Der Mythos der 100 km von Biel beginnt schlagartig an der Startlinie, wenn das letzte Sonnenlicht verblasst, dich die Dunkelheit umgibt, dir die Unsicherheiten, die Gefahren, die Risiken und das Wagnis deiner heutigen langen und finsteren Reise endgültig bewusst werden.
Oft werden 100 km-Rennen auf kleinen Rundkursen ausgetragen. Dieser hier ist eine, aber eine gewaltige Runde. Sitzt du in im Flugzeug, dann kannst du mit deinen Armen einen Kreis rund um den Horizont ziehen und würdest doch nicht die Gