In den letzten Wochen war ich wirklich aufgeregt. Ein Bergmarathon steht an. Noch dazu ein Ultra, in der Schweiz, in Zermatt. Gelaufen sind wir im Vorfeld zwar viel und haben auch etliche Wettkämpfe absolviert, doch unser Berglauftraining beschränkt sich auf den 15-Meter-Isarhang am Deutschen Museum in München.
Judith und ich genehmigen uns noch einen zusätzlichen Urlaubstag, um die lange Anreise mit dem Auto entspannter zu gestalten. Am Donnerstag geht es von München aus an den Lago Maggiore. Ein bisschen im See baden und am Freitag eine wunderschöne Fahrt über den Simplonpass, der sich vollständig auf Schweizer Gebiet befindet und sehr gut ausgebaut ist. Hier liegt Gondo, die Heimat des bekannten Doppelmarathons. Wir kommen ins Wallis, drittgrößter Kanton der Schweiz und zweisprachig.
Es ist gerade Aprikosenzeit im Rhônetal. Überall gibt es Verkaufsstände, an denen die Früchte angeboten werden. Gleich östlich vom Simplon das laut Fremdenverkehrswerbung tiefste Tal der Welt: Wir beginnen auf 650 Höhenmetern in Visp und fahren Richtung Zermatt. Die Berge sind am Talende bis über 4.600 m hoch. In Visp kommen wir am „Primarschulhaus Sepp Blatter“ vorbei. Der umstrittene ehemalige FIFA-Präsident wurde 1936 in dem Ort geboren und drückte einst hier die Schulbank.
Auf halbem Weg nach Zermatt liegt St. Niklaus, Startpunkt des 15. Gornergrat Zermatt-Marathons und des Ultras. In der örtlichen Schule befindet sich die Ausgabe der Startunterlagen. Der Startbeutel, für die Ultra-Teilnehmer in rot, enthält u.a. ein Multifunktions-Halstuch im eigens kreierten Design. Der Feuerwehrmann am Parkplatz gibt mir den Tipp, das Auto gleich hier stehen zu lassen und mit der Bahn nach Zermatt weiterzufahren. So spare ich mir die Parkgebühr Täsch, von wo aus es mit dem Auto nicht mehr weiter geht.
Die Startnummer gilt von Freitag bis Sonntag als Fahrschein. Alle 30 Minuten fährt ein Zug Richtung Zermatt und so können wir mit vielen anderen Läufern schon mal die erste Streckenhälfte „erfahren“. An einigen Stellen geht es so steil hoch, dass Zahnradtechnik erforderlich ist. 12.000 Touristen kamen in den 1880er Jahren schon nach Zermatt, sodass diese Bahn dringend notwendig war. Die Startnummer enthält zwei Chips: Einmal für die Zeitnahme und eine eingeklebte Chipkarte für die Drehkreuze der Bergbahnen des Hauptsponsors Gornergratbahn. Auch die kann man drei Tage lang kostenlos benutzen. Für Begleitpersonen gibt es den Zwei-Tagespass für 200,- CHF. Da wäre es also finanziell interessanter, auch mitzulaufen.
Zermatt ist ein Schweizer Bilderbuchdorf und hat im Winter Hochkonjunktur. Jetzt im Sommer sind viele Asiaten in der Stadt und die Preise für Hotelzimmer etwas moderater. Wir beziehen Quartier und brechen gleich zu einem Rundgang durch den Ort auf. Auf dem Bahnhofsplatz ist ein Festzelt aufgebaut, in dem die Pasta-Party stattfindet, gesponsert von Lonza, einem weltweit agierenden Zulieferer für Pharma-, Biotech- und Spezialchemie-Märkte. Für 5 CHF gibt es eine große Portion Nudeln und ein alkoholfreies Getränk. Den Gutschein für einen Nachschlag heben wir uns für Samstag auf.
Auf dem Weg zum Bahnhof treffen wir viele Japaner, die das Matterhorn in der aufgehenden Sonne fotografieren. Der „schönste Berg der Welt“ macht mit seiner markanten Silhouette und seiner Höhe von 4478 m wirklich etwas her. Gut, dass wir das in aller Welt bekannte Wahrzeichen der Schweiz auch mal live sehen dürfen und nicht nur in der „Toblerone“-Version. Im Internet findet man viele Berichte von Touren. 3.000 Bergsteiger erklimmen jährlich den Gipfel.
