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Laufberichte

LonDONE

 

Was für ein Lauf! Was für eine Stadt! Was für ein Publikum! Aber halt, für Euch bin ich ja noch nicht einmal von zuhause abgeflogen. Mit Ralph McTells Klassiker im Sinn, dessen Streets of London zur Eroberung nun endlich in greifbarer Nähe vor mir liegen, schwebe ich freitags eine gute Stunde nach dem Start vom Köln/Bonner Flughafen mit der irischen gar-nicht-mehr-so-Billigfluglinie meines Vertrauens majestätisch auf dem Außenflughafen Stansted im Nordosten der englischen Hauptstadt mit ihren knapp neun Millionen Einwohnern ein. Vor mir und meinem Begleiter Eugen aus dem heimischen Lauftreff liegt das Erlebnis sicherlich eines der aufregendsten Stadtmarathonläufe zumindest dieses Planeten.

Was motiviert jemanden, zugegebenermaßen ganz tief in die Tasche zu greifen, um hier dabei sein zu können? Für mich ist es zunächst einmal die Vollendung der läuferischen Entdeckung der großen britischen Inseln: Nach Dingle in Irland, Belfast in Nordirland, Edinburgh in Schottland und Tenby in Wales bildet England den finalen Höhepunkt dieser kleinen Reihe. Aber das ist es nicht alleine. Viele von Euch kennen die zur World Marathon Majors zusammengeschlossenen Läufe in Berlin, Boston, New York, Chicago, Tokio und eben London (wobei kürzlich noch Sydney hinzugekommen ist). Die Six-Star-Medal, die ich gerne erlaufen möchte, birgt weitere Motivation. Die ersten drei dieser Serie befinden sich auf meiner Habenseite, der Rest ist noch im Soll.

Bei nur drei Übernachtungen haben wir uns auf die Mitnahme von Handgepäck beschränkt und sitzen daher nach Erledigung der Einreiseformalitäten zügig im Stanstedexpress, der uns in einer guten Dreiviertelstunde zur Liverpool Street bringen wird, von wo es nur noch ein Katzensprung in unser Tower Hotel ist. Einreiseformalitäten: Kurz entschlossen hinfliegen ist seit wenigen Tagen nicht mehr, nachdem sich die Briten bekanntermaßen zum Verlassen der EU entschlossen hatten. Man braucht jetzt eine von zuhause aus zu beantragende, spezielle Einreisegenehmigung (ETA), ähnlich wie in die USA. Das ist zwar lästig und etwas umständlich, intellektuell und finanziell aber zu bewältigen.

 

 

Der offizielle Participant Guide mit allen Informationen für die Teilnehmer ist uns per E-Mail zugesandt worden, mit dem wir uns schnurstracks zur Marathonmesse auf dem Exhibition Centre London (kurz ExCeL), dem Messegelände in den Royal Docks, einem Teil der Docklands im Osten von London, begeben. 2012 hatten hier Wettbewerbe der olympischen Spiele stattgefunden, die, bzw. die nachfolgenden Paralympics, ich in bester Erinnerung habe, denn mit einer Presseakkreditierung versehen konnte ich hier den Marathonlauf „meines“ blinden kenianischen Freundes Henry Wanyoike live und in Farbe begleiten und darüber auf dieser Seite berichten. Die Messe ist, dem Anlass entsprechend, riesig. Bereits seit Mittwoch geöffnet, konzentriert sich das Geschehen natürlich auf Freitag und Samstag, wir sind mittendrin.

Trotz der hohen Teilnehmerzahl – dazu später Näheres – bin ich überrascht, wie schnell wir unsere Startnummer samt großem Klarsichtbeutel in den Händen halten. Letzterer ist übrigens das einzige Gepäckstück, das zum Transport vom Start zum Ziel akzeptiert wird, also nicht verlieren! Die Messe korreliert in Qualität und Quantität mit der Bedeutung des Ereignisses, allerdings auch in preislicher Hinsicht, das sollte kein Geheimnis bleiben. Ich bin ja nicht doof und gehe den Angeboten auf dem Leim, wo kämen wir denn da hin! Selbstverständlich bleibt das am Ende graue Theorie, denn die offizielle Kollektion ist dann doch zu verlockend, um nicht zuzugreifen. Und bei Nutzung des Plastikkärtchens fällt die Ausgabe ja auch gar nicht auf.

