„Hat der Steiner keinen Bock auf Steinbock?“, haben sich diejenigen gefragt, die meine Laufplanung kannten und mich in Chur nicht am Start antrafen. Es ist nicht so, dass ich keinen Bock darauf gehabt hätte, am Marathon zu starten, der den Namen des Kantons Graubünden trägt, welcher wiederum den Steinbock als Wappentier sein eigen nennt.
Der Grund für mein Nichterscheinen war Anton, der ebenfalls dort starten wollte. Da wir unseren Lesern über möglichst viele Läufe berichten wollen, schlug Klaus vor, dass ich stattdessen nach Chamonix fahren und dort am Marathon du Mont Blanc teilnehmen könne. Zudem könne ich so einen Vorgeschmack auf den UTMB bekommen, den ich mir im kommenden Jahr zum Fünfzigsten gönnen möchte.
Ein weiterer angenehmer Nebeneffekt des Programmwechsels war, dass ich am Freitagabend am Abi-Ball unserer Ältesten bis nach Mitternacht den stolzen Vater markieren konnte, ohne morgens vor 5.00 Uhr auf dem ersten Zug nach Chur sein zu müssen.
Trotz akribisch geplantem Samstagmorgen verzögert sich meine nach einem frühen Mittagessen geplante Abfahrt in die französischen Alpen. Nach einem Halt während der Besorgungen fürs Wochenende springt der Motor nicht mehr an. Aus, fertig, Schluss. Mit viel Glück und der Überbrückungshilfe zweier netter Menschen komme ich zwar weiter, habe aber immer noch ein gravierendes Problem unter der Haube. Jetzt ist rollende Planung im wörtlichen Sinn angesagt. Nach einem vergeblichen Anlauf – samstags geschlossen - steuere ich ein Heimwerker-Paradies an und sehe auf dem Weg dorthin beim Vorbeifahren, dass eine Markenwerkstätte sich offensichtlich keinen freien Samstag leistet. Eine halbe Stunde später ist eine neue Batterie eingebaut, die Spannung wieder an der Zündung und meine Anspannung gewichen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich die Hinweise auf abnehmende Funktion der nicht mehr taufrischen Stromquelle hätte bemerken sollen. Ich glaube, bemerkt habe ich sie, aber nicht ernst genommen. Ich nehme diese Überlegung als warnenden Hinweis auf den bevorstehenden Marathon in den Bergen.
Am frühen Abend treffe ich aus dem Wallis herkommend in Chamonix ein und finde gleich einen Parkplatz in der Nähe des Centre Sportif. In diesem sehr in die Jahre gekommenen Beton-Kuppelbau sind die Startnummernausgabe und eine kleine Marathon-Messe. Beim Blick an die von Wassereinbrüchen verunzierte Decke denke ich: „ Hoffentlich bröckelt bei mir morgen der Putz nicht in gleicher Weise ab.“ Bei der Übergabe der Startnummer mit integriertem Chip, des Trinkbechers für die Verpflegungsstationen, des Kleiderbeutels und des Funktionsshirts wird mir alles organisatorisch Wissenswerte erklärt. Wer im Französisch nicht bewandert ist und der Konversation nicht ganz zu folgen vermag, kann die Informationen aber auch dem umfangreichen Roadbook entnehmen.
Nebst Touristengruppen aus Japan und Indien treffe ich bei meinem abendlichen Bummel durch die Innenstadt vor allem solche Menschen an, die in irgendeiner Weise dem Sport in den Bergen angetan sind. Ihr Aussehen und ihre Kleidung unterstreichen den Anspruch Chamonix‘ als Hauptstadt des Alpinsports. Beim Anblick gestählter, sehniger, von der Gebirgssonne gebräunter Läuferbeine wird mir etwas mulmig. Einige sind sogar noch in lockerem Trainingsschritt unterwegs. So weit bin ich noch nicht; ich spare die Kräfte für morgen, denn an diesem Marathon – so viel ist mir jetzt schon klar – werde ich kaum einen Feld- , Wald- und Wiesenläufer antreffen. Die Leute sind nicht angereist, um auf die lockere Tour im Vorbeigehen eben mal noch einen Marathon einzupacken.
Um 5.00 Uhr holt mich der Wecker aus meinem in der zweiten Nachthälfte eher unruhigen Schlaf. Als Erstes muss ich auf den Balkon und den Anblick des Mont Blanc im Licht des anbrechenden Tages verinnerlichen. Den ganzen Tag über wird seine Gestalt die Aussicht dominieren und er sich in allen Facetten zeigen.
Die Kohlenhydrate verleibe ich mir aus reiner Vernunft ein, Lust dazu verspüre ich nicht. Ich glaube, es ist die Aufregung, die mir den Appetit nimmt. Ich merke das daran, dass ich in besonderer Gewissenhaftigkeit meine Ausrüstung überprüfe. Die Wahl der Kleider und Schuhe ist allerdings einfach: Mit der Jacke im Trinkrucksack kann ich mit kurzer Hose und ärmellos an den Start, meine Füße bekommen die leichteren Trailschuhe mit Gamaschen verpasst. Vor dem Anziehen verpasse ich meiner Haut aber noch eine dicke Schicht Sonnenschutz.
Auf dem Weg zum Start bin ich nicht auf die Wegweiser angewiesen. Ich muss nur den Massen folgen, die sich ins Zentrum begeben. Auffallend ist der hohe Standard der Ausrüstung. Es ist unübersehbar, dass Frankreich Trail-Land ist. Viele Teilnehmer werden von Freunden und Verwandten begleitet, die für eine stimmungsvolle Kulisse sorgen und die Stadt schon früh am Morgen mit Leben füllen und Begeisterung verströmen.
Wenn es so etwas wie lockere Anspannung gibt, dann liegt diese im Augenblick des Countdowns in der Luft. Pünktlich um 7.00 Uhr preschen die Schnellen aus der ersten Reihe los, während sich dahinter das dicht gedrängte Feld in Bewegung setzt. Schon hier wird deutlich, dass mit gut 2000 Startplätzen – die nota bene alle schon vor Ende April vergeben waren – die Kapazität der Veranstaltung erreicht ist.