradeaus durch den Wald zu führen. Geradezu prädestiniert ist die Passage, es nochmals mit Tempo laufen zu lassen. Vorausgesetzt die Beine spielen mit. Kurz bevor die Passage endet, hebt ein „10 km to go“-Schild die Laune. Und gibt mir das gute Gefühl: Einen Marathon hast Du nun schon geschafft und laufen kannst Du immer noch. In ein selbstgefälliges „Nur noch 10 km“-Gefühl sollte man aber nicht verfallen. Denn die haben es in sich und fühlen sich definitiv mehr als nach zehn Kilometern an.
Der sogenannte Große Osser steht als letzte große Herausforderung bevor. Und sie ist größer als ich dachte. Der Einstieg über einen felsig-wurzeligen Pfad gewinnt schnell an Dynamik, was die Steilheit, die Höhe der Felsstufen und der Wurzelgebirge anbetrifft. Als hätte mir jemand den Stecker gezogen, muss ich eine Gehpause nach der anderen einlegen. Bei objektiver Betrachtung ist das ein landschaftlich und auch vom Profil her herrlicher Wanderweg. Doch subjektiv kann ich dem für den Moment wenig abgewinnen und mir spukt nur eine Frage im Kopf herum: Wann bin ich oben? Wann und wo oben ist, lässt sich aber nicht erahnen und so versuche ich, so gut es geht, den landschaftlichen Aspekt zu genießen und den mich einen nach dem anderen passierenden Mitstreitern ein Lächeln auf den Weg zu geben.
Der sich lichtende Wald und zunehmende Fels macht schließlich Hoffnung. Seilgesichert schlängelt sich der Pfad an einer senkrecht abfallenden Wand entlang empor. Der Einstieg in die felsige Gipfelregion des Osser ist geschafft. Ein wenig windet sich der Weg noch durch das Felsenlabyrinth, vorbei am Gipfelkreuz auf 1.293 m üNN und der überaus einladend, im Schutz der Felsen mit herrlicher Sonnenterasse positionierten Berghütte. Ein paar Meter müssen wir vom Gipfel wieder absteigen, bis zur Bergwachthütte, vor der bei km 47,2 die Verpflegungsstelle Nummer vier positioniert ist.
Eine freie Bank gibt es hier. Und da bleibe ich erst einmal sitzen. Erst- und einmalig an der Strecke wird auch alkoholfreies Bier ausgeschenkt. Und das lasse ich mir, wenig vernunftbetont, nun schmecken.
Die letzten Kilometer stehen bevor. Nur noch downhill sollen sie in Richtung Ziel führen. Klingt relativ entspannt. Ist es aber nicht so ganz. Das liegt nicht nur an den immerhin 670 Höhenmetern, die es runtergeht, sondern zunächst einmal daran, dass es gar nicht runter, sondern in wildem Auf und Ab über den wohl wurzeligsten Abschnitt der gesamten Strecke geht. Immerhin: Die Pause hat gutgetan und so hält sich die Verzweiflung in Grenzen. Fels und Wurzeln dominieren aber nur vorübergehend. Zunächst über Wiesen, dann durch den Wald senkt sich der Pfad zusehends in Richtung Tal. Die jetzt schon schwächere Sonne lässt sogleich den Wald viel düsterer erscheinen.
Gute zwei Kilometer vor Lam treffe ich mitten im Wald auf das Wallfahrtskirchlein Mara Hilf. Ein Helfer wartet hier schon und lotst die Ankömmlinge auf einen sehr speziellen Pfad, vom Veranstalter als „Holy Trail“ ausgewiesen. Dieser windet sich durch eine wundersame Landschaft wild durcheinander gewürfelter, fast komplett von Moos überzogenen Felsbrocken. Der Pfad selbst verläuft auf butterweichem Waldboden und ein wenig komme ich mir vor wie ein Hase, der hakenschlagend links-rechts-links durch die Natur eilt. Nonsens-Sprüche a la „Never poop on a Holy Trail“ säumen den Weg und münden in einem schmuckbehangenen Nadelbaum, dem „Holy Tree“.
Zurück auf dem Hauptweg erreiche ich bald den Waldrand, blicke hinab auf den Ortskern von Lam mit seiner die „Skyline“ beherrschenden wuchtigen Pfarrkriche St. Ulrich. Der direkte Weg in den Ort bleibt mir jedoch verwehrt. Über Wiesen schlängelt sich der Laufkurs hin und her, ehe endlich der passende Zugangsweg gefunden ist. Die Feuerwehr sorgt dafür, dass die eintröpfelnden Ankömmlinge unbehelligt über die Straßen gelangen. In einer letzten Schleife windet sich der Kurs hinab zum Osserbad, am Rande des Sportplatzes entlang und final über einen roten Teppich dem Zielbogen entgegen.
Die Sonne ist gerade untergegangen, die Kälte kehrt zurück. Aber warm ist mir ums Herz, als ich - endlich - die Ziellinie überquere. Persönlich über Lautsprecher wird jeder Ankömmling willkommen geheißen und beglückwünscht. Auch einige der Kühle trotzende Zuschauer und die für die Medaillen-Übergabe zuständigen Mädels sorgen für einen überaus herzlichen Empfang. Ein Fläschchen lokalen Likörs als „U.TML-Trailwasserl“ am Bande wird mir als „Medaille“ umgehängt und gefällt mir mehr als das übliche Blech. Und dann das, worauf ich mich schon lange gefreut habe: Ein kühles alkfreies Weißbier der lokalen Brauerei Waldschmidt aus dem ganz speziell gestylten U.TML-Finisherglas. Für jeden Einläufer wird es bereitgehalten und mich auch künftig im praktischen Einsatz immer wieder an diesen Lauf erinnern.
Herzerwärmend – das trifft den emotionalen Charakter dieser Veranstaltung wohl ganz gut. Auch wenn mir vieles rund um den Lauf in diesem Jahr nicht vergönnt war, so sind es einfach die vielen Kleinigkeiten rund um den herausfordernden wie wunderschönen Kurs über zehn Berge, die dem Ganzen einen ganz besonderen, eigenen, unverwechselbaren Flair verleihen. Dazu die Herzlichkeit und Unverkrampfheit der Menschen, die sich über die Organisatoren bis zu den Teilnehmern fortsetzt. So wundert mich auch im Nachhinein nicht, warum die Läufer dem U.TML „die Bude einrennen“, warum dieser Lauf einfach „Kult“ ist.
Laufberichte | ||||||
02.06.18 | Wei da Deifi durch‘n Woid und iwan Arber |
Bernie Manhard | ||||
28.05.16 | Vom Worst Case zum Holy Trail |
Bernie Manhard | ||||
30.05.15 | Der Kine vom Bayerwald |
Bernie Manhard |