Auch wenn wir beide schon mehrfach in der englischen Metropole gewesen sind, bleibt die Erkundung der näheren Umgebung natürlich nicht aus, was bei einem Hotel unmittelbar an der nördlichen Auf- bzw. Abfahrt zur berühmten Tower Bridge nicht schwerfällt. Exakt dort trifft sich, wer möchte, am Samstagmorgen zum gemeinsamen Frühstückslauf, u.a. mit Achim, dem interAir-Boß und der gleichermaßen sympathischen wie bescheidenen Irina Mikitenko, einer unserer besten Marathonläuferinnen aller Zeit. 2008 und 2009 hatte sie hier die Nase vorne gehabt und verpaßte den Streckenrekord mit entsprechendem Preisgeld um lächerliche zwei Sekunden.

 

 

Wir überqueren die Themse über die Tower Bridge, um am Ufer bis zur Millennium Bridge zu joggen und nach deren Passieren auf der gegenüberliegenden Seite zurückzulaufen. Die reine Fußgängerbrücke war von der Queen persönlich eingeweiht und kurz danach direkt wieder gesperrt worden. Was war passiert? Die Brücke schwankte extrem stark, was Schlimmes befürchten ließ. Sir Norman Foster, der Architekt (u.a. auch der Reichstagskuppel), wies sämtliche Verantwortung von sich. Selbstverständlich sei für das Schwanken ausschließlich der sonderbare Gang der Londoner ursächlich. Nach einer entsprechenden Verstärkung war dann für die Zukunft alles in Ordnung.

Zur Schonung der Laufwerkzeuge schließen Eugen und ich uns der organisierten, vierstündigen Bustour an, eine weise Entscheidung. Unsere muttersprachlich deutsche Führerin macht kaum eine Atempause und versorgt uns reichlich mit Informationen und vielen Anekdötchen, u.a. dem eben geschilderten. Wie das Leben so spielt, schlendern wir dann doch noch etliche km in der näheren Hotelumgebung, hoffend, dass sich das morgen nicht rächen wird.

Zwischen 7 und 8:20 Uhr besteht die Möglichkeit, in kleinen Gruppen (insgesamt sind wir wohl um die 140 Personen) zur Bahn Richtung Start am Greenwich Park zu fahren. Wir verlassen uns auf den bekennenden London-Junkie Uli Sauer, der heute seine 26. London-Medaille erkämpfen wird, und fahren auf den letzten Drücker, um die Wartezeit im Park gering zu halten. Der kurze Fußmarsch mit Anja und Thomas von der Haltestelle zu unserem roten Wartebereich, einer von fünfen, vergeht im Fluge, genauso wie der Aufenthalt im Park selber, denn zu Schauen und Staunen (aber auch sich Wundern) gibt es jede Menge. Insbesondere der „Running King“ aus Korea in vollem Ornat hat es uns angetan. Jedem ist einer der nummerierten Lastwagen zur Kleiderbeutelabgabe zugewiesen, was ebenfalls ratzfatz erledigt ist. Natürlich hilft das Bombenwetter entscheidend bei der Frage, zu welchem Zeitpunkt man am besten seine Sachen abgibt.

 

 

Schön ist, dass bereits vor dem Start wiederverschließbare Viertelliter-Wasserflaschen ausgegeben werden, die sich während des Rennens ob ihrer Mitnahmefähigkeit bestens bewähren werden. Karawanengleich begibt sich alles zum Start, der angesichts der Läufermasse intelligent organisiert ist: Die Starts erfolgen in Wellen zwischen 9:30 und 12:30 Uhr, abwechselnd nach einer der fünf Wartebereiche, was jedes potentielle Chaos erfolgreich verhindert. Unsere Welle darf ab 10:40 Uhr los, dreieinhalb Minuten danach überschreite ich die erste Zeitmessung. I'm running London!

Erstaunlich finde ich es, dass trotz nicht allzu breiter Straße freies Laufen direkt möglich ist. Da bleibt Zeit und Muße, sich direkt der Reporterpflicht zu stellen. Motive wird es heute wie Sand am Meer geben, mit rekordverdächtigen mehr als 400 Fotos (nur vom Lauf selber) werde ich nach Hause kommen. Ähnlich wie in New York hilft beim Entzerren aber auch die Aufteilung auf drei später zusammenzuführende Startstraßen. Die ersten von unzähligen Anfeuerungsplakaten tauchen auf, auch die Lautstärke der bereits zahlreichen Zuschauer gibt einen Vorgeschmack auf das Kommende.

 

 

Das Bombenwetter hatte ich bereits erwähnt. Kein Wölkchen findet sich am Himmel, bis zu 23 Grad hat man uns angedroht. Da nutzen nicht wenige Läufer bereits die erste von zahlreichen Duschen aus Feuerwehrschläuchen zur Kühlung des Körpers und vielleicht in dem einen oder anderen Fall auch des Mütchens. Vor den typisch englischen Reihenhäusern stehen zahlreiche Familien und erfreuen sich am bunten, gutgelaunten Treiben. Am Charlton-Park – für den die englische Fußball-Legende Bobby Charlton eben nicht Pate stand – sind die ersten drei km abgearbeitet, bevor wir das richtig realisiert haben.

Die erste Wasserversorgung (ausschließlich Flaschen) gibt es noch vor Meile drei (also knappen fünf km) und danach alle weiteren drei bis am Ende zwei Meilen, 13mal insgesamt. Dann wird es schlagartig voller, als unsere Spur mit den beiden anderen bereits vereinigten zusammengeführt wird. Nach fünf km ist auch der östlichste Punkt unseres Kurses erreicht und nach einem kurzen Abstecher nach Norden in Richtung der Themse (River Thames) biegen wir nach Westen ein. Überhaupt werden wir uns häufig in der Nähe des mit 346 km nach dem Severn (354 km) zweitlängsten Flusses Großbritanniens aufhalten, der London mit der Nordseemündung verbindet.

Erst gute dreißig Minuten sind für Eugen und mich - wir haben vereinbart, zusammenzubleiben - bisher vergangen. Selbstverständlich sind die beiden Teilnehmer aus Waldbreitbach die Stars der Veranstaltung, aber auch weniger bekannte Personen geben sich ein Stelldichein. So kehrt ein gewisser Eliud Kipchoge (KEN) - kein anderer Läufer hat so oft an der Themse gesiegt - an die Stätte seines vierfachen Erfolges zurück. Der zweifache Olympiasieger trifft dann nicht nur auf den aktuellen Olympiasieger von Paris, denn alle vier Olympiasieger von Paris werden beim 45. TCS London Marathon starten: Sifan Hassan (NED), Tamira Tola (ETH) sowie die Schweizer Rolli-Champions Catherine Debrunner und Marcel Hug haben ihre Teilnahme zugesagt. Hassan gab ihr Marathon-Debüt 2023 bei ihrem Sieg in London und ist die einzige Athletin, die bei Olympischen Spielen Gold über 5.000 m, 10.000 m und Marathon gewinnen konnte. Tola gewann 2023 in New York und hält dort auch den Streckenrekord. Marcel Hug ist fünffacher London-Sieger und hält ebenso wie Debrunner den Streckenrekord an der Themse. Die Favoritenrolle übernimmt Weltrekordhalterin Ruth Chepngetich (KEN), die mit 2:09:56 in Chicago Geschichte schrieb. Das hochklassige Frauenfeld wird komplettiert durch die Vorjahressiegerin Peres Jepchirchir (KEN).

Doch auch unter den deutschen Farben sind die Ambitionen groß: Nach seinem deutschen Halbmarathon-Rekord in Berlin (59:31 Minuten als erster Deutscher unter einer Stunde) peilt Amanal Petros die nächste nationale Bestmarke an - diesmal über die doppelte Distanz. Er, der in jedem Wettkampf in die Top drei zu laufen versucht, peilt nach seiner Vorbereitung in Kenia eine persönliche Bestzeit an. Das heißt in seinem Fall deutscher Rekord, der nur zwei Sekunden über seiner PB von 2:04:58 Stunden liegt. Im vergangenen Dezember hatte Samuel Fitwi diese knapp unterboten (2:04:56).

