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Laufberichte

Ultra lang – Ultra hart – Ultra schön

 

 

Abstieg nach Burglauenen

 

Beim gestrigen Briefing wurde Ueli Steck, seines Zeichens Extrem-Bergsteiger-Ikone, mit 2:47 Std. Rekordhalter in der Solo-Durchquerung der Eiger-Nordwand und "Botschafter" der Veranstaltung gefragt, was er zu den Höhepunkten der Laufstrecke zähle. Seine unerwartete Antwort: Die Passage hinab nach Burglauenen. Denn hier könne man erleben, was bei so einem Lauf echtes Leid bedeute.

Und genau hier bin ich nun: Fast 1.200 negative Höhenmeter auf dem Weg hinab ins Tal gilt es zu bewältigen. Das ist pure Beinschinderei. Eine grob geschotterte Fahrstraße schlängelt sich zunächst über die Almen hinab, nicht unbedingt ein angenehmer Bodenbelag zum Belaufen. Froh bin ich, als wir auf einen Pfad abzweigen, der zunächst über Wiesen und sodann in den Wald führt. Im wahrsten Sinne über Stock und Stein geht es steil durch das Dickicht hinab. Armdicker Wurzelwildwuchs auf den Wegen, wildwuchernder Farn am Boden, von dichtem Moos überwucherte Felsen - ich komme mir wie im Dschungel vor. Wunderschön ist dieser Wald, aber auch hart zu belaufen, vor allem über längere Zeit. Meine Stöcke leisten wertvolle Hilfe, Blasen an den Fingern sind die Quittung. Und dann: Schon wieder eine kaum endende Berganpassage über steile Stufen. Sollte es denn nicht einfach nur runtergehen?

Meine Beine werden immer schwerer, die Erschöpfung größer. Und je weiter wir nach unten kommen, desto heißer und dampfiger wird es. Die Oberschenkelmuskeln fühlen sich wie dicke Knödel an. Und der Weg will kein Ende nehmen. Kurz geht es vorbei an einsamen Gehöften, über frisch gemähte Wiesen, auf denen die Bauern bei der Heuernte sind, schon schluckt uns wieder der Wald. Eine erfrischende Abwechslung sind die zahlreichen Viehtränken am Weg. Ein Schwung kaltes Wasser ins Gesicht, über die Arme, über den Kopf. Das tut gut. Aber keine Minute später ist der Effekt verpufft.

Tief unter mir sehe ich schon den Talboden. Aber er will einfach nicht näher rücken. Ja, diese Passage verlangt alles ab. Als wir endlich ein steiles Asphaltsträßlein erreichen, weiß ich, dass es nicht mehr weit sein kann. Minuten später ist es geschafft. Um 16:15 Uhr laufe ich nach 52,5 km am Versorgungsposten von Burglauenen, wie Grindelwald im Talgrund der Schwarzen Lütschine, aber mit 896 m üNN etwas tiefer gelegen, ein. Der tiefste Streckenpunkt ist erreicht. Und ich bin nur eines: platt.

Meine erste Aktion: Ich suche Schatten. Und einen Sitzplatz. Gestern in Grindelwald waren es um diese Zeit 26 Grad Celsius. Heute ist es sicher nicht kühler. Die Verpflegungsstelle in Burglauenen zur Streckenhalbzeit ist die am üppigsten ausgestattete. Auch Cola gibt es. Und frische Pasta mit Tomatensauce. Ich zwinge mir die Kohlenhydrate hinein, auch wenn ich keinen Hunger habe. Aber es muss sein. Denn ein weiteres Abendessen gibt es nicht. Eine halbe Stunde Auszeit gönne ich mir, beobachte Ankömmlinge und Weiterziehende. Und bin ein wenig beruhigt: Die anderen schauen auch nicht besser aus. Erst später entnehme ich der Ergebnisliste: 70 (!) Starter des E101 sind hier ausgestiegen. Der Eiger macht seinem Nimbus alle Ehre.

Man kann über ungesundes, zuckergetränktes Cola lästern wie man will: Beim Laufen wirkt es wie ein Lebenselexier. Jedenfalls auf mich. Denn als ich mich nach besagter halben Stunde colagefüllt wieder den Aufbruch wage, kann ich kam glauben: Ich fühle mich gut, die Beine sind relativ locker und ich bin in der Lage, dem Arzt wahrheitsgemäß zu antworten, als er am Postenausgang lauernd nach der Befindlichkeit fragt.  

 

Über Wengen zum Männlichen

 

Einsam wird es nun. Denn in Burglauenen trennen sich die Wege des E51 und des E101. Ich quere das einzige Mal entlang der Strecke eine größere Straße, die Hauptverbindungsstraße zwischen Grindelwald und dem Rest der Welt. Für jeden Läufer wird der Verkehr extra angehalten.

