Wer zum Bilstein Marathon anreist, r kommt üblicherweise über Kassel. Meine Reise beginnt in Kassel-Wilhelmshöhe. Dort befindet sich ein Weltkulturerbe, der Bergpark. Einst nannte man ihn Carlsberg, nach seinem Erbauer Landgraf Carl von Hessen-Kassel. Der ließ den bronzenen Herkules 1701 anfertigen und legte symbolisch zwei Kugeln in seine rechte Hand. Es heißt offiziell, es seien die Äpfel der Hesperiden, ein Macht- und Fruchtbarkeitssymbol aus der griechischen Mythologie. Doch die Äpfel der Hesperiden sind mindestens drei, maximal sieben Kugel. Warum hält Herkules die Kugeln hinter seinem Rücken, mit der Handfläche nach oben, sodass niemand den Inhalt seiner Hand sehen kann?
Seit 1660 zog Ludwig XIV (der Sonnenkönig) plündernd durch die Deutschen Länder: „Der grausamste Mordbrenner, der jemals gelebt hat“, schreibt Chronist Johann Friedrich Seidenbrenner. Mit der Beute finanzierte der Franzose sein Schloss in Versailles. Als Ludwig Krieg um die Erbfolge in Spanien führte, ließ Landgraf Carl den Herkules bauen. Und in seine Hand legte er - die Eier von Ludwig XIV, eingebettet in Lilienblätter, das Zeichen der Bourbonen. Damit machte er deutlich, dass Hessen wieder mächtig ist und Ludwig keinen Erben für Spanien finden wird.
Steht man unterhalb des Herkules, überblickt man die schnurgerade Wilhelmsallee, die kilometerweit, direkt auf den Bilstein führt. Was macht den Bilstein so wichtig?
Als Napoleon 100 Jahre nach Ludwig XIV wieder die deutschen Länder besetzte, setzte er seinen Bruder Jerome als König von Hannover, Hessen-Kassel und Teilen von Preußen ein. Als Residenz bestimmte er das Versailles nachempfundene Schloss Wilhelmshöhe am Fuße des Bergparks, der nun Napoleonshöhe genannt wurde. Ein französischer König inmitten von Deutschland, an der Grenze zu Preußen, das war eine krasse Demütigung.
Jerome konnte nur einen Satz auf Deutsch: „Morgen wieder lustig“ und pausenlos babbelte er „lustik, lustik demain encore lustik“. Damit meinte er, dass seine Hesperiden bei der weiblichen Bevölkerung von Kassel gut ankommen. Im Hessischen nennt man solche Männer immer noch „Schrohm“ (Jerome). Was aber der Herkules in der Hand hält, konnten die Franzosen nicht sehen, es gab noch keine Luftbildaufnahmen.
1865, nach dem Deutschen Krieg (Preußen-Österreich) wählte das Preußische Königshaus den Bergpark bewusst als Sommerresidenz, ein klares Signal an Frankreich. Die Kaiserkrönung Wilhelm II im Spiegelsaal von Versailles 1871 war dann nur eine Folge dieser ganzen symbolischen Stichelleien.
Doch, was macht den Bilstein so wichtig?
Bilsteine gibt es viele in Europa. Orte, Namen, Firmen. Das Wort Biel geht auf den Gott Belenus zurück, den keltische Bhel, und das bedeutet „hell“ „hervorragend“. Im Schwarzwald und den Vogesen gibt es ein System der Belchen, das sind Berge, die als Sonnenkalender dienten. Hell machte auch das Nachtschattengewächs Bilsenkraut, das bellenium, das den keltischen Kriegern vor einer Schlacht in das Bier gegeben wurde. „Krieg“ auf lateinisch heißt bellum.
Wir befinden uns unter dem nordhessischen Bilstein (641m), Tacitus berichtet, von einer Schlacht 58 n.Chr. unterhalb dieses Berges zwischen den Hermanduren (Hannover) und den Chatten (Hessen). Seitdem mieden die beiden Stämme dieses Gebiet, und es hat nie wieder ein bellum zwischen den Stämmen und ihren Nachfolgern gegeben.
So ist es sehr friedlich in Kleinalmerode, als ich im ehemaligen Lebensmittelladen meine Startnummer abhole. Die Startnummer wird nach Wichtigkeit vergeben. Die 111 signalisiert morgen jedem Helfer, dass dieser Kerl vegane Getränke bevorzugt. Für diesen Kerl wird auch noch ein Startplatz für den ersten Vogelsberger Vulkantrail reserviert. Der Vogelsberg war einst der größte Vulkan Europas, am 24.09. stehen dort 68 km mit 1800 Hm an.
Der Starterbeutel ist beeindruckend prall gefüllt mit Geschenken der Sponsoren, die allesamt freundschaftliche oder familiäre Bindungen zu diesem kleinen Ort haben. Der Ehrenvorsitzende eines der Hauptsponsoren ist in der Bundesversammlung und hat drei Bundespräsidenten gewählt. Morgen läuft er den Marathon in Begleitung von zwei Bodyguards, damit die Kerle fit bleiben.
Im Gemeindesaal findet nicht nur das gute Essen und das Bier eines Sponsors reißenden Absatz, sondern auch die M4Y-Langarmshirts. Jetzt läuft jeder Zweite damit rum. Ein Hotel gibt es nicht, viele von uns sind privat untergebracht und helfen beim Tortenbacken. Ich helfe mit, die Versorgung mit dem Produkt des Brauereisponsors für die Verpflegungsstellen zu optimieren. Denn wer läuft schon 100 km für ein Bier?
Der Sonntagmorgen ist sehr vernebelt. Um 8:30 Uhr ist Start des Ultras. Solange kann ich nicht warten, also starte ich mit 14 weiteren Ultraläufern um 7:30 Uhr. Die Zielschlusszeit von 8:30 Stunden für die 57 km mit 1500 Hm ist machbar, allerdings will ich im Ziel noch mindestens zwei der guten Bratwürste ergattern. Christoph hat schon was ergattert, die Wurst seines Hundes. Stolz hält er nun das in blaues Plastik eingepackte Produkt vor die Kamera. Ich muss jetzt würgen und unbedingt weg, da ist es mir egal, dass wir zusammen mit den Walkern starten.
Die neblige Umrundung des Rodeberges ist schnell gemacht, doch bei der ersten Steigung überholen mich zwei Walker. Der eine zieht jetzt schon eine mächtige Geruchsspur hinter sich her. Ich muss mich aus überlebenstechnischen Gründen zurückfallen lassen. Bei km 8,5 ist der erste VP, eigentlich der zweite, denn bei km 1 sind wir hier schon mal vorbei gelaufen. Einmal im Jahr sehe ich den rauschebärtigen Aki. Aus Tradition gibt es ein Foto von uns beiden.
Alexander Edelhofer, dicht gefolgt von Jens Nähler fetzt den Berg hinauf. Während ich den zweiten Becher abkippe, kommen Martin Hunger und Alexander Giebler angeschossen.
Die Hasenmühle ist im Nebel kaum zu erkennen. Der Hungershäuserbach hat seinen Namen aus dem 16. Jahrhundert, als wegen einer Dürre die Häuser aufgegeben werden mussten. An der nächsten Steigung überholen mich wieder zwei Wanderer, ich finde das nicht lustig. Die nächsten acht Stunden werde ich mich mit Bernd und Sylvia duellieren, so wie wir es seit mindestens acht Jahren machen.
Wir kommen wieder nach Kleinalmerode, laufen am Hühnerstall und dem Parkplatz der Marathonläufer vorbei, hoch zum Sportplatz. Der VP bei km 13 ist erreicht.
Auch die 5,5 Kilometer hoch nach Umschwang gehen locker. Tacitus erwähnte einen Salzfluss, an dem die Schlacht zwischen den Hermanduren und den Chatten stattfand. Das hier ist die alte Salzstraße, also der Salzfluss. Uwe, bei dem ich übernachte, erzählt, dass sein Urgroßvater die Wagen der Salzhändler zu diesem Pass brachte, indem er sechs bis zehn Pferde vorspannte. „Das gab richtig Kohle“ sagt Uwe, „die Wagen kamen wie am Laufband hier hoch“. Hier am Pass wurden die Pferde ausgespannt, daher der Name Umschwang.
Ich genieße gerade das Produkt eines Sponsors, da greift Schneggi, alias Lahme Sogge, schnell in die Salzbretzel und düst ab. Das gefällt mir gar nicht. Also hinterher.
Wir laufen jetzt in Niedersachen ein, dann wieder in Hessen und wieder in Niedersachsen. Die Grenzziehung zwischen Hannover und Hessen wurde erst 1831 vereinbart, vorher hatte man eine klare Grenze nicht für nötig befunden, alle Seiten haben am Salz gut verdient. Die Grenzführung von 1831 richtete sich nach Wasser- und Forstrechten. Uns fällt eh nicht auf, dass dieser Bach hier auf einer Breite von zwei Metern zu Hessen gehört, obwohl wir schon lange durch Niedersachsen laufen.
Nun überholen uns die Spitzenläufer des Ultratrails der Reihe nach. Alle gut gelaunt, ich auch, denn ich bleibe an Schneggi dran. Blick auf die zwei Eingänge zu den Munitionsdepots, wir sind kaum 15 Kilometer von der ehemaligen innerdeutschen Grenze entfernt.
