Heinz-Peter Römer ist einer von 19 Läufern, die bei der 20. Auflage des Swiss Alpine Marathon zum 20. Mal dabei waren. Er hat dabei immer die Ultra-Strecke absolviert. Zunächst über den Sertig-Pass, jetzt über die Keschhütte.
9 Monate Vorbereitung. Mindestens. Der Startschuß fällt um 8 Uhr. Ein Schrei, ein Klaps auf den Po – das Abenteuer Lebenslauf beginnt. Auch ein Arzt ist anwesend. „Trinken, Trinken, Trinken“ befiehlt er den LäuferInnen. Auch Babies lernen dies zuerst. (Über)lebensnotwendig. Großes Staunen an der Promenade in Davos: Was sind denn das für Erdenbürger? Zum Teil mit Rucksack. 78,5 Kilometer! Und mehrere Passanten fragen: „Wieviele Tage brauchen die denn dafür?“
Ab Km 6 ist das Schaulaufen zu Ende. Der Ernst des Lebens beginnt. Alles spielerisch leicht, die erste Steigung nur eine Fußnote. Schnell ist Km 10 erreicht, man ist noch frisch. Aber der Blick voraus läßt die ersten Hürden erkennen. Es folgt ein ständiges Auf und Ab zwischen Km 10 und 20, Pubertät, die 1. Liebe, Schulabschluß, Berufsentscheidung. In der Steigung nach Monstein muß jeder für sich seinen Rhythm of Life finden. Seinen Weg, seinen Sinn des Lebens. Neben der Bahnlinie vor dem Landwassertunnel sollte jeder dann in der richtigen Spur sein.
Der Höhepunkt dieses 1. Teils folgt: Wiesen mit seinem Viadukt. Der Platzspeaker begrüßt uns und die Zuschauer stehen Spalier und applaudieren.(M)eine Hochzeitsfeier. Km 23 – immer noch relativ frisch, aber schon erste Spuren der vergangenen Zeit. Wie geht es weiter? Keiner weiß es.
Dann schon Km 30 – Filisur – der 1. Abschnitt des Lebens ist Ende. Nun die Gewißheit: die Jugend ist endgültig vorbei, die 3 steht vorne. Im Wettlauf mit der Zeit gilt es in der Steigung nach Bergün kraftsparend und vorausschauend zu laufen – die bizarren Formen des Bergünersteins lenken davon nur kurze Zeit ab. Faszination Erdgeschichte. Wunder der Evolution. Jeder für sich ein Original inmitten des Kosmos.
Mittagszeit. Bergfest. Kilometerpunkt 39. Bergün ist erreicht: eine Umarmung, ein Kuß des Partners . Das Signal: Ich baue auf dich. Nutze deine Stärken. Wer schon so weit gekommen ist, muß weiter kämpfen. Der Adrenalinstoß. Rein rechnerisch ist die Hälfte erreicht, aber aus Erfahrung weiß man, daß eigentlich erst jetzt der Swiss Alpine Marathon richtig beginnt. Bergün – dieses faszinierende Bergdorf im Albulatal. Alpenidylle pur, das Schmuckstück, der Juwel des SAD. Es ist eine Sünde, hier nur kurz zu verweilen. Sogar die Kirchenglocken läuten. Gänsehaut, auf die die Sonne brennt. Hochsommer.
Es folgt das eigentliche Herzstück des SAD: das Val Tuours, von mir einmal „Tal des Todes“ genannt, als es noch hinauf zum Sertig-Paß ging. Seit Jahren heißt der Endpunkt dieser Kletterpartie: Keschhütte. Hinauf ist es wie auf der Karriereleiter. Ab Km 40 scheinbar unüberwindbare Steigungen, die nie ein Ende zu haben scheinen. Die Midlife-Crisis läßt grüßen. Die Prüfung, der Wegweiser in der Mitte des Lebens. Vor dir und hinter dir die Konkurrenten. Schmaler Grat. Um dich herum die einzigartige Vegetation der hochalpinen Landschaft. Die Farben der Bergblumen. Faszinierend. Ganz klar: jetzt heißt es, Farbe zu bekennen. Im Pulk und jeder doch allein gegen den Berg. Kämpfen.