 

 

Es wird voller, und zwar gleichermaßen im Feld als auch an beiden Seiten außerhalb dessen. Und laut ist es! Kaum mehr oder weniger teilnahmslose Zuseher, nein, Spektakel machen fast alle. Nach 6 km haben wir ein großes, liegendes U gedreht und sind wieder am Nordende des Greenwich Parks angelangt. Bei diesem Namen klingelt es sicher bei einigen von Euch, besonders aber bei meinem Lauftreffler Tobi, dem Vermesser, denn Greenwich Mean Time (GMT) war von 1884 bis 1928 Weltzeit. Der Hintergrund: Im Mittel überquert die Sonne um 12:00 GMT des Meridiandurchgang von Greenwich und hat dabei annähernd den höchsten Stand am Himmel. 1972 wurde sie in dieser Funktion von der koordinierten Weltzeit (UTC) abgelöst.

Wenn man nicht ganz genau hinschaut, irritieren die Zugläufer (von 3:00 bis 7:30 Std. im Abstand von 15 Minuten), denn es gelten immer nur die des jeweiligen Startbereichs (der fünf), für uns also die des roten. Musikgruppen sind zwar eher rar gesät, was aber kein Verlust ist, denn wer weiß, ob die sich gegen die viele hunderttausende Zuschauer hätten durchsetzen können.

Der Veranstalter meint, erst hier an Meile 6 erreichten wir den ersten Höhepunkt, der im Jahre 1997 unter der Bezeichnung Maritime Greenwich in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen wurde. Ausschlaggebend hierfür sind die vielen qualitativ hochwertigen Gebäude von historischem und architektonischem Interesse. Der Stadtteil war früher das Zentrum der britischen Marine gewesen. Durch die königliche Sternwarte verläuft der frühere Nullmeridian, und die Zeitzone Greenwich Mean Time ist nach ihm benannt, ich sprach bereits darüber. Hier stehen die Zuschauer ganz besonders dichtgedrängt.

Ah, da sehe ich hohe Segelmasten! Hier umrunden wir mit dem 1869 fertiggestellten englischen Tee- und Wollklipper Cutty Sark eines der schnellsten Segelschiffe seiner Zeit und einer der letzten für den Seehandel gebauten Klipper. Seit 1954 liegt sie hier in Greenwich in einem speziellen Trockendock als Museumsschiff. 2007 fast vollständig ausgebrannt, konnte man sie nach einer Restaurierung fünf Jahre später wiedereröffnen. 2014 wurde sie erneut durch einen Deckbrand beschädigt. Der Name des Schiffes entstammt Robert Burns’ berühmtem Werk Tam O’Shanter (1791) und bedeutet in dessen Mundart ein „kurzes (Unter)hemd“, das der schönen Hexe Nannie gehört. Das Schiff hat dementsprechend als Galionsfigur eine Dame – die Nannie – mit einem kurzen Hemdchen bekleidet und einem Strick in der ausgestreckten linken Hand (anstelle des Schweifes von Tams Pferd, den sie bei dessen Verfolgung nur ergreifen konnte). Wir ergreifen die Flucht nach vorne.

 

 

Die Zuschauer sind echt der Wahnsinn in Zahl und Lautstärke. Mit 210 Marathons und länger auf bisher drei Kontinenten habe ich schon viel erleben dürfen, das hier aber ist wohl das intensivste Erlebnis im Austausch zwischen Sportlern und ihren Fans, wir feiern uns gegenseitig. Ungezählte Anfeuerungsschilder werden hochgehalten, viele der Sprüche kennt man, manche sind für mich neu. Toenails are overrated (Zehennägel werden überbewertet) ist echt der Hit. Auch Eisstückchen werden hin und wieder gereicht, die man sich unter die Mütze auf den Kürbis legen oder ins Laufhemd bzw. die Hose stecken soll. Vor Letzterem würde ich allerdings voller Sorge persönlich wegen drohender Spätfolgen doch eher Abstand nehmen wollen. Abstand halte ich auch vom Weingummi, den nicht wenige nette Leute am Straßenrand anbieten, aber aus anderen Gründen. Typisch für den angelsächsischen Raum, habe ich mit Haribo und Co. zum Leidwesen der Gattin und Unverständnis der meisten von Euch nichts am Hut.