Dann geht es wieder aufwärts, erst auf Asphalt, dann auf einer Forststraße und schließlich über einen ausgesetzten schmalen Pfad. Durch Wald, Wald und nochmals Wald. Über Kilometer geht es so dahin, aber es geht mir deutlich besser als erwartet bzw. befürchtet. Erst auf  1.600 m Höhe kippt das Profil, ist wieder ein gemütlicher Trab auf bequemen Naturwegen möglich. Über die Wiesen eröffnet sich uns eine neue Fernperspektive: Hinein ins Tal der Weißen Lütschine und die angrenzenden steilen Felswände. Doch das Stimmungsbild ist nun ein ganz anderes. Im Wald habe ich es gar nicht so bemerkt, aber dichte dunkle Wolken sind über den Bergen aufgezogen und verheißen nichts Gutes. Noch strahlt ab und an die Sonne zu uns, aber am Horizont wird es immer trüber. Im Talgrund entdecke ich Lauterbrunnen mit dem bekannten 300 m hohen Staubachwasserfällen, dann auch die ersten Häuser von Wengen etwas unterhalb von uns.

Donnergrollen  tönt durch das Tal. Es kommt vom Männlichen, der sich direkt hinter Wengen erhebt. Dunkle Wolkenwalzen umrahmen den Gipfel. Und da sollen wir nachher hinauf? Das Grollen nimmt zu, der Wind auch. Das feuchte Unheil ahnend beeile ich mich ein wenig. 

Um 18:45 Uhr erreiche ich das touristisch aufgeputzte Dorf Wengen (1.280 m üNN, km 63,3), international vor allem bekannt durch das Lauberhornrennen im Rahmen des Skiweltcups. Unser Laufparcours führt geradewegs die Hauptstraße des langgezogen im steilen Hang klebenden Ortes entlang. Neun Monate ist es erst her, dass ich genau diesen Weg zuletzt genommen habe. Damals feierte der Jungfrau Marathon gleichzeitig 20jähriges Jubiläum und Berglauf-Langdistanz-WM. Damals empfing uns ein Menschenauflauf und pure Emotion, Getröte und Getrommel, wehten  Fahnen und überspannten Flatterbänder die Straße. Heute ist Alltag und, abgesehen von vereinzelten Anfeuerungsrufen, überaus ruhig und beschaulich. Nur das Wetter ist es nicht.

Kaum erreiche ich den Versorgungsposten im Ortszentrum, prasseln auch schon dicke Tropfen  und kurz darauf monsunartige Schauer herab. Oben im Berg kracht es gewaltig. An der Versorgungsstelle wird mir und den andern Ankömmlingen kundgetan, dass das Rennen offiziell bis auf Weiteres unterbrochen sei und wir in der Touristeninfo wärmende Zuflucht nehmen können. Ich sehe es entspannt, wollte ich doch eh Pause machen. Doch auch als das Gewitter und der Regen nachlassen, dürfen wir noch nicht weiterziehen – offizielle Order der Rennleitung. 

Dann eine neue Ansage: Der Männlichen und damit 1.000 Höhenmeter, verteilt auf 6,5 km, sind gestrichen. Wir werden mit der Gondel nach oben transportiert. Der aufgeweichte Weg im Gipfelbereich sei einfach zu gefährlich geworden, außerdem werde ein weiteres Gewitter befürchtet. Unterschiedlich sind die Reaktionen der Läufer: Die einen hadern ein wenig damit, da nun die 101 km nicht mehr erreichbar sind, andere wirken geradezu erleichtert, die meisten nehmen es mit Humor. Die Entscheidung in Frage stellt niemand. Und so füllen kurz darauf über 40 Läufer die Gondel und werden in Windeseile (kostenlos) nach oben chauffiert.

Ein kalter Wind empfängt uns auf dem 2.230 m hoch gelegenen Gipfelplateau. Der Wettersturz hat auch die Temperaturen in den Keller getrieben. Aber die Veranstalter haben auch hier oben spontan und umsichtig reagiert. Kurzfristig wurde die Verpflegungsstation ins Innere des Berghotels verlegt. Im dicht bevölkerten Restaurantbereich komme ich mir fast vor wie in einem Flüchtlingslager. Durchnässte Läufer, die noch zu Fuß auf den Gipfel gekommen sind, wärmen sich am Boden liegend in Decken gehüllt wieder auf. Angenehm ist auch für den Rest der Läufer, sich im geschützten warmen Innenraum umziehen zu können. Und ein üppiges Verpflegungsbuffet gibt es obendrauf. Eigentlich ein guter Platz zum Bleiben. Doch irgendwie drängt es mich weiter. 20 Uhr ist es mittlerweile und ich will noch möglichst viel vom Tag mitnehmen.

 
 

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