Ich hatte mal vor langer Zeit einen Chef, der musste schon in jungen Jahren die elterliche Firma übernehmen. Ich war fast 15 Jahre älter und wurde hin und wieder auch bei außerbetrieblichen Problemen nach meiner Meinung gefragt. Ich bin ganz ehrlich, manchmal gab ich meinen Senf auch ungefragt zum Besten. So auch, als er mir mal wieder erzählte, dass er am Wochenende nach Köln fahren würde, um was zu erleben. Nein, ich sag’s deutlicher: Um ein Mädel kennenzulernen. Er war nämlich der Meinung, im Umkreis von 300 km gäbe es nichts Passendes für ihn.
„Sie gehen doch alle drei Wochen zum Friseur?“ fragte ich, weil mich seine Einstellung nervte. „Ja, schon, warum?“ Auch das nervte mich. Er fragte immer: Warum? „Ist das ein großer Salon?“ „Warum? - Nein, so vier oder fünf Mädels sind da beschäftigt.“ „Hübsche?“ Er blies die Backen auf, zuckte mit den Schultern und meinte: „Weiß nicht, sooo genau schau ich da nicht hin. Warum?“ „Nur so.“
Von mir sollte das nur ein kleiner Hinweis darauf sein, dass man mit dem Fernglas nicht sieht, was sich vor der eigenen Haustür abspielt. Mein junger Chef hatte verstanden. Es ist wahr, bei meiner Großmutter: Ein paar Wochen später hatte er ein Date mit einer dieser Friseurinnen, bildhübsch, ein „heißer Ofen“ sagte man damals. Ein Jahr später war Hochzeit, bald kam Nachwuchs und bis heute ist die Familie glücklich und zufrieden zusammen.
Wer so erfolgreich anderen auf die Sprünge hilft, übersieht schon mal eigene Defizite. Ich hab ja mal erzählt, dass ich, bevor ich laufen lernte, an Volksmärschen teilgenommen habe und dort auch fast nur auf Marathon- und Ultrastrecken unterwegs war. Natürlich kannte ich den 80 km FINAMA, den Fidelitas Nachtmarsch, wie er damals hieß. Es war aber keine IVV-Veranstaltung und deshalb gab es auch keinen Stempel ins Wertungsheft. Aber ich war „stempelgeil“ und bin deshalb nicht hin. Jetzt, als Läufer geht es mir wie damals meinem jungen Chef. Ich habe meist das Fernglas vor den Augen.
Weil sich in diesem Jahr aber die m4y-Ultras auf anderen Strecken tummeln und ein paar Tage vor dem Start sich noch keiner um den Einsatz in Karlsruhe beworben hat, muss ich halt ran. Aber 80 km will ich nicht laufen. Da trifft es sich gut, dass es seit letztem Jahr auch einen Marathon gibt, der praktisch auf fast halber Strecke in Mutschelbach gestartet wird. Das passt auch zu unserer aktuellen Umfrage, wo es darum geht, ob es im Sommer mehr Abendläufe geben sollte. Als sich last minute dann der Joe doch noch meldet, mache ich keinen Rückzieher mehr. Ich fahre die 33 km nach Karlsruhe und bin beim 33. Fidelitas Nachtlauf dabei.
Veranstaltungszentrum ist das PSK-Gelände in Karlsruhe-Rüppurr und um 17.00 Uhr geht es für die Ultras auf die 80 km lange und ziemlich anspruchsvolle Strecke durch den Nordschwarzwald. Viele Bekannte sind dabei und es ist nicht leicht, zuzusehen. Aber es soll ja auch mal was über den Marathon geschrieben werden.
Um 20.00 Uhr ist der Start des Nachtmarathons in Mutschelbach. Ein Shuttle bringt die Läuferinnen und Läufer um 19.00 Uhr dort hin. Mich nimmt ein Kollege im Smart mit und so kann ich unterwegs an einigen Stellen noch Fotos machen. Um 19.50 steige ich direkt an der Startlinie aus dem praktischen Gefährt.
Das ist halt der Vorteil der etwas kleineren Veranstaltungen: kurze Wege und kein Stress. Am Startplatz beim Rathaus ist trotzdem viel Betrieb. Es ist eine Verpflegungsstelle eingerichtet, die Staffelläufer wechseln hier und soeben laufen auch die ersten Ultras durch. Das Häuflein der 80 Marathonis stellt sich respektvoll der Reihe nach entlang der Häuser auf und applaudiert. Gut, dass genau um 20.00 Uhr gerade keiner kommt, der Marathon kann problemlos gestartet werden.
Problemlos? Es geht gleich aufwärts, zwar nur leicht, aber weil ich versuche dranzubleiben, teste ich auf dem ersten Kilometer schon den Höchstpuls. Trotzdem werde ich durchgereicht. Als ich mich nach 10 Minuten mal umdrehe, sehe ich keinen Menschen mehr. Daniel meint aber, zwei oder drei seien hinter uns. Mir ist’s egal. Über 100 Ultras sind ebenfalls noch hinter uns. Der Gedanke gefällt mir. Ich bin hinten, aber mitten drin.
Auf dem Schwarzwaldradweg geht es durchs Bocksbachtal nach Langensteinbach (km 4). Wer orthopädische Probleme hat, sollte sich den Namen merken. Die Spezialklinik hat einen guten Ruf. Zuvor war Langensteinbach als Fürstenbad berühmt. Ein Blick noch auf die schönen, alten Fachwerkhäuser und weiter geht’s. In Richtung der Langensteinbacher Höhe ist ein elender Anstieg zu bewältigen. Windlichter markieren den Weg. Es ist aber fast noch taghell und der Wald erfüllt vom Gezwitscher der Vögel. Außer ein paar Leuten beim Abendspaziergang sieht man niemand. Die Verrückten mit den Nummern vor dem Bauch sind unter sich.
Mitten im Wald stoßen wir auf einen Grillplatz, leider außer Betrieb. Den idyllischen Seerosenteich muss ich ablichten, den Tornadostein auch. Er erinnert daran, dass 1968 bei einem Tornado 110 Hektar es Ittersbacher Waldes flach gelegt wurden. Extreme Wetter gibt es also nicht erst neuerdings. Apropos, es ist bewölkt und tagsüber hatte es nur so um die 20 Grad. Aber es ist eine Warmfront im Anzug, sodass die Temperaturen auch in der Nach kaum darunter liegen.
Wir kommen aus dem Wald und laufen auf einem geteerten Feldweg durch Wiesen, die dringend auf die Sense warten. Die Äpfel und Birnen an den wenigen Obstbäumen sind noch lange nicht reif und wenn, dann kaum genießbar. Früher machte man Most davon. In jedem Ort gab es eine Kelter. Und heute?
Die Sonne geht unter, schnell wird es dunkel. Ich krame schon mal meine Stirnlampe raus und probiere sie an. Passt und funktioniert. Ist doch gleich was anderes, wenn ich mich so dem Publikum in Ittersbach (km 13) präsentiere. Genau wie Langensteinbach und Mutschelbach ist Ittersbach ein Ortsteil der Gemeinde Karlsbad. Den Nachtlauf lässt man sich nicht entgehen und feiert an der Strecke. Die Leute sind mir sympathisch. Ohne ratlose Blicke oder Rückfragen bekomme ich Antwort, will ich mal wissen, wo ich bin oder ob die Getränke nur für den Eigenbedarf sind. Wir sind halt im Badischen, wenn auch hart an der Grenze.