Meile 9 ist erreicht, auf jeder Brückenüberführung drängen sich die Leute um die besten Plätze. Jetzt Half a Pint im The Brunel Pub? Ich hätte nichts dagegen. Auf den nächsten drei Meilen habe ich außer dem ganz normalen Wahnsinn nichts besonders Erwähnenswertes in Erinnerung. Aber danach! Die Tower Bridge ist in Sicht! Kaum verstehen wir unser eigenes Wort, so laut peitschen uns die Fans nach vorne. Mit großem Vergnügen erinnere ich mich an deren mehrfache Überquerung bei Trainingsläufen mit meinem Freund Thorsten anläßlich unseres Besuchs der Paralympics 2012. Ein erhebendes Gefühl!

 

 

1894 eröffnet, verbindet die im neugotischen Stil errichtete Klappbrücke die Stadtbezirke Tower Hamlets im Norden mit London Borough of Southwark auf der Südseite. Am Nordufer der östlichsten Londoner Themsebrücke befinden sich der Tower of London (unmittelbar gegenüber liegt unser Hotel) und die St Katharine Docks, am Südufer die City Hall. Zweimal können Eugen und ich das Prozedere der Öffnung für zu hohe Schiffe zu anderer Zeit erleben. In jeweils nur 90 Sekunden ist das erledigt, bis in die Siebziger Jahre dampfbetrieben. Legendär ist der Busfahrer in den Fünfziger Jahren, der bei dichtem Nebel das Haltesignal übersah und mit beherztem Überfahren des sich öffnenden Spalts eine Katastrophe verhinderte.

Einfach nur geil ist der Gegensatz zwischen dem mittelalterlichen Tower und der dahinterliegenden hypermodernen Hochhausansammlung. Hinter der Tower Bridge geht's erstmal rechts ab, was mental schwerfallen könnte, denn das Ziel liegt links, und die meisten werden jetzt auf der anderen Straßenseite Läufer entgegenkommen sehen, die die kommende große Schleife um die Isle of Dogs schon hinter sich und damit zehn Meilen mehr auf dem Konto haben. Jetzt geht es, nördlich der Themse, wieder nach Osten. Wer ein 5 min/km-Tempo bis Halbmarathon gehalten hat, kommt in den Genuss, die Männer-Spitze auf der anderen Straßenseite zu sehen (ich leider nicht). Die haben dann 22 Meilen hinter sich, also 9 Meilen Vorsprung (Die Frauen-Elite startete 30 min früher und ist auch dann schon längst entschwunden).

Gleichermaßen auf dem Rück- wie auf (unserem) Hinweg ist die Straße brechend voll. Auch wenn wir lediglich mitschwimmen wollten, gestaltet sich dieses schwierig bis aussichtslos, denn die vor einem Liegenden sind einfach zu unterschiedlich schnell unterwegs. Immer wieder ist kraftraubendes Abstoppen, wieder An- und Slalomlaufen angesagt. Immer häufiger wird vor einem abrupt abgestoppt, so mancher Zusammenstoß wird unvermeidlich. Doch sind die Briten höflich, meistens folgt sofort eine Entschuldigung. Viermal hat man uns zusätzlich zu Wasser oder an einem separaten Stand Iso angeboten, fünfmal werden wir es erhalten. An Meile 13 reicht man uns das erste von zweimal (dann erneut bei km 18) ein Geltütchen, das ich gerne und nehme und dessen Inhalt auch gut vertrage.

 

 

Anderthalb Meilen haben wir nun Gelegenheit, die uns Entgegenkommenden und zumeist deutlich Schnelleren zu beobachten. Dann wird die Straße auf der ursprünglichen Insel und heutigen Halbinsel Isle of Dogs eng, die Zuschauer rücken näher und auch an den Pubs stimmt die Stimmung, sofern das überhaupt nötig und möglich ist. War die Hundeinsel (man ist sich aber wohl nicht ganz einig, ob der Name von den Dogs oder doch Docks stammt) früher eher vom Prekariat bewohnt, bestimmen seit Beginn der 1990er Jahre in zunehmendem Maße ausgedehnte Geschäftsviertel das Bild. Der Gebäudekomplex Canary Wharf hat, vom Wasser aus gesehen, durchaus etwas vom südlichen Manhattan.

