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Laufberichte

Oulu Terwamaraton: Ren(n)tierjagd in Nordfinnland

24.05.14

Fotos: Natascha Sambach & Christian Reitz

Es gibt Dinge im Leben, die nur Läufer verstehen. An einen unbekannten Ort zu reisen, um dort einen Marathon zu laufen und gleichzeitig einen 30. Geburtstag zu feiern, gehört dazu. Reisen, Laufen und Feiern sind tatsächlich ein- und dasselbe. Und wenn man so schlecht trainiert hat wie wir, dann kann das eine lange Party werden…

 

(Party-)Vorbereitungen


Eigentlich bin ich kein Fan von großen, lauten Partys, bei denen sich die Laune exponentiell zur Alkoholkonzentration der Gäste verhält und man sich früher oder später in einem der zahllosen, dämlichen Partyspiele wieder findet. Ich bin mehr der Altenpflegeheim-Kaffeekränzchen-Typ, trockener Kuchen von Omas Hochzeitsporzellan, Roy Black im Hintergrund – das ist genau mein Ding! Aber Christian wird 30 (und er mag keinen trockenen Kuchen und Roy Black schon gleich gar nicht), also sollten wir schon etwas Besonderes machen.

Inspiriert durch die ungezählten (Marathon-) Laufreisen meiner Eltern, Andrea und Kay, gibt es nur eine einzig wahre Art, seinen 30. Geburtstag zu feiern: Mit einem Marathon. Google sei Dank fand ich einen (der genau einen Tag vor seinem Geburtstag stattfindet) und noch bevor Christian sich etwas anderes wünschen konnte, waren wir beide auch schon angemeldet. Die Party findet in Oulu, Finnland, rund 200 km südlich vom Polarkreis statt. Start ist um 12 Uhr mittags und es wird draußen gefeiert – bei jedem Wetter!



Oulu ist die „Hauptstadt Nordskandinaviens“ und Europas nördlichste Groß- und Universitätsstadt. Sie liegt etwa 90 Flugminuten nördlich von Helsinki und wie gesagt etwa 200 Kilometer südlich des Polarkreises. Oulu ist nicht nur die Heimat zahlreicher finnischer Wintersportler, sondern auch „Welthauptstadt der Luftgitarre“. Seit 1996 wird hier die Luftgitarren-Weltmeisterschaft im Rahmen des Oulun Musiikki Video Festivaalit (Oulu Music Video Festival) veranstaltet. Die Region bietet das gesamte Spektrum: Von kaltem, pechschwarzem und sternenklarem Winterhimmel mit lediglich zwei Sonnenstunden pro Tag, über die faszinierenden Lichtspiele der aurora borealis bis hin zu endlos langen und warmen Sommertagen mit über 22 Sonnenstunden. Salzige Meerluft und der Duft von Kiefern heißen Reisende am Bottnischen Meerbusen willkommen, sobald man in Oulu aus dem Flugzeug steigt.

Für den Marathon angemeldet haben wir uns im Januar. Wir waren damit eine der ersten, die auf der Meldeliste standen. Bis Anfang Mai hat sich an dieser Liste auch nicht viel getan; Laufen scheint in Finnland eine eher spontane Wochenendaktivität zu sein. Jedenfalls sollte es für uns das Lauf-Reise-Jahreshighlight sein, auf das wir uns auch gut vorbereiten wollten. Trainingsplan. Ernährungsplan. Das ganze Programm. Nichts sollte (durfte) schief gehen: Nach einem sehr kilometerreichen Februar und einer Meniskusverletzung im März folgten zunächst zahlreiche, nichtsnutzige Arztbesuche (bei denen mir unter anderem ein etablierter Berliner Orthopäde sagte: „Sie sind zu schwer für Marathon. Suchen Sie sich doch besser einen anderen Sport. Schwimmen zum Beispiel.“) Die Risse im Meniskus waren zu klein, um sie zu operieren, aber reichten aus, mich von jeglichem Sport fernzuhalten. Die schmeichelnden Worte des Arztes waren an dieser Stelle auch nicht hilfreich. So konnte ich bis zum Abflug, drei Tage vor dem Marathon, lediglich auf 540 traurige Trainingskilometer zurückblicken.

Christian schreibt – wie auch schon während seines letztens Berichts (Berlin Marathon 2013) – immer noch an seiner Doktorarbeit und kämpft im Labor gegen viel schlimmere Gegner als den inneren Schweinehund. Sein Trainingstagebuch beinhaltet bis dato gerade einmal 350 km. Aber – und wir wären keine Läufer, wenn wir so leicht aufgeben würden – wir haben gelernt: Wenn der Plan nicht funktioniert, dann ändern wir eben den Plan, nicht aber das Ziel! Eine Ren(n)tierjagd sollte dieser –  mein zweiter und Christians‘ dritter Marathon – werden. Im Januar noch hatten wir eine 4-Stunden-Zielzeit ins Visier gefasst. Doch jetzt wollte ich nur noch, dass wir es beide irgendwie ins Ziel schaffen und das wenn möglich noch in der offiziellen Zeit von 6 Stunden.

 

Die Party beginnt – Sind wir auf einer 80er Jahre Motto-Party?


Samstag, 10 Minuten vor 12 Uhr versammeln sich 365 Marathon-, 1635 Halbmarathon- und 753 10KM-Gäste auf der Insel Raatinsaari hinter dem Raatin Stadion zum Start. Unter den vielen unbekannten Gästen ist aber auch ein bekanntes Gesicht: Mirja, eine Arbeits- und Laborkollegin von Christian und eine gute Freundin von mir. Sie hat über fünf Jahre hier in Oulu studiert, spricht finnisch und läuft heute (als einzige deutsche Teilnehmerin) ihren ersten Halbmarathon!