Wir fahren schon um 6:37 Uhr mit dem Zug nach Sankt Niklaus und lernen bei der Gelegenheit Markus und Michael kennen, die auch das erste Mal in Zermatt laufen. Sie kommen aus der Nähe von Wien, sind nach Zürich geflogen und von dort mit der Bahn weitergereist.
Schöner Sonnenschein erwartet uns in St. Niklaus. Alles ist bestens organisiert, vom Vortrag der Alphornbläser bis zur Taschenabgabe. Die Wartezeiten an den Toilettenhäuschen sind kurz. Wer möchte, kann schon etwas zu trinken bekommen.
Ein Blick auf den Streckenplan lässt vermuten: Die ersten 21 km sanft bergauf und danach ins steilere Trailgebiet. Dass dem nicht wirklich so ist, erfahren wir schon kurz nach dem Start. Eine Schleife durch St. Niklaus und schon befinden wir uns auf einem Wanderweg. Anstehen ist angesagt. Belohnt werden wir danach mit einem Trimmpfad. Aber wer hat jetzt schon Lust, an irgendwelchen Stangen zu hangeln?
Kurz danach sind wir auf dem erwarteten Teerband. Die „rollende Tribüne“, ein Zug für Zuschauer, erreicht uns bei km 4, da wird gewinkt und angefeuert. Bei den älteren Waggons kann man die Fenster noch öffnen. Fotografieren in beide Richtungen ist angesagt. M4Y-Chef Klaus muss da auch irgendwo stehen. Ich erkenne nur Winfried Stinn und Franz Sperrer, Organisator des Wolfgangseelaufs und Chef vom Dienst beim österreichischen Laufsport-Magazin. Leider können wir das Tempo des Zugs nicht mitgehen und müssen abreißen lassen.
Die ersten Häuser der Ortschaft Mattsand sind erreicht. Das Ausgleichsbecken hier unten hat nichts mit Beschneiung zu tun, sondern mit einem Wasserkraftwerk 12,5 km weiter talabwärts. Die Schweiz erzeugt 56,5% ihres Stroms aus Wasserkraft, allerdings auch 37,9% durch vier Kernkraftwerke. Aber die stehen viel weiter im Norden und sollen abgeschaltet werden.
Ein freundliches schwarzes Kalb begrüßt uns bei Kilometer fünf. Kurz danach der erste Verpflegungsstand. Die Forststraße Eye wartet auf uns. Ab dem Haltepunkt Herbriggen geht es dann weiter auf einem Wanderweg. Soviel zu meiner Vermutung, dass es sich bis Zermatt um einen Straßenlauf handelt. Zwei imposante Kaltblüter stehen unbeeindruckt am Wegesrand. Nach neun Kilometern taucht auf der rechten Seite ein riesiger Schuttkegel auf. Der Bewuchs mit kleinen Nadelbäumen zeigt, dass der hierfür verantwortliche Bergsturz schon eine Weile zurückliegen muss: Im Frühjahr 1991 fielen in drei Etappen zwischen dem 18. April und dem 9. Mai 33 Mio m³ Gestein auf einen kleinen unbewohnten Weiler. Eine Staubschicht bedeckte das Tal und der aufgestaute Fluss Matter Vispa musste mit Pumpen über das Geröll geleitet werden. Wir laufen über eine „Umgehungsstraße“ am Geröll vorbei.
Oft sehen wir Züge. Eine rote Lok trägt den Namen „Mount Fuji“. Ob das ein Zugeständnis an die vielen Touristen aus Japan ist? Die Bahnübergänge sind immer durch Streckenposten gesichert. Kommt ein Zug, muss man ganz kurz warten.
In Randa hat uns die Zivilisation wieder. Verpflegung vor dem Feuerwehrhaus und dann weiter nach Täsch. Dort geht es an der Kirche richtig zur Sache: Die Guggenmusi „Wäsmali-Chatze“ spielt auf. Und das direkt neben dem Friedhof... Täsch markiert seit 1931 das Ende der Automobilkultur. Wer hier mit dem eigenen Wagen weiter will, braucht eine Sondergenehmigung. Alle anderen fahren ins Parkhaus und dann mit den Pendelzügen nach Zermatt. Einige Lamas und/oder Alpakas recken ihre langen Hälse und schauen uns zu. Hinter der nächsten Kurve wird es wieder steiler und dann taucht ein großer Straßentunnel auf. Vier Kilometer Trail warten danach auf uns. Über eine Holzbrücke queren wir den tiefen Einschnitt der Matter Vispa. Weiter auf der Lawinenverbauung der Eisenbahn durchs Tal.