Ausgangs der Halbinsel geht es dann allerdings ganz leicht bergan, und zu viele sind des Laufens nicht mehr mächtig. Das fordert von uns nicht nur sehr viel Aufmerksamkeit, sondern beim Umkurven auch ganz schön viel Kraft. Die bringt uns das bei Meile 18 gereichte Iso zumindest teilweise wieder. Einen weiteren Stimmungshöhepunkt erreichen wir dann am Büroturm von Canary Wharf. Das One Canada Square, auf das wir exakt zulaufen, ist mit einer Höhe von 236 Metern und 50 Stockwerken das dritthöchste Gebäude in London.

Zwei Kenianer stehen zum Anfeuern mit ihrer Landesfahne am Rande und schreien sich die Lunge aus dem Leib. Mein ihnen entgegengeschmettertes „Harambee!“ (Laßt uns alle an einem Strick ziehen! Kenias Leitspruch) läßt sie erst kurzzeitig verstummen und dann von einem Ohr zum anderen strahlen. Bis zum Tower zieht es sich dann etwas hin, doch es motiviert, wenn man die Gesichter der Läufer auf der anderen Seite sieht. Die da drüben haben noch 9 Meilen mehr als wir zu absolvieren. Allein die hohe Zahl lohnender Fotomotive in der Läuferschar lenkt erfolgreich von der eigenen Anstrengung ab, insbesondere der Weltrekordversuch als schnellster Marathon in einem Zehn-Personen-Kostüm. Mit dem Erreichen der Meile 21 kommt das Finish schon näher.

Die Ringburg Tower of London mit zwei Festungsringen, die wir bald darauf wieder erreichen, diente mal den englischen und britischen Königen unter anderem als Residenz, Waffenkammer, Werkstatt, Lager, Zoo, Garnison, Museum, Münzprägestätte, Gefängnis, Archiv und Hinrichtungsstätte. Ursprünglich war der Tower im 11. Jahrhundert als Festung Wilhelms des Eroberers gegen die potentiell feindseligen Bürger der Stadt London errichtet worden. Bis zu Jakob I. nutzten alle englischen Könige den Tower zeitweilig zum Aufenthalt. Heute ist er als Stützpunkt der britischen Monarchie im historischen Zentrum Londons eng mit der britischen Geschichte verbunden. Natürlich ist auch das der UNESCO nicht verborgen geblieben, die das Ensemble 1998 zum Weltkulturerbe erklärte.

 

 

Nachdem wir den Tower passiert haben, geht es hinunter in den großen Straßentunnel Blackfriars. Dahinter verbergen sich die Dominikaner als schwarze Brüder mit ihren dunklen Umhängen, denn deren Kloster war hier lange beheimatet. Der Katholizismus fand übrigens in Person König Heinrichs VIII in seinem Konflikt mit dem Papst am Ausgang des 16. Jahrhunderts ein ziemlich abruptes Ende. Der König wollte nämlich seine Ehe auflösen lassen, da aus ihr kein männlicher Thronfolger hervorgegangen war. Der Papst lehnte dies ab. Deshalb wandte sich der König gegen die römische Kirche, ließ sich zum Oberhaupt der englischen Kirche ernennen und verlangte von allen Beamten und Geistlichen den Suprematseid. Die religiösen Veränderungen, die Heinrichs VIII in der anglikanischen Kirche durchsetzte, waren allerdings nicht so tiefgreifend wie z. B. in der evangelischen Kirche. Nach Heinrichs VIII Tod setzte unter Maria I. eine vorübergehende Rekatholisierung ein. Unter wiederum deren Nachfolgerin Elisabeth I wurde die anglikanische Kirche endgültig zur Staatskirche in England.

Nach dem Passieren zahlreicher sehr bekannter Brücken folgt eine lange Gerade auf dem Embankment, der Promenadenstraße an der Themse. Ich wusste z.B. nicht, dass diese durch die 100 km entfernte Nordsee einem starken Tidenhub von sage und schreibe 8 m ausgesetzt ist. Linkerhand erkenne ich mit dem London Eye das weltbekannte Riesenrad, auf dem wir morgen innerhalb einer halben Stunde eine Runde zu drehen gedenken. Seit 2002 bestehend, ist es mit 135 m Höhe das zweithöchste Europas. Sollte es zunächst nur 4 bis 5 Jahre stehen, hatte es nach nur zwei Jahren als wahre Goldgrube die kompletten Baukosten wieder eingespielt. Zunächst auf eine Daseinsberechtigung von 20 Jahren verlängert, hat es mittlerweile keine Begrenzung mehr. Das ist die gleiche Geschichte wie mit der Seilbahn zwischen der Stadt Koblenz und der Festung Ehrenbreitstein.