Während hier vor nicht einmal drei Wochen noch Schnee gelegen hat und bis vor fünf Wochen noch Teile des Flusses gefroren waren, steht heute die Sonne hoch am Himmel und wärmt die Luft auf über 20 Grad. Die Finnen sind ein technikaffines Völkchen und es gibt wahrscheinlich nichts, was sie nicht mit irgendeiner Art von Gerät in der Hand, am Arm oder um den Knöchel messen, auswerten und analysieren könnten. Dazu kommt, dass die meisten neben der ohnehin schon auffälligen technischen Ausstattung auch mit ihrer Kleidung ins Auge stechen. Alles leuchtet in den verschiedensten Neon-Kombinationen: Gelbe Socken, pinkfarbenes Shirt und giftgrüne Kappe sind da keine Ausnahme. Entweder sind die Finnen einfach nur fröhlich, weil heute die Sonne so warm scheint, während an Wintertagen die Sonne gerade einmal 2 Stunden am Tag schwach durch die Wolken blinzelt? Vielleicht wollen sie sich aber auch nur vor den Bären schützen und sorgen mit der Signalkleidung dafür, dass Meister Petz sie nicht mit seinem Futter verwechselt oder ein Jäger hinter dem Wohngebiet nicht auf sie schießt. Möglich ist auch, dass wir hier in eine 80er Jahre Motto-Party geraten sind oder dass die einfach spinnen – die Finnen.
 
Nach dem Aufwärmprogramm nehmen alle hinter dem Starttor Aufstellung und nach einem kaum hörbaren Startschuss rennt die ganze Gesellschaft los. Nun ist es endlich soweit, er hat es 2012 nach seinem ersten Marathon in Berlin angekündigt: „Spiderman kommt vielleicht auch bald in deine Stadt.“ Heute läuft Spiderman in Oulu!



Noch vor KM 1 erreichen wir die erste Brücke. Sie verbindet die Insel Raatinsaari mit der Insel Pikisaari. Der idyllische Stadtteil beeindruckt mit alten Holzhäusern, darunter auch die ältesten der Stadt. In einem, dem Matila-Haus von 1740, befindet sich heute das Seemann-Heimatmuseum. In dem Seefahrerheim werden Möbel und andere authentische Gegenstände ausgestellt. War die Insel einst zur Hochzeit des Teer und Holzbootbaus noch lebhaftes Industriegebiet, ist sie heute ein angesagtes Künstlerviertel in dem verschiedene Handarbeitskünstler leben und ihre Waren in den vielen bunten Holzhäusern herstellen und zum Verkauf anbieten.

Die ersten Siedler ließen sich in der Region um Oulu vor etwa 7000 Jahren nieder. Die Menschen lebten hier von allem was die Natur für sie bereithielt, hauptsächlich von Lachs aus dem Meer sowie Wild und Beeren aus dem Wald. Als man jedoch im 13. Jahrhundert lernte, Lebensmittel mit Salz zu konservieren, gelangte von hier aus der Lachs auch auf die Festtafeln in ganz Mitteleuropa. Schnell wurde Lachs das bedeutendste Produkt der Region.

Gegründet wurde die Stadt Oulu übrigens erst 1605 vom schwedischen König Karl IX., der hier eigentlich vorhatte, sein Königreich auszubauen, später von dieser Idee aber doch wieder Abstand nahm. Erst 160 Jahre später, im Jahr 1765, erhält Oulu das Auslandshandelsrecht und kann neben dem  Lachs nun auch andere Naturprodukte nach Europa exportieren. Hierzu zählt unter anderem Teer, der vornehmlich von Holländern, Engländern und anderen Segelvölkern gekauft wird. Die deutsche Übersetzung von Terwahölkkä ja –maraton ist „Teerlauf und -marathon“ und nimmt Bezug auf genau diesen Teil der Geschichte.

Von Pikisaari aus geht es über die nächste Brücke zur Insel Toppilansaari und nach ungefähr zwei Kilometern auf der gesperrten Straße an den Strand von Nallikari. Heute, im Mai, bei strahlendem Sonnenschein und zahllosen Familien, die entweder im Sand spielen, in einem Gummiboot im Meer herumtreiben oder ein Eis essen, fällt es mir wirklich ausgesprochen schwer, mir vorzustellen, dass hier im Winter alles - ausnahmslos alles - zugefroren ist und sogar eine Eisstraße für Autos zur 40KM entfernten Insel Iin Röyttä besteht. Schlittschuhfahren, Eisangeln oder –tauchen, all das ist zwischen Februar und April möglich, während wir heute bei tatsächlich gefühlten 30 Grad an der Strandpromenade entlanglaufen und wie in einer finnischen Sauna schwitzen.

Die GARMIN –jänispalvelu (was so viel heißt wie „Garmin-Hasen-Service“) sind Pacemaker und sind sowohl für den Halbmarathon als auch für den Marathon verfügbar. Wir holen den 5h-Hasen sehr schnell ein, ohne dabei tatsächlich auf unsere Zeit zu achten. Wir haben uns für heute vorgenommen, so weit wie möglich durchzulaufen und dann, wenn laufen nicht mehr möglich ist (ungefähr bei Kilometer 30), immer jeweils 2 Minuten zu gehen und dann wieder 5 Minuten zu laufen. Mit dieser Taktik würden wir zwar nicht gewinnen, es aber trotzdem bis Zielschluss schaffen und die schöne Medaille mit den gravierten Teer-Fässern erhalten.

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