Mit stahlhartem Blick werde ich fixiert, ein unausgesprochener Vorwurf liegt in der lauen Morgenluft. Was will der Italiener von mir, der sich anschickt, in Pisa den Zugläufer für fünf Stunden zu geben? Aber halt, ist das überhaupt ein Italiener? Nein, das Gesicht kenne ich, es ist ein Germane und sofort schlägt mein schlechtes Gewissen. „Hi Gerno“, begrüße ich den Chef des Bilstein-Marathons, „ich weiß, ich war noch nie bei Dir.“ Und gelobe umgehende und kurzfristige Besserung.
Natürlich war sein Blick weder wirklich vorwurfsvoll noch stahlhart, tatsächlich aber habe ich seinen Lauf schon seit vielen Jahren auf dem Schirm, ohne den entscheidenden Schritt zu tun. Anfang des Jahres kommt mein Lauftreffler Eugen: „Begleitest Du mich nach London?“ Der Marathon steht bei mir auch noch aus, natürlich taggleich ausgetragen mit dem BiMa. Weitere Gewissensbisse bleiben mir jedoch erspart, denn London ist schon lange ausgebucht und wird daher für 2024 ins Programm genommen. Also ist der Weg frei ins hessisch-niedersächsisch-thüringische Grenzgebiet. Da Eugen jetzt logischerweise nichts anderes vorhat, begleitet er mich zu seinem ersten Marathonlauf mit ordentlich Höhenmetern.
Exakt drei Stunden Anfahrt liegen hinter uns, als wir eine Stunde vor dem Start um 9 Uhr am Ort des Geschehens in Nordhessen eintreffen. Und der weckt zarte Erinnerungen. Weniger Kleinalmerode, ein Nest von knapp 800 Einwohnern nahe Witzenhausen, sondern einige nahe gelegene Ortschaften, deren Namen als Panzerstandorte mir aus meiner Soldatenzeit geläufig sind: Hessisch Lichtenau z.B. oder auch Sontra, wo ich im Zweifelsfall das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen gehabt hätte.
Ich schweife ab. Was wird heute angeboten? 550 Plätze waren zu vergeben (und tatsächlich auch ausverkauft) über 21,1 km mit 535 HM (Laufen und Wandern), 42,2 km mit 1.100 HM (Laufen und Wandern) sowie einem Ultra über 57 km mit 1.500 HM. Letzterem fühle ich mich derzeit nicht richtig gewachsen, daher wird sich heute mit der Marathondistanz begnügt. Die Startnummern gibt’s gegenüber dem Dorfgemeinschaftshaus, vor dem sich auch Start und Ziel befinden, in zwei ehemaligen Geschäften, die aussehen wie aus einer anderen Zeit. 12 km sind’s bis zur ehemaligen Zonengrenze, und hier sieht’s aus, wie man es auf deren anderen Seite früher gewohnt war. Früher. „Du siehst“, sagt Gerno nicht ohne etwas Bitterkeit in der Miene, „wo die Mittel hingeflossen sind.“ Ganz wichtige Dinge werden noch erledigt – ja, die auch! -, aber ich rede jetzt vom Kuchen. Über hundert selbstgebackene sollen es werden, die später in den gierigen Schlündern verschwinden werden. Ein alter Harung hat Erfahrung, also lassen wir direkt einige Stücke für uns zurücklegen.
Draußen erfolgt das Briefing, unterstützt von der Witzenhausener Kirschkönigin samt „Thronfolgerinnen“ und einer Lektorin der evangelischen Kirche, die uns mit dem himmlischen Beistand versorgt. Derart gepampert stürzen wir uns Punkt zehn Uhr ins Abenteuer. Also, stürzen tun alle außer mir, denn als der erste km für mich nach fünfeinhalb Minuten vorbei ist, bin ich Letzter. Ok, es ging zwar bergab, aber trotzdem. Entweder ist das hier eine ziemlich komplett andere Liga als sonst, oder ich werde nicht wenige von denen wieder einsammeln. Um es vorwegzunehmen: Andere Liga, gepaart mit beklagenswerter persönlicher Tagesform.
Nur kurz haben wir benötigt, um das Dorf in Richtung Natur zu verlassen. Die beglückt uns mit schönster Frühlingssonne, welche über Feld, Wald und Flur lacht. „Hinweg“ steht auf dem Asphaltweg, ein klarer Hinweis, dass wir hier wohl auch wieder zurückkehren werden.