Der Weg, auf dem wir jetzt laufen, wurde „renaturiert“. Letztes Jahr eine schreckliche Schotterpiste, damit die schweren Laster, die die Teile für die Windräder transportieren, hinauffahren können, mitten durch das Naturschutzgebiet. „Renaturiert“ bedeutet: Lehm drauf. Also laufen wir nun durch Matsch und achten darauf, dass wir mit unserem stetigen Marathongebrüll nicht die brütenden Vögel verschrecken, während über uns die Windmühlen lautstark die Atmosphäre zerschneiden. Ich hab Schneggi eingeholt. Das wird ein guter Tag!
Schon einmal wurden hier neue Wege gebaut: 1907 kam Kaiserin Auguste Victoria, um dem Bilstein ihre Referenz zu erweisen. Da Schweißspuren sich auf viktorianischen Kleidern nicht gut machen, wurde für sie ein serpentinenfreier Weg gebaut.
Nach dem nächsten VP wird der Trail interessant: zunächst geht es zur Niestequelle. Das Wasser ist rot gefärbt, es ist Eisen aus dem Rotliegenden, eine Meeresablagerung, als es nur Algen und noch keine Tiere gab. Die Quelle entspringt zwischen zwei Basaltsteinbrüchen, das Eisen sickert an den Rändern des Vulkankegels hinab. Die geologische Vielfalt auf kleinem Raum ist einmalig. Ein Schild warnt davor, das Bergbaugelände zu betreten: Lebensgefahr. Ich muss also schnell sein. Das ist nicht einfach, die Abraumhalden sind steil und glitschig. Der Grubensee hat die Farbe des Eibsees. Hier wurde Braukohle abgebaut, mit der man schon vor über 2000 Jahren das Salz in Bad Soden-Saalmünster siedete und über die Salzstraße nach Westen brachte. Auch Tacitus hat diesen Ort beschrieben!
Wir kommen nun an den Ruinen der Trockenhäuser vorbei, dann führt die Strecke erstmals hinauf zum Pumpenhaus von 1921. Nach hier oben wurde das Wasser aus dem Steinbruch gepumpt und abgeleitet. Verstreute Steine des ehemaligen Kanals garnieren nun unseren Trail. Das Pumpenhaus ist vergittert, der Schacht ist mit Schrott von 1963 gefüllt, als das Bergwerk dicht machte.
Wenige Meter weiter sind wir auf dem Steinberg (585m), der mit hochaufragenden Basaltsäulen gekrönt ist. Basalt, ein Vulkanmaterial, kristallisiert in diesen sechseckigen Säulen aus. Der Grillplatz an der Steinberghütte wird von 20 Meter hohen Basaltsäulen romanisch eingerahmt.
Der Trail geht oberhalb des Steinbruches entlang, 25 Kilometer habe ich geschafft. Am Wegrand sind die Fundamente der Seilbahn (1893) zu sehen, die die Braunkohle ins Tal schaffte. Schnell abwärts, mit Blick auf den Hohen Meissner (754 m), der Heimat der Frau Holle, also der germanischen Urmutter. Der Hohe Meissner ist ein recht langer Bergrücken, kein Gipfel.
Ein moosbedeckter Trails führt über Kalkgestein hinab ins Gläsnertal. Das ist geologisch schon wieder einzigartig. Einzigartig auch „Auf der Lust“, wie der Gasthof von 1449 einst hieß. Heute ist hier ein Ponyhof. Besitzer ist eine Familie mit dem lustigen Namen Truckenbrodt. Der Weg nennt sich Kohlenstraße, man brachte die Braunkohle vom Steinberg hier runter, um Glas zu schmelzen und weiter nach Han. Münden. Einmalig, dass unterhalb der Kalksteine Sand vorkommt.
Dieses Tal ist wunderschön, von 1536 bis 1831 (dem Grenzabkommen) war es Niemandsland, es gab keine Militärpflicht und kaum Steuern. Man zahlte je 10 % an Hannover (Inschrift auf den unzähligen Grenzsteinen KH) und ans Kurfürstentum Hessen (KFH). Bis 1700, kurz bevor der Herkules gegossen wurde, wurde hier Glas geschmolzen. Zur Einschmelzung wurden sämtliche Wälder gerodet. Um den Schmelzpunkt des Siliciums zu erhöhen, wurde Eichen- und Buchenasche beigemischt, die Salze sorgten für die Grünfärbung der Gläser. Die Asche kam über den Sälzer Weg aus Bad Sooden. Es wurde also nicht nur die hiesige Braunkohle zum Salzsieden genutzt. Um das Glas fest zu machen, wurde Kreide oder Kalk beigemischt, alles, was hier rund um den Bilstein gefunden wird.
Lieblich schlängelt sich der Bach durch frühlingshafte Grün, doch wir laufen auf der größten Abraumhalde Europas, die je im 16. Jahrhundert produziert wurde.
Jetzt kommt der Aufstieg und zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich einen Kleinen Fuchs. Das ist ein wunderschöner Schmetterling, der die Größe von zwei Fingernägeln hat. Den Großen Fuchs, mit der gleichen schwarz-braunen Fleckung kennt jeder. Der Kleine Fuchs aber saugt jetzt Salze aus der Hinterlassenschaft einen Rotfuchses. Leicht zu erkennen, denn der Rotfuchs ist ein ziemlicher Veganer, weswegen er seine Losung nicht gut abklemmen kann.
7000 Quadratmeter Wald wird abgeholzt, um ein Windrad aufzustellen. Für ein Windrad müssen 80 Schwertransporter durch den Wald ächzen, auf 600 Metern Breite müssen dafür die Bäume weichen. Im Gegenzug werden vier Teiche an der Nieste für den Schwarzstorch geschaffen. Ich hoffe, der Vogel landet dann auch mal dort. Letztes Jahr hat hier noch der Förster gezählt, wie viele schreiende Läufer die brütenden Vögel stören würden. Dieses Jahr hat er die Flügel gestreckt.
Die Baustellen der Windräder sind stark gesichert, eine Kamera bewegt sich, verfolgt unseren Lauf. An der nächsten Baustelle ist gerade Wachwechsel der Security Mannschaft. Terrorismus und Vandalismus schaffen auch im Kaufunger Wald Arbeitsplätze.
Endlich der Bilstein (641 m). Bevor der Aussichtsturm sichtbar ist, hört man die Klänge des Musikzuges von Kleinalmerode. „Wien bleibt Wien“, das hat der Musikzug schon vor 110 Jahren hier oben gespielt, als die Kaiserin auf dem Bilsteinturm war. Man trinkt hier oben das Lieblingsbier des Kaisers. „Zeige mir eine Frau, die wirklich Geschmack am Bier findet, und ich erobere die Welt“, sagte der Kaiser. Seine Gemahlin, Kaiserin Auguste Victoria, kam im kaiserlichen, zitronengelben Mercedes Cabrio hier herauf, mit dabei der Dachshund „Erdmann“. Das war eine Zeit, als Regierende sich noch nicht abschotten mussten.
Am nächsten VP treffen wir auf die Straße, die extra für sie gebaut wurde. Über diese Straße führt die HM Strecke. Damals war die Straße flankiert mit Damen in victorianischen Kleidern und mit ausladenden Hüten, die Männer im Frack mit Zylinder. Da ist unsere heutige Laufkleidung angenehmer. Auch unsere Schuhe sind besser, sonst könnten wir jetzt nicht die 6 Kilometer lange Forststraße so schnell hinunter laufen. Die 42km-Wanderer, die ich überhole, marschieren mit schweren Rucksäcken und schweren Stiefeln.
Bei Dorenbach beginnt der Kalkmagerrasen. Das Wasser sickert durch den Kalk in den Untergrund, es ist eine artenreiche Steppenlandschaft. 10mal wurde Dorenbach in den Jahrhunderten verlassen, immer dann, wenn der Bach verdorrte (Dorenbach). Ich verdorre nicht, die Verpflegung ist spitze.
Eine große Gruppe Wanderer versperrt mir den Weg. Man verspricht mir, nächstes Jahr den Ultra mitzulaufen. „ Vormerken: 06.Mai 2018“, rufe ich zurück.
Traumhaft ist der Weg durch die Wacholderbüsche, dazwischen das gelbe Leuchten der Schlüsselblumen. Bei Kilometer 55 wartet der Sohn von Bettina, er kann sehr gut laufen. Bettina auch, obwohl sie seit einem Schlaganfall mit Krücken laufen muss. Ich habe auch Probleme mit den Beinen und freue mich auf den letzten VP, da gibt es noch ein spezielles Schmerzmittelchen aus dem Becher.
„Wir sind Helden“ steht kurz vor dem Ziel auf dem Asphalt. Martin, der Zielmoderator kniet sich vor mir nieder, das könnte ich jetzt nicht mehr. Mit seinem großartigen „ Joeeeeeeeee“ laufe ich über die Zielline. PriMa, der BiMa!
Die Kaiserin ruht nun in ihrer Gruft im Antikentempel von Schloss Sanssouci („ohne Sorge“), alle Läufer ruhen nach diesem sorgenfreien Wochenende unter dem Bilstein aus. Alle Läufer? Nein, nicht alle Läufer! Eine kampfstarke Truppe sammelt sich auf der Terrasse von Uwe, genießt den Zaubertrank und blickt hinauf zum Bilstein, der für germanische Gastfreundschaft, Frieden, Wohlstand und Kraft steht. Beim Belanus!
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08.07.20 | Da geht noch mehr - Probelauf am Bilstein |