Zu Jahresbeginn hing plötzlich ein Höhenprofil an unserem Kühlschrank. Breit, hügelig, mit etlichen Querstrichen versehen, Höhenangaben, Zeitvorgaben usw.
Nachdem ich mich mit der entsprechenden Sehhilfe versehen hatte, konnte ich erkennen, dass mein Mann den Ultra-Marathon K78 im Laufprofil in Augenhöhe positioniert hatte: Davos, 78 km 2600 m hoch und runter, 29.07.2006!
Erst einmal ignorierte ich diesen Zettel ein paar Tage lang, bis ich dann vorsichtig anfragte, ob er denn vorhabe, diesen K78 auch irgendwann einmal anzugehen.
Nicht irgendwann einmal, so war die Antwort, sondern am 29.07.2006. Wir hatten unverzüglich einen nicht zu unterschätzenden Ehestreit darüber, dass er jetzt wohl seine Läufe allein plane; wurde bis zum heutigen Datum doch alles gemeinsam gelaufen. Ein müdes Grinsen seinerseits, ich könnte doch einfach mitlaufen!
Nachdem ich aber den ersten 56iger im April mit ihm zusammen geplant hatte, wollte ich nicht noch im Juli eins draufsetzen. Somit ignorierte ich weitere Monate diesen mittlerweile vergilbten Zettel am Kühlschrank.
Immerhin doch, wenn ich am frühen Morgen meinen obligatorischen Prinzenrollen-Keks aus dem Kühlschrank holte, stach mir dieser 78iger in die Augen. Miese Taktik!
Ignorieren war weitere Monate angesagt. Nachdem der 56iger gut gelaufen war, trainierte ich fleißig weiter, wie Trainings-km 40, 45, 50 km am Sonntagmorgen.
Dann begann die Familie Wetten abzuschließen. Läuft sie den K42 oder den 78iger. Alles stand gegen mich und ich hatte mir selbst versprochen, dass ich den K42 diesmal einfach nur „sauber“ absolvieren wollte. Immerhin hatte dieser 42iger Lauf genug Höhen-Anforderungen, als dass das nicht ausreichen könnte.
Wir kamen in Davos an, wie immer eine super schöne Stimmung in der Kongresshalle, die Läufer, wie immer, sich schal beäugend. Und kurz vor der Anmeldung schaute mich meine jüngste Tochter an und sagte: „Mami lauf den 78iger für mich!“
Mein Herz klopfte und ich schritt unter Gelächter der Familie, fast mit Tränen in den Augen zur Ummeldung. Die zuständige Dame dachte, dass sie sich verhört habe. Normalerweise melden sich die Läufer vom K78 zum K42 oder vom K42 zum C42 (etwas sanfter). „Aufsteigen, wirklich??!!“ Ja...aber meine Stimme zitterte.
Ich schlief schlecht in dieser Nacht, träumte, dass ich den Start versäumt hätte, oder dass ich aus Versehen verkehrt herum die Laufstrecke gegangen sei und dass ich durch Häuser steigen musste, in denen Schauspieler waren, die etwas vorführten, was ich nicht verstehen konnte...
8 Uhr Start, DAVOS Stadion. Man muss es mit PERFEKT umschreiben. Das Wetter etwas bewölkt, kühl im Vergleich zu den letzten Tagen der tropischen Sommerhitze, super Stimmung, animierende Musik und eine Spannung , wie vor Weihnachten.
Mein Mann Thomas neben mir auf dem Startfeld vermittelte eine Gelassenheit wie vor dem Staatsexamen. Er hustet wie ein Berserker und nachdem sich einige Läufer verstört umgedreht hatten, meinte er, dass es ihnen doch sicherlich nichts ausmache, dass er gerade aus der Lungenklinik abgehauen sei! Keiner lachte, nur er. Aber so ist er. Er lacht immer, auf seine Art, wenn er Fracksausen hat!
Startschuss Punkt 8. Erster Gedanke, wenn ich doch nur schon wieder da wäre. Leichter Regen setzte ein und die Runde durch den Ort war wie immer beeindruckend und animierend. Applaus und Zurufe, wie: „Nicht mehr weit“, oder „wir sind stolz auf euch“, oder „das schafft ihr locker“. All dies sind weiche Pflastersteine, die man unter den Füßen braucht. Und dann das große weiße Hotel, mit den Gästen, die teilweise in farblich weiß angepassten kuscheligen Bademänteln auf dem Balkon stehen und ungläubig schauen. Möchte man hier tauschen? Nein, niemals!! Never ever!
Beim Bäcker vorbei... wie jedes Jahr, der Duft der Backstube...
Raus aus der Stadt und jetzt wird es ernst. Die Gruppe hat sich schon gut verteilt, man sagt es nicht gerne, die meisten sind aber vor mir. Ja, ich weiß, aber es ist hier kein Volksläufchen in Tralala, sondern ein 78iger in Davos und 2 Pässe. Also dürfte es keine Schande sein, wenn ich mit Thomas hinten laufe.
Und wir laufen zusammen, den ersten Wettkampflauf. Seite an Seite. Thomas läuft diszipliniert mein Tempo, bremst mich ab und verpflichtet mich zu essen und zu trinken.
Ich muss es vorweg nehmen: Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft. Er hat mich mental und (entre nous) auch ein Stück den Berg hoch gezogen. Er hat mich ermuntert und hat Blödsinn geredet, wenn ich nicht mehr wollte. Er hat nicht gejammert, wenn er nicht mehr konnte oder wenn ich ihm auf den Geist ging.