Über einen ersten Trail tauchen wir in den Wald ein und kommen auf befahrbaren Waldwegen im munteren Auf und Ab gut voran. Nach etwa acht km entlässt uns der Rodeberg, der, sein Name verrät es, mal baumlos gewesen sein wird, auf den „Rückweg“. Denn so steht es gesprüht. Weit voraus ist Kleinalmerode wieder auszumachen und kurz vor km 9 ist der erste von heute sieben Verpflegungspunkten erreicht. Wehe dem, der die Ausschreibung nicht gelesen und keinen Becher dabei hat, denn der geht leer aus. Es gibt (natürlich zum Selbsteinschenken) Wasser, Iso, Herzhaftes und Süßes. Im Buchholz empfängt uns als Schmankerl eine geländergesicherte, kurze Treppenpassage um den gleichnamigen Felsen herum. Nach einer weiteren kleinen Runde kommen wir erneut, vorbei an Friedhof und evangelischer Kirche, durch Kleinalmerode.
Schön ist das Kaufunger Land, dem die ostwärts Kassels gelegene Gemeinde ihren Namen gab. Besonders schön ist es, immer wieder an ganzen Reihen von Kirschbäumen vorbeizukommen, die punktgenau in voller Blüte stehen. Diese geben gegen den stahlblauen Himmel ein phantastisches Bild ab. Und wenn die in ein paar Tag verblühen, weiß man, woher der Begriff „Frau Holle-Land“ wohl stammten wird. Herrliche Wiesenwege bringen mich an einen Grenzstein, auf dem ich die Buchstaben KH entdecke. Die stehen, wenig überraschend, für das ehemalige Königreich Hannover.
Kurz hinter dem zweiten VP haben Gerno & Co. ein unübersehbares Erklärschild plaziert, falls man den Stein übersehen oder sich darauf keinen Reim hat machen können. Wir befinden uns also ab sofort in Niedersachsen. Über eine Waldautobahn erreichen wir den dritten VP, längst sind 15 km im Sack. Es gibt sogar Bier! Noch widerstehe ich... Welche Vergangenheit das wie ein Erdbunker aussehende Bauwerk haben mag, entzieht sich meiner Kenntnis. Die vielen Batman-Zeichen geben dessen ungeachtet einen klaren Hinweis auf die aktuellen Nutzer.
Linkerhand steht traurig ein scheinbar abgestorbener Birkenwald, dann stoße ich auf die ersten Wanderer, denen sich im weiteren Verlauf noch viele anschließen werden. 550 Startplätze hat es insgesamt gegeben, und die standen über 21,1 und 42,2 km auch Wanderern in jeweils eigenen Wertungen offen. So kann heute also jeder ganz nach seinem Leistungsvermögen glücklich werden. Und sogar seinen Hund mitnehmen, wie das Rudel vor mir beweist.
20 km sind geschafft und auch Niedersachsen, denn Hessen hat uns wieder. Ein Hinweisschild verweist auf den von hier 3,5 km entfernten Bilstein, der doch eigentlich erst bei km 30 kommen soll. Wird der auch, man führt uns vorher jedoch noch kreuz und quer durch die Botanik. Das ist mein Stichwort, denn von der ist plötzlich kaum noch etwas zu sehen. Dafür sehe ich einen Wald aus riesigen Windrädern, denen wir ganz nahe kommen. So darf ich sowohl deren Schattenwurf als auch Geräusch genießen. Es sieht schon gespenstisch aus. Hat man hierfür den Wald hektarweise abgeholzt oder, wie bei uns, großflächig Totholz entfernt? Breite Schotterstraßen sind in den Forst gezogen und Schotterwüsten um die Windräder angelegt worden. Sinn und Unsinn so mancher Maßnahme zur Energiegewinnung gehen mir durch den Kopf und beschäftigen mich auf dem weiteren Weg.
Auf breitem Waldweg treffen wir bald sowohl auf den vierten VP als auch die Streckenteilung zwischen Ultra(Marathon) und dem eine halbe Stunde nach uns gestarteten Halbmarathon. Damit entgeht den Halblingen ein durchaus markanter Wegpunkt, den ich nach einem feinen Trail erreiche, nämlich die Rote Niestequelle, für deren Rotfärbung natürlich das eisenhaltige Gestein zuständig ist. Rote und weiße Nieste werden sich später zur Nieste zusammenfinden und später zwanglos der Fulda anschließen. Auch einem nahegelegenen Ort geben sie seinen Namen. Nahe zur Quelle erblicke ich den Steinbergsee, einem Relikt des hier früher betriebenen Bergbaus (eisenhaltige Niestequelle!).
Über einen schönen Trampelpfad, vorbei an einigen dieser eben genannten baulichen Relikten – u.a. das ehem. wohl Pumpenhaus mit Jahreszahl 1921 – erreiche ich erneut einen festen Waldweg. 25 km sind vorüber, es folgen etliche Kahlschlagflächen, aber immer wieder werde ich auf nette, kleine Trails geführt.
Der 30. km ist auf einem Schotterweg zu belaufen, der wohl zum heutigen im wahrsten Sinne des Wortes Höhepunkt und Namensgeber unseres Laufs führt: Dem Bilsteinturm. An seinem Fuße steht eine bewirtschaftete Hütte mit Aussichtsterrasse, wo wir offensichtlich außerhalb der regulären VPs mit warmem Tee versorgt werden. Die wenigen Läufer und Wanderer um mich herum streben direkt wieder talwärts, für mich ist es Ehrensache, den Turm auch tapfer zu besteigen. 90 Stufen sind es nach oben und überraschenderweise auch wieder nach unten. 1890/91 anstelle eines hölzernen Vorgängers als massiver Steinbau errichtet, packte man 1960 einen sieben m hohen Stahlaufbau darauf, sodass seine Gesamthöhe heute 20,65 m misst. Von hier oben betrachtet sind die zahlreichen Windräder noch hübscher. Gut, dass der Bilstein 1911 unter Naturschutz gestellt wurde. Schwer zugig ist es oben und nassgeschwitzt, wie ich bin, mache ich mich bald wieder vom Acker.
Ab dem nächsten VP an km 30 führt ein breiter Schotterweg kilometerweit sanft abwärts. Soll das bis ins Ziel so bleiben? Wenn ich Gerno wäre, hätte ich mir noch etwas einfallen lassen. Unsere läuferische Seelenverwandtschaft zeigt sich nach km 35, als ein weiterer feiner Trail rechtwinklig ins Gelände führt. Eugen wird der Abzweig zum Verhängnis, als er im Abwärtsflow weiter geradeaus schwebt und sich leider verläuft.
Beim vorletzten VP ist es dann geschehen, ein Bierchen muss jetzt sein. „Willst Du auch einen Mohrenkopf haben?“, werde ich gefragt. Ich liebe das Landleben, wo man noch Deutsch spricht! Ein bunter Mix aus Asphaltsträßchen, Wiesenwegen und Trampelpfaden durch feine Wälder und herrlich blühende Wiesen, vorbei an malerischen Kirschbäumen in voller Blüte läutet das Finale ein. Ja, der Gerno issen fiesen Möpp, denn man könnte den Lauf ja so austrudeln lassen. Aber nix da: Selbst nach 40 km beschert er mir noch zu diesem Zeitpunkt als knackig empfundene Steigungen.
Den letzten VP einen guten km vor dem Ziel auslassend, bin ich dann bald am Ortsrand von Kleinalmerode, genieße das noch dichte Zuschauerspalier, biege scharf rechts ab und erreiche nach fünfeinhalb Stunden (oh je...) das Zielzelt. Nein, keine Enttäuschung, wir wurden bereits vor dem Start gewarnt, dass die Medaillen leider nicht rechtzeitig eingetroffen sind und deshalb nachgesandt werden. Als Trost hätte ich mir eine der von den vergangenen zehn Ausgaben übriggebliebenen - hübsch ist jede einzelne von ihnen - mitnehmen können, aber da war ich ja nicht dabei.
Die gute Zielverpflegung sorgt rasch für die Wiederbelebung und ebenfalls der nette Feuerwehrkamerad mit seinem Kleinbusshuttle für den Transport zum und vom Sportplatz, wo eine warme Dusche endgültig für meine Wiederbelebung sorgt. Mit Heike fachsimpele ich noch ausgiebig, als endlich Eugen nach einer gelaufenen Odyssee eintrifft. Nach weit mehr als der Marathondistanz hatte er zum vorletzten VP zurückgefunden, sich aus Zeitgründen dann aber zum Ziel bringen lassen. Schade für ihn, dass sein erster Nicht-Stadtmarathon so als DNF endet.
Also, lieber Gerno, Dein „stahlharter“ Blick in Pisa ist nicht folgenlos geblieben. Du hast uns mit einer geballten Kraftanstrengung wohl aller Ortsvereine inkl. der zahlreichen Petrijünger eine ganz feine Veranstaltung zelebriert, wie ich sie liebe. Unübersehbar von Läufern für Läufer gemacht, durfte ich auf jedem Meter das investierte Herzblut der vielen Freiwilligen spüren. Hoffentlich wird Eure eigene Begeisterung noch lange anhalten und vielen weiteren Teilnehmern einen so traumhaften Sonntag bescheren.
Streckenbeschreibung:
Runde mit Wegemix aus Asphalt, Feld- und Waldwegen mit offiziellen 1.100 Höhenmetern.
Startgebühr:
Je nach Anmeldezeitpunkt 35 bis 40 € für den Marathon.
Weitere Veranstaltungen:
Ultra (57 km), Halbmarathon und 12,5 km.
Leistungen/Auszeichnung:
Medaille, Urkunde.
Logistik:
Alles perfekt im und am Dorfgemeinschaftshaus.
Verpflegung:
7 VP mit u.a. Wasser, Iso, Cola, Bier, Riegeln, Bananen.
Zuschauer:
Fans an Start und Ziel.
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