Vor uns liegt nun Zermatt. Ein Hubschrauber startet am Heliport und donnert über uns hinweg. Am Kopfbahnhof von Zermatt der nächste Verpflegungspunkt. Bei den Powerbar-Kartons fühlt man sich an ein Sportgeschäft erinnert, so viele unterschiedliche Varianten gibt es. Natürlich sind auch Wasser, Iso, Coca Cola. Riegel und Bananen im Angebot. Und diese Auswahl hat man mindestens alle 5 Kilometer. Eine gute Testmöglichkeit für mich, ob ein Gel-Tütchen pro 30 Minuten leistungsfördernd wirkt. Immer wieder werden auch Schwämme in Toblerone-Dreiecksform gereicht.
Bahnhofstrasse, aber was für eine: Die Hauptstraße in Zermatt ist Schauplatz des Staffelwechsels und des fliegenden Halbmarathon-Starts um 10:15 Uhr. Die Läufer sind also schon weg, die Zuschauer noch da. Und die „Zytgloggeschränzer“ aus Wangen an der Aare kommen uns musizierend entgegen.
Auf Bodenplatten sind hier keine Filmstars verewigt, sondern die Matterhorn-Pioniere. Allen voran der Brite Edward Whymper, dem 1865 die Erstbesteigung gelang, sowie seine beiden Zermatter Begleiter Peter Taugwalder senior und junior. Tragisch: Vier weitere Mitglieder dieser Seilschaft stürzten beim Abstieg in den Tod; der Grund dafür konnte nie genau ermittelt werden.
Ein Brunnen im alten Dorfteil von Zermatt ist Ulrich Inderbinen gewidmet, der als ältester Bergführer der Welt noch bis ins 96. Lebensjahr seinen Beruf ausübte und 371mal das Matterhorn, 84mal den Mont Blanc und 81mal die Dufourspitze, den höchsten Berg der Schweiz, erklomm. Er starb 2004 im Alter von 104 Jahren. Erste Frau auf dem Matterhorn war übrigens 1895 die US-amerikanische Bergsteigerin Annie Smith Peck. Die Halterin verschiedener Höhenrekorde war mehrmals als Erstbesteigerin erfolgreich und präsentierte 61jährig auf dem Gipfel des 6425 m hohen Coropunas ein Banner mit der Aufschrift „Frauenwahlrecht“.
So touristisch es hier auch zugeht: Im Ortsteil Hinterdorf sind viele historische Wohn- und Lagergebäude zu sehen, man wähnt sich um einige Jahrhunderte zurückversetzt. Auch die Neubauten sind im sonnengeschwärzten Lärchenholz errichtet. Einige typische Häuser, die teils als Heuschober, teils als Speicher für Lebensmittelvorräte dienten, stehen auf seltsam anmutenden Füßchen mit Platten drauf. Irgendwie sieht das nach Erdbebenschutz aus, rufe ich Judith zu. Ein einheimischer Läufer erklärt, dass die flachen Steinplatten Mäuse am Zugang zu den Speichern hindern sollen.
Das traditionelle Walserhaus war sehr einfach gehalten, mit kleinen Fenstern und einer geringen Raumhöhe von 1,60 m, damit im Winter die Wärme lange im Zimmer blieb. Und die Winter sollen hier recht kalt sein. Für uns hat es heute hier läuferfreundliche 16 Grad. Auf einer kurzen Begegnungsstrecke sehe ich Manfred, der damit schon 1,5 km voraus liegt. „Uff, an den Anstieg hatte ich gar nicht mehr gedacht“, höre ich eine Läuferin stöhnen. Läppische 20 Höhenmeter und wir kommen an der Seilbahn vorbei, die uns über mehrere Etappen bis in das Sommerskigebiet auf 3.900 Metern Höhe bringen würde, Skischaukel ins italienische Breuil-Cervinia inklusive.