Von vielen Teilnehmern unbemerkt geblieben dürfte der silberne St. Georgs-Drache geblieben sein, der an zahlreichen Straßen den Eingang zur zentralen Innenstadt, der City of London, markiert. Dieser hat, so lerne nicht nur ich von unserer Führerin auf der Bustour, massive historische Bedeutung im Verhältnis zwischen König und der Stadtverwaltung. Ersterer darf nämlich nicht so einfach die City of London betreten, sondern wird vom Lord Mayor of London, dem Oberbürgermeister, nicht nur empfangen, sondern auch begleitet, wenn nicht gar bewacht. So ganz unkompliziert scheint es also in der konstitutionellen Monarchie auch nicht zuzugehen.

Der nach der Tower Bridge zweite, diesmal finale Höhepunkt, naht mit schweren Schritten. Die breite Allee des Embankment führt genau auf ein markantes und weltbekanntes Bauwerk zu. Der monumentale, zwischen 1840 und 1870 überwiegend im neugotischen Stil errichtete Gebäudekomplex wird als das House of Parliament bezeichnet. Als Westminster-Palast sind auch deutlich ältere Teile integriert, die bis 1529 als Königssitz genutzt wurden, aber 1834 fast vollständig verbrannten. Wir biegen nach rechts, weg von der Themse, ab und haben fast sogleich den berühmtesten Teil vor der Nase, den Big Ben mit der großen Uhr und dem weltbekannten Glockenschlag. So denken viele von Euch, ich bisher nicht minder. Tatsächlich ist der Big Ben aber nur die mit einem Gewicht von 13,5 t schwerste der fünf Glocken im heute Elizabeth Tower genannten markanten Turm, ähnlich unserem dicken Pitter in Kölle. Der bringt allerdings mit fast 25 t Gesamtgewicht fast das Doppelte auf die Waage. Gleich dahinter kommt die angeblich einzige Statue des Nationalheiligen Winston Churchill ohne Zigarre im Mund, dafür die Hand in der Tasche. Man munkelt, dass er gerade dabei ist, eine herauszuziehen.

 

 

Ich fühle mich optisch an die letzte Meile in New York erinnert, denn ähnlich sieht es in meiner Erinnerung am Südrand des Central Parks auf dem Weg zum Columbus Circle aus, bevor dort in den Park abgebogen wird. Nur dass das hier der Birdcage Walk ist und nicht die 59. Straße. Weiterhin auf der linken Seite erscheint mit dem aus dem Jahre 1703 stammenden, heutigen Buckingham Palace die offizielle Residenz des britischen Monarchen, die der aktuelle König Charles III aber nur zu offiziellen Anlässen nutzt, aber nicht als Wohnsitz. Natürlich ist das ursprüngliche Buckingham House mehrfach zum Palast erweitert worden. Unser Blick fällt dann geradeaus auf das 26 m hohe Victoria Memorial, die 1911 errichtete Figurengruppe zu Ehren von Königin Victoria. Auch dieses wirkt auf mich wie der Columbus Circle in New York, vor dem in den Central Park zu den finalen Metern abgebogen wird. Hier biegen wir in die Mall, die Prachtstraße zwischen deren Eingang, der Marble Arch (hinter dem Ziel), und eben dem Buckingham Palace zur Krönung, also unserer Krönung des Marathonlaufs in London, ein.

Links und rechts ist die Mall aufwendig beflaggt, allerdings ausschließlich in den britischen Farben, und nicht mit den Flaggen der Teilnehmerstaaten wie in New York City.  Dem kann abgeholfen werden, denn das Dream Team aus Waldbreitbach hat die Bundesdienstflagge am Mann, die wir in voller Schönheit und unter großer Aufmerksamkeit über die Ziellinie bringen. Puh, das war wieder mal ein hartes Stück Arbeit, das wir nach knapp viereinhalb Stunden hinter uns gebracht haben. Man dekoriert uns mit einer dem Ereignis angemessen großen, schweren und auch sehr schönen Medaille und veranlasst uns höflich, aber unzweideutig, zügig weiterzugehen. Das muss auch so sein, denn unser Londonpedia Uli Sauer weiß, dass im Zeitfenster zwischen 4:15 und 4:30 Std. durchschnittlich 490 Läufer die Ziellinie passieren, also deren 5.000 innerhalb nur einer Viertelstunde.

