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Laufberichte

Ich liebe dieses Land

19.06.11
Autor: Joe Kelbel

Nein! Nicht schon wieder! Der Regen trommelt aufs Autodach, welcher Idiot hat meine Schuhe vor der Heckklappe liegen gelassen? Ich fasse es nicht, die Scheiben sind beschlagen, es ist 5 Uhr morgens und meine Laufschuhe stehen daraußen - nass, kalt, verdreckt und ziemlich einsam.

Versuch von Erinnerungen. Gestern 100 km gelaufen, kein Schlaf, totales Water-1oo. Dann nach Molsheim bei Strassburg gebrettert, Startnummer abgeholt. Dreigänge-Menü, 2 Flaschen Wein zum Auto getragen, 20 Uhr Heia im Kofferraum. Tiefschlaf eines Ultraläufers. Man hat mich vermisst auf der Marathon-Vorfeier. Mir doch egal. Ich bin Läufer und vorne klebt meine Biel-Finishermedaille.

Raus über die Rücksitzbank. Die Beine? Geiles Gefühl! An den Füssen ist die Haut abgelöst. Die Verdauungseinrichtung ist ein Müllhaufen, das ganze Zuckerglibberzeug von Biel hängt quer. Mir ist das sowas von egal, ich werde jetzt hier nicht auf dem Campingplatz versauern, nur weil es regnet, ich will laufen, laufen laufen! Ich bin frei!

Und so krempel ich meine Tarzanklamotten irgendwo aus dem Chaos, das sich zwischen Redbull-, Bierdosen und müffelnden Bielklamotten gebildet hat. Es ist eh alles durchfeuchtet hier in meiner Studentenbude. Die Elsäßer nennen mich deshalb „der Joe mit dem A Sex“.

Und das ist ja das Geile - ich bin hier bekannt wie der Wolf bei den Marathonläufern. Ja und der Wolf ist heute mein Feind. Es pisst wieder von oben herab und begisst den Wolf mit neuer Energie. Mir doch egal. Ich habe mehr Energie!

Ich will laufen. 6:30 Uhr Shuttelbus für die 2 Km nach Dorlisheim, oder wie der Ort heisst - wo meine kleine Fabienne ...ach lang ist´s her....

In Dorlisheim beim Cora in der Vorhalle starken Kaffee getrunken. Mann, was machen meine EHECbakterien für einen Aufstand! Gibt es nicht einen Anti-Colidrink für Ultraläufer?

Magenkrämpfe und Lachkrämpfe als ich meine französischen Kumpels wiedersehe. Die sehen ja mal sowas von bescheuert aus! Das sind allesamt gestandene Ultratrail-Läufer, fantastische Sportler, knallharte Typen, die jetzt hier mit den skurrilsten Verkleidungen auftauchen. Ich will gerne lachen, aber die Blubbersuppe, die sich während  der Bieler Nacht gebildet hat, erhöht das Risiko einer Fehlgeburt.

Da hilft nur eins: Laufen. Laufen heilt. Lachen auch. Aber alles der Reihe nach.

Bei km 2,5  - ja, was denn? Es ist noch nicht mal 8 Uhr.  Der Sylvaner ist Kümmel für 10 Meter Darm, oder wieviel da bei mir rebellieren, es könnten auch 100 Kilometer sein. Zack Zack Zack, Jaques Chirac, oder wie der Typ heisst und Ruhe ist im Karneval! Klaus wieselt noch irgendwie wie so ein junger Hund vor mir rum und macht Fotos, ist dann aber ganz schnell weg. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Ja , es gibt auch Wasser, und meine geliebten Orangenscheiben. Die Arme voll  mit dem goldenen Zeug laufe ich weiter. Ist ja nicht weit. Pinot Blanc! Mann, Leute! Laufen macht Spass! Und wir haben hier ein Zeitlimit von 6 Stunden! Lauft doch nicht weg!

Der Kougelhupf ist nicht so mein Ding, aber rohes Sauerkraut! Das tut meinem Magen wohl! Wie in dem Film mit Louis de Funés  -  die Außerirdischen landen wieder. Dazu einen Riesling und ab geht die Post.

Ha! Ich glaube viele Leser halten mich für bekloppt. Aber ich kann laufen, und deswegen mache ich das auch. Andere spielen das ganze Wochenende Golf und sagen das wäre Sport.   Wenn Marathon einfach wäre, dann würde es Fußball oder Golf heissen.

Aber ich kann nicht nur laufen! Flammkuchen bei km 14! Hahaha -  und bisschen Rosé dazu ja, nur ganz wenig. Dann  bleibe ich aber doch ein Weilchen und lass nochmal nachschenken

Wir laufen an der Bruche vorbei, oder wie das schöne Gewässer hier heisst. Also, ich lauf jetzt da so lang, Conny und Jörg sind am knutschen, da freue ich mich auf diesen Alten, den Elsässer, der irgendwie cool ist wie der Alm-Öhi. Den fotografiere ich jedes Jahr, aber dieses Jahr hat der ne komplett neue Zahnleiste, als hätte der dieselbe Versicherung wie der Stefan Raab!

Und dann mein Highlight, oder wie es auf französisch heisst: Die Bratwurst! Deswegen bin ich letztes Jahr zurückgelaufen, mich  hatte damals der Hunger einfach wieder in die Gegenrichtung getrieben. Und jetzt haue ich mir hier dermaßen die Wampe voll! Es ist eine Freude! Mein Frühstück bei km 18! Ich habe seit 2 Tagen nur Gels und Müsliriegel bekommen, und jetzt bin ich hier, und bleibe hier! Pinot Blanc! Lalala! Tralala! Ich bin Ultraläufer!

Pralles Leben im Schnelldurchlauf: Störche, alte Steine, Unmengen von Blumen, liebevolle Häuser, vom Rathaus geile Mucke aus riesigen Boxen. Kinder, die abklatschen, jeder hier weiss was wir machen, ein Renault mit Lautsprechern auf dem Dach der Pogo macht hahaha. Ich laufe hier so gerne, weiss wo die süssesten Kirschen hängen und klaue mir die prallsten Johannisbeeren. Ich liebe dieses Land! Wisst ihr, was ein Maulbeerbaum ist? Die Dinger wachsen hier, urtümlich, Brutstätte unserer Zitronenfalter, also den richtigen, nicht diese blöden Kohlweißlinge. Diese hübschen Falter. Mann!

Zack,  Zack, Zack, Jaques Chirac - weg ist der Pinot Gris in Scharrachbergheim. Halbzeit und ich bin unter 3 Stunden. Laufen macht Spaß! Ja!

Marlenheim, die Nudeln lasse ich weg. Pinot Noir ist ein Öl. Geil. Ohnehin bin ich total bekannt hier, aber jetzt wissen die alle, dass ich gestern 100 km gelaufen bin. Je weiter ich komme auf dieser Strecke, desto mehr Leute rufen: „Voilà le Joe! Il a fait le cent kilometre!“

Ist ja auch egal, ob die die Rechtschreibung so korrekt rufen können, ich habe es jedenfalls so verstanden, und mir ist alles egal, ich habe so einen Spass, ich bin laufgeil.Ich bin nur am Lachen.

Oh, in Wangen steht mein Lieblingswinzer. Die zwingen mich jetzt zu einem klitzekleinen Gläschen Wein. Na gut. Ich nehme die Weinflaschen und dirigiere die Band. Man was habe ich gelacht! Ich hab Tränen!

Irgendwie werde ich sentimental, mein Fanclub wird immer größer. Vielleicht liegt es daran, dass der Besenwagen näher rückt. Wer hier schnell läuft, ist selber dumm. Wir liegen uns in den Armen, heulen und vergessen die Zeit, wir sind knülle aber wir sind Läufer und das macht Spass!

Die Laufgemeinschaft hat sich gefestigt. Für die nächsten 10 Kilometer werden wir unzertrennlich sein und nächstes Jahr heiraten wir alle! Ich lach mich kaputt! Das gibt eine Massenhochzeit beim Marathon du Vignoble d‘Alsace und der Pater Tobias macht den Verbindungsoffizier.

Conny, die schwarze Fee, Jörg, der leidende römische Sklaventrieber und meine ganze französchische Gefolgschaft ziehen unter Absingen des gesamten französischen Liedergutes durch diese herrliche Landschaft. Munsterkäse und Gewurztraminer, Pastetchen und Pinot Gris, mir doch egal.

Laufen, Laufen Laufen, ja es ist immer noch ein Marathon. Nur mit viel, viel Pause, langen Gesprächen und viel, viel Lachen. Und dann ist Weihnachten. Es gibt Lebkuchen und Muscat Mann! Wenn der Crémant nicht so locken würde ......

Ja! Hurra -  km 41.5 Crémant! Ist das geil! Dort sammeln sich alle Chaoten  und machen chaotische Chaotenfotos.  Erstaunlich, wie  meine Franzosen mein deutsches Liedergut mitsingen! Vor allem mein persönlicher Hit „Wir lagen vor Madagaskar“ kommt sehr gut an! Ich habe  Tränen in den Augen. Ob es am Wein oder am hervorragenden Laufwochenende liegt? Mir doch egal. Ich kann laufen und ich mach das auch! Im Ziel bekomme ich nochmal  Wein und ein Essen und Bier und nochmal VIP-Bereich und nochmal Wein. Ja und dann gehen mir irgendwie die Vorhänge runter.

Dank an Rita und Dita. Ich glaube, ich habe den Schmalztopf alleine geleeert. Gruß an Katja, Sabine und Ralf, der Schmalz war klasse! Und Gruß an alle meine Elsäßer Freunde. Danke für die hervorragende Bewirtung vor, während und nachher. Ich bin um 20:30 in den Kofferrraum gekrochen und habe noch im Schlaf Tränen gelacht! Ich liebe dieses Land!

 

Informationen: Marathon du Vignoble d'Alsace
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