Bei Kilometer 24 ist das „Einlaufen“ vorbei. 500 Höhenmeter über dem Startpunkt befinden wir uns nun, und das Ganze war schon etwas anspruchsvoller als erwartet. Fast 2:45 Stunden sind Judith und ich bereits unterwegs. In der Hotelzone schenken zwei Herren „Aperol Spritz“ an die Läufer aus – wobei sie behaupten, es handle sich nur um Früchtetee. Mit einer gewissen Schadenfreude bemerke ich ein Elektrotaxi, das zwischen den Läufern festsitzt. Ansonsten sind die Chauffeure nicht zimperlich und fahren ziemlich knapp an den Leuten vorbei.
Wir haben nun viel Zeit: Ein Weg führt uns stetig nach oben. Judith und ich unterhalten uns mit Karin aus Solothurn, die ihren Startplatz gewonnen hat. Fast niemand hat Lust zu laufen. Für unsere Leistungsklasse ist es etwas zu steil. „Schön, dass Sie hier sind“ steht auf den einladenden Bänken am Wegesrand, und prompt nimmt jemand Platz. Mein Magen knurrt und endlich auf genau 2.000 Metern über dem Meer ist die VP-Stelle Patrullarve. Ich genehmige mir eine kräftigende Bouillon. Irgendwie beneide ich schon die geübten Bergläufer, wir selbst brauchen fast 1:25 Stunden für die sechs Kilometer bis zur Tufterenhütte. Dann folgen zwei schnelle Laufkilometer und bei km 32 erreichen wir Sunnegga (2288 m), wo sich eine kleine Schafherde, Vorbild für das Maskottchen „Wolli“, tummelt. Von der VP-Stelle aus ist das Ziel des heutigen Tages zu erkennen. Sieht gar nicht so weit aus. „Aber ihr müsst um den ganzen Berg rum“, mahnt der „Edelhelfer“ am Iso-Stand und klingt so, als könne er gar nicht glauben, dass das zu schaffen ist.
Attraktion ist die Standseilbahn im Berginneren, mit der man von aus Zermatt aus in wenigen Minuten hier oben ist. Im Wolli-Erlebnispark für die Kleinen wartet der Leisee auf uns. Da das Gewässer nicht tief ist, soll es angenehme Badetemperaturen bieten, zumindest in einem richtigen Sommer.
Ich drehe mich oft um. Das wäre der Punkt für fantastische Fotos mit Läufern, See und Matterhorn. Aber leider nicht heute. Zu viele Wolken umhüllen den Gipfel. Vielleicht hat der Chef bei der Spitzengruppe vor zwei Stunden mehr Glück gehabt. Wir kommen in ein Schottergebiet: Hier muss vor einigen Jahrzehnten noch der Findelgletscher gewesen sein. Seit den 1970er Jahren hat sich der heute 7,3 km lange Gletscher um 500 Meter zurückgezogen.
Am Grünsee endet die Forststraße und ein schöner und abwechslungsreicher Weg beginnt, bevor wir den Bahnhof Riffelbrunnen erreichen. Leider sehen wir die kleine Straßenbahn zum Hotel Riffelalp nicht. Nach Mark Twain ist der beleuchtete Weg zwischen Hotel und Bahnstation benannt. Der weitgereiste amerikanische Schriftsteller hat auch Zermatt mit seiner Anwesenheit beehrt.
Die schon aus Täsch bekannten Wäsmali-Chatze sind anscheinend mit der Bahn hier herauf gekommen und stimmen nun zu unserer Aufmunterung „Que Sera“ an. Der Blick auf ein Gebäude weit über mir verheißt nichts Gutes: Mehr als 300 Höhenmeter sind auf gut 2 Kilometern zu bewältigen. Entlang der Riffelbordgalerie der Gronergratbahn kann man kleine farbige Punkte sehen, die sich nach oben bewegen. Frischer Wind weht uns Sand um die Beine. Ich spüre meine Waden und wünsche mir so sehr Treppenstufen. Auch die vielen Züge mit ungläubigen japanischen Touristen, die uns überholen, heitern mich nicht auf.