Das Ziel erreicht auch der 66jährige Chris Finill, einer der 6 noch verbliebenen "Ever Presents". Er ist alle bisherigen 44 London-Marathons gelaufen, davon die ersten 33 jeweils unter 3 Stunden! 2018 brach er sich nach nur 3 Meilen aufgrund eines Sturzes den Arm, hielt aber tapfer bis zum Ende durch. Das beeindruckt sicherlich nicht nur mich. Dazu hat er, wenn er gesund bleibt, noch etliche Erfolge vor sich. In diesem Jahr ist auch erstmals seine 24jährige Tochter mit auf Reisen, kann aber tempotechnisch nicht mit dem alten Herrn mithalten.

Einen Weltrekord hat's bei den Männern nicht gegeben, sehr wohl aber bei den Frauen (in einem reinen Frauenrennen) in 2:15:50 Std. durch die Äthiopierin Tigst Assefa. Bei den Männern wurde der ugandische Wunderläufer Jacob Kiplimo in 2:03:37 Std. Zweiter in seinem ersten Marathonlauf. Ihm hatten einige Experten nach seinem fulminanten Halbmarathon-Weltrekord in 56:42 min ernsthaft die Unterbietung der Schallmauer von zwei Stunden zugetraut. Unser Amanal Petros verpasste als Achter in 2:06:30 Std. leider den angepeilten deutschen Rekord. Eliud Kipchoge gewinnt als Gesamtsechster die Masterwertung (Ü40) in 2:05:25 Std.

Nach Veranstalterangabe hatten über sagenhafte 840.000 Startwünsche vorgelegen, die natürlich nicht ansatzweise befriedigt werden konnten, ein klassischer Anbietermarkt also mit allen Vorteilen auf Veranstalterseite. Da lag es natürlich nahe zu versuchen, den teilnehmerstärksten Marathonlauf aller Zeiten auf die Beine zu stellen. Konnte man in New York City im November des vergangenen Jahres 55.646 Erfolgreiche verzeichnen, war es um 19:15 Uhr soweit: Der Rekord wurde gebrochen! Zum (örtlich verlegten) Zielschluss um 23:59:59 Uhr waren 56.640 und damit fast tausend mehr als 2024 in New York erfolgreich gewesen. Vermutlich wird man sich sowohl in Berlin als auch im großen Apfel diesbezüglich schon erste Gedanken machen.

Der in jeder Hinsicht erhebliche Aufwand, den man für eine Teilnahme erbringen muss, dürfte auch der Hauptgrund sein, warum hier regelmäßig 95-96% der Gestarteten das Ziel erreichen, so auch dieses mal. Ob Aufwand und Ertrag in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, muss jeder selber für sich entscheiden. Eugen und ich sind uns jedenfalls einig, dass sich die Aktion London-Marathon für uns zu hundert Prozent gelohnt hat.

 

Streckenbeschreibung:

Flacher Punkt-zu-Punkt-Kurs von Greenwich zum Buckingham Palace. Zielzeit bis zur Ziellinie vor dem Buckingham Palace je nach Startzeit zwischen mindestens 8:00 und bis zu 9:55 Std. Danach wird das Ziel als „Notaufnahmeziel“ in den St. James Park verlegt, dadurch verlängert sich die Zielzeit auf mindestens 12:30 und max. 14:25 Std.

Startgebühr:

Darüber schweige ich (sie wird vom Veranstalter vorgeschrieben, die Reiseveranstalter haben keinen Einfluss darauf).

Weitere Veranstaltungen:
Keine.

Leistungen/Auszeichnung:
Medaille, Urkunde, Shirt.

Logistik:
Der einheitliche Kleiderbeutel (und nur der) wird vom Start zum Ziel befördert.

Verpflegung:
Neunmal Verpflegung mit Wasser, viermal mit Iso und zweimal mit Gel. Im Ziel ausschließlich Wasser, Iso und Joghurtgetränk.

Zuschauer:
Der zuschauerbedingt lautest vorstellbare Marathonlauf, stellt New York deutlich in den Schatten.

 


 
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