Und schließlich der Lohn aller Anstrengungen: die Keschhütte ist erreicht. 2.532 Meter ü.M. Der Blick auf den Piz Kesch und die Gletscherwelt herum. Atemberaubend. Jubel, Stolz, Schwerelosigkeit. Ich bin Neil Armstrong. Der Höhepunkt ist erreicht. Für jeden müßte ein Chefsessel an der Keschhütte warten. Der Karrierehöhepunkt um die 50. Nie wieder werden wir dem Himmel näher sein. The sky is the limit. Top of the world. Aber unaufhaltsam muß (?) man weiter.
Km 52 bis Km 60 – in dieser Höhe, auf diesem Niveau halten wir uns. Aber auch jetzt noch Unwägbarkeiten, eventuell ein nachmittäglicher Hagelschauer, der dazu führen kann, daß man am Scaletta-Paß ins Gras, pardon, in den Schnee beißen muß. Wer (Familien)Glück hat, weiß jetzt sogar seine erwachsenen Kinder neben sich, wie bei Organisator Andrea Tuffli.
Aufgeben? Niemals. Aber der Gesundheitscheck bei „Betriebsarzt“ Dr. Beat Villiger auf dem Scaletta-Paß ist Pflicht. Die Frage:“Wie geht es?“ nach 60,8 km Berglauf, nach über 60 Lebensjahren kann nur äußerst selten mit einem ehrlichen, deutlichen GUT beantwortet werden. Zu markant sind die Spuren im Gesicht, am Körper und in der Seele eingebrannt. Du hast deine Identität. Aber Vorsicht: Bei einem: “Ja. Mir geht es gut!“ reichen schon die ersten Blicke hinab ins Dischmatal, aufkommende Euphorie einzudämmen.
Der Abstieg beginnt. Muskeln schmerzen, die Füße suchen oft verzweifelt Halt auf rutschigen Steinen und Schneefeldern. Aber mit 65 ist es geschafft: der Ruhestand, der Lebensabend ist da. Für uns LäuferInnen heißt dies nun in Dürrboden: nur noch 14 Km bis ins Ziel, meine allabendliche Trainingsdistanz. Jetzt sollte jeder wieder lernen, in relativ flachem Gelände das Laufen zu genießen. Es beginnt sozusagen nach den Höhen und Tiefen eines ganzen Tages der Endspurt des Lebens. Oder die Tour de Honeur, wie bei der Tour de France die letzte Etappe auf dem Champs Elysees genannt wird.
Alle finden sich nun wieder zusammen, Familientreffen. Warum fällt mir gerade jetzt eine Lebensweisheit aus dem Berufsleben ein: Vergiß nie auf dem Weg nach oben, daß du alle wieder siehst auf dem Weg nach unten.
Und dann ist es geschafft. Aus. Vorbei. Das Erlebnis des Zieleinlaufs in Davos ist wie ein kleiner Tod; im Gesicht in wenigen Stunden um Jahre gealtert, ausgebrannt.
78,5 Km immer Ende Juli – (m)ein Leben im Zeitraffer. In der heutigen schnellebigen Internetwelt ganz normal. Oder doch nicht? Das muß jeder für sich selbst herausfinden. Was im Winter für die internationale Businesswelt das Weltwirtschaftsforum Davos ist, ist für uns LäuferInnen der Swiss Alpine Marathon Davos. Ein singuläres Ereignis mit so vielen Dingen, die mein Leben immer bereichert haben. Und einmal möchte ich im Ziel sagen: „ Für mich sind alle Kapitel des Buches „Mein Lebenslauf“ geschrieben.“
P.S.: Laut Statistik beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in Mitteleuropa 78,5 Jahre. So viele Jahre wie der SAD Kilometer hat. Heute bin ich halb so alt, pardon, jung. Ich möchte einmal 78,5 Jahre werden.