Thank YOU TOM... I LOVE YOU
Die ersten 30 km gingen gut, wir liefen in einer Gruppe, die es sogar noch schaffte, zwei 4-blättrige Kleeblätter am Rande zu entdecken und Beeren zu pflücken. Ja, auch das weiß ich, es spricht nicht gerade für unsere Geschwindigkeit!
Filisur erreichten wir ganz wacker. Am Rande standen die 28iger Läufer, die auf ihren Startschuss warteten. Keiner lachte. Wahrscheinlich haben sie das gleiche gedacht, was ich vor 3 Jahren bei meinem ersten 30iger dachte: Wie kann man nur.... 78 km...
Als ich damals die 30 geschafft hatte, kam ich heulend ins Ziel und wollte nie mehr laufen, so fertig war ich! So sieht also „nie mehr“ heute aus, dachte ich!
Und dann ging es los. Raus aus Filisur, etwas runter und dann ab an den ersten Berg, über 30 km schon in den Knochen und in Erwartung der nächsten 15 km Aufstieg. Ich fiel drastisch und dramatisch ab und Thomas motivierte mich vorbildlich!
Kurz vor Bergün verabschiedete ich mich das erste Mal. Ich wollte nicht mehr, zu viel, zu müde. Da geplant war, dass unsere Töchter mit dem Bähnli bei gutem Wetter nach Bergün fahren sollten, um uns zu treffen, wollte ich aussteigen. Thomas lief vor und ich versprach, ihn am Ziel zu empfangen... Kuss und Tschüss.
Aber die jungen Damen hatten es offensichtlich vorgezogen, am Hotelpool den Tag zu verbringen, etwas „auszuspannen“ und den Dingen ihren Lauf zu lassen - oder besser gesagt, den alten Herrschaften ihr Vergnügen in den Bergen.
So war keiner meiner Abkömmlinge zu sehen, der Zug ins Tal gerade abgefahren und ich beschloss, doch hinterher zu wackeln. Leider (Gott sei Dank) hatte mich der Sprecher entdeckt, meine Nummer mit dem Namen in Verbindung gesetzt und lauthals durchs Mikro verkündet: "Und hier kommt Heike Lamadé aus Deutschland, auch eine 78igerin...los super, klasse.“ Und dann das Klatschen, ich hätte mich am liebsten geduckt, war es doch möglich, dass Thoams dies noch hörte und wartete. Und tatsächlich, kaum war ich um die nächste Ecke, da stand er auch schon am Berg, grinsend, belustigt!
„Ha ja, es war halt keiner da“.
Km 42 - Weiter bergan, berauf und nochmals bergauf...und immer weiter bergauf. Kaum noch Läufer da, keine Witze mehr. Meine Herren, warum habe ich nicht aufgehört?! Aber auch beim nächsten Dorf war der Bus gerade weg und ich musste weiter, und das Spiel hat sich bis zur Keschhütte weiter fortgesetzt...es gab keinen Weg zurück.
Im Nebel kurz vor der Keschhütte, 2632 Höhenmeter, erklärte mir Thomas immer wieder, dass da oben die Hütte schon zu sehen sei, so fast, bis sich ca. 5 mal die vermeintliche Hütte als ein Stein im Nebel herausstellte.
Der Eistee an den Stationen wurde mittlerweile heiß serviert, der Nebel war dicht und meine Kräfte am Ende.
Km 52, Km 60 - Scalettapass, 2606m. Der erste Kontakt mit dem Besenmann (er ist der (das) LETZTE). „Nein“ schrie Thomas, „mich siehst Du nicht mehr“, als er sich seine Nummer merken wollte.
600 Höhenmeter über 5 km abwärts nach Dürrboden. Sack und Asche, das ging runter, über Steine, Wurzeln, alles ausgetreten, rutschig, matschig durch die Läufer vor uns, den ein oder anderen!
Aber wir kamen durch und nach Dürrboden - die letzten 14 km konnten wir wieder ein anständiges Tempo angehen, kleine Strecken Bergauf gehen, sonst zügig laufen.
Noch 10 km, nochmals Bouillon trinken, trockenes Brot dazu, wie köstlich, kann man es auch kaum noch schlucken!!!
Noch 8, noch 6...Himmel mein Navigationsgerät am Handgelenk zeigt noch 2 km mehr...wer hat recht... Sch... Technik. Hatte das Gerät auch nur dabei, um nicht zu schnell anzulaufen. Aber mein menschliches Navigationsgerät, genannt TL, tröstet mich... wir sind bald da!!
Am Hotel vorbei, die Kinder aufgegabelt und ins Stadion geschlichen. Mit Kindern und einem richtigen Kämpfer, 78 Jahre alt, 21 mal dabei...ich neige meinen Kopf. Alle Achtung!
„Kinder holt Bier, bevor das ALLES schließt“!... Kinder rasen nach vorne, sind ja ausgeruht! Hinter der Ziellinie stehen sie, mit zwei frischen alkoholfreien Erdinger...das Paradies...
Auch die Letzten (fast die Letzten) werden bei diesem Lauf begrüßt wie Gewinner. Ich fühlte mich so, an meiner Seite meinen Mann. Über 12 Stunden hat er mich ertragen, wenn ich ihn bat, mir doch seine Hand zu geben, mit der Versicherung, mich nicht ziehen zu lassen (bewusst gelogen...)...
DAVOS----- DA-Vos schön ist....
Ich laufe noch einmal!!
Danke Thomas! Danke DAVOS!