„Ouzo gibt’s erst im Ziel“ verkündet der Aufdruck auf dem Hemd einer vorbei marschierenden Läuferin. Wie mag die Spitzengruppe hier hinauf gerast sein? Irgendwie wird der Weg langsam flacher. Das Marathonziel Riffelberg liegt vor uns. Ich höre den Sprecher etwas von 6 Stunden erzählen. Dann erklingt das „Alli gliich“, er Gornergrat Zermatt Marathon Song. Auf 2.595 Höhenmetern trennen sich unsere Wege. Die Marathonis setzen zum Endspurt an und ich mache erst mal Pause. Das Marathonziel ist 7 Stunden offen, das Ultraziel 8 Stunden. Das beschert Läufern, die in der Ebene fünf Stunden für 42 km brauchen, recht wenig Spielraum für den Ultra. Aber zur Not kann man hier auf den Marathon umsteigen. Viele Schweizer Fähnchen markieren den richtigen Weg. Auch kilometerlange Bänder mit Raiffeisenbank-Aufdruck wurden gespannt. Verlaufen kann man sich da wirklich nicht.
Der Wind pfeift, es ist an der Zeit, mein zweites Leibchen anzuziehen und mir einige Getränke zu genehmigen. Die Wettervorhersage hatte 7 Grad im Ziel vorhergesagt. Judiths GPS-Uhr macht schlapp, sie selbst jedoch nicht und bis ich mich wieder aufmache, ist sie auf und davon. Das Kulmhotel auf dem Gornergrat gibt das Ziel vor. 3,6 „lockere“ Kilometer mit 500 Höhenmetern.
War ich an der Riffelbordgalerie doch ziemlich erschöpft, so beginnt es mir jetzt wirklich zu gefallen. Die hohen Berge mit den riesigen Gletschern rücken immer näher. An den steilen Stellen kann ich gut über die Felsstufen hochsteigen. Teilweise kommt man auf den Wegen durch die Wiesen auch wieder einmal im Laufschritt voran. Schneefelder wechseln sich mit Alpenblumen ab. Viele Pfiffe von aufmerksamen Murmeltieren sind zu hören. Japanische Wandergruppen, alle vernetzt mit Kopfhörer im Ohr, sind da weniger begeisterungsfähig. Der Blick Richtung Ziel ist immer wieder beeindruckend. Bunt gekleidete Läufer sind im Hang unterwegs. Trotzdem: Angst braucht man hier nicht zu bekommen. Der Weg ist nirgends ausgesetzt. Interessant, so eine breite zweispurige Eisenbahnstrecke auf einen Gipfel. Ziemlich matschig, aber beeindruckend, durch einen freigefrästen Weg durch den Schnee geht es für uns weiter. Fast bleibt mein Schuh im Matsch hängen.
Noch mal so ein blöder steiler Anstieg. Eine Treppe führt über die Gleise. Ich ziehe mich am Geländer hoch und kann Judith und Michael, mit dem wir einige Kilometer gemeinsam zurückgelegt haben, einholen. Ein neuer Lift befördert die Zuschauer über die drei Stockwerke zum Hotel. Für Judith und mich das erste Mal ein Marathonziel auf 3.100 Höhenmetern. Fantastisch!
Die Medaille, die in jedem Jahr anders gestaltet wird, zeigt diesmal das Weisshorn, mit 4505 m Höhe einer der 29 Viertausender aus der Gegend. Judith wird vom Sprecher als Zweite ihrer Altersklasse begrüßt. Markus aus dem Zug kommt kurz nach uns ins Ziel. Sein Spezl Manfred wartet schon seit 40 Minuten auf ihn. Als Vier-Stunden-Marathonläufer in der Ebene haben wir 7:03 Stunden für die 45,6 km mit +2.458 hm und -444 hm benötigt. An vier Stellen wurde die Zwischenzeit genommen und auf dem letzten Stück haben wir uns ganz gut geschlagen. Ein gewisser Ming aus Singapur läuft hinter uns ein. Wenn der wüsste, dass wir schon in seinem Heimatland den Marathon gelaufen sind. Dummerweise ist sein Fotoakku leer. Dafür merkt er sich die Trailrunning.de Internetadresse.
Im Shopping Center gibt es das „Ultra FINISCHER“-Hemd und Massagemöglichkeit. Einem der Mitstreiter wurde an jeder Verpflegungsstelle versichert, dass es im Ziel Bier gibt. Das finden wir leider nicht. Aber Cola ist auch nicht schlecht. Dafür bekommen wir eine Tüte des Glacier-Express mit einigen Riegeln. Mit der Tüte werde ich zu Hause gut angeben können.
Judith und ich steigen noch zur Aussichtsplattform ganz oben mit Blick auf die vielen großen Gletscher. In der Dufourgruppe liegen der höchste Gipfel der Schweiz und Italiens in den Wolken und auch das Matterhorn verhüllt sich leider weitgehend.
Um unseren roten Ultra-Kleiderbeutel zurück zu erhalten, müssen wir mit der Bahn zum Riffelberg. Hier gäbe es auch noch warme Duschen, aber „nur noch zehn Minuten lang“, wie uns zugerufen wird. Also Beutel abholen und mit der nächsten Bahn nach Zermatt zum Hotel. Ein älterer britischer Läufer erklärt mir noch, wie gut der Brexit sei, weil so viele Ausländer ins Land gekommen wären. Im Zug sitzt uns Fritz aus Adligenswil gegenüber, mit dem wir lange Zeit zusammen unterwegs waren. Wir haben viel Spaß im Zug. Diese Schweizer sind wirklich nette Leute.
Im Festzelt am Bahnhof findet gerade eine Jodelmesse statt, die wir leider verpassen. Wir sind einfach zu langsam. Rechtzeitig kommen wir zur Siegerehrung. Die AK-Sieger erhalten Raclettekäse. Die Ersten können ihn einem alten Schlagertext gemäß zum Bahnhof rollen, die Zweit- und Drittplatzierten müssen ihre Hälfte oder Viertel tragen. Judith wird 2. von 7 Läuferinnen ihrer AK, wobei über die Zeitdifferenz zur Führenden das Mäntelchen des Schweigens gelegt werden sollte.
Ach ja, der 81-jährige Roland Thommen ist mit 7:17 Stunden nur 14 Minuten hinter mir. Geehrt mit einem guten Tropfen und persönlich gestaltetem Flaschenetikett werden auch die 10- und 15-maligen Teilnehmer, Edel-Friends genannt. Von Anfang an jedes Mal dabei war auch Ralf Klink, der wie wir viele Laufberichte schreibt, oft von Marathons in fernen Ländern. Beim Konzert mit fetziger Musik des Italo-Schweizers Roberto Brigante lassen wir den schönen Tag ausklingen, bevor es zur zweiten Halbzeit des Fußballspiels Deutschland-Italien ins Hotel geht.
Der Sonntag beginnt wolkenverhangen. Die Hotelbesitzerin gibt uns den Tipp, dass oberhalb 2.600 Metern die Sonne scheint. Mit vielen anderen Läufern, erkennbar an den Finisher-Hemden, fahren wir noch mal auf den Gornergrat und genießen den fantastischen Rundumblick. Ich erzähle allen Marathonis mit ihren blauen Startnummern, dass sie auf den letzten 3,6 Kilometern wirklich was verpasst haben und das nächste Mal unbedingt den Ultra mitnehmen müssen. Recht spät treten wir die Heimreise an und folgen der Route des Glacier Express über den Furkapass in Richtung Chur.
Schon auf der Rückfahrt sind die Strapazen vergessen und mir wird klar, dass ich hier noch mal mitmachen muss.
Sieger
Marathon Männer 487 Klassierte
1. Wieser, Patrick, Winterthur 3:06.58,4
2. Dupont, Jean-Christophe (FRA) 3:17.58,2
3. Glyva, Evgeni (UKR) 3:20.20,8
Marathon Frauen 161 Klassierte
1. Camboulives, Aline (FRA) 3:35.44,5
2. Inauen, Franziska, Windisch 4:00.30,1
3. Okle, Marianne, Köniz 4:09.08,1
Ultra Männer 478 Klassierte
1. Wyss, Roman, Niederbipp 4:09.05,4
2. Imsand, Matthias, Münster/Wallis 4:21.22,3
3. Heim, Alexander, Buchs 4:22.37,1
Ultra Frauen 132 Klassierte
1. Wings, Susanne, Amsoldingen 4:37.39,0
2. Hegner, Simone, Bern 4:42.34,4
3. Hagspiel, Alexandra (GER) 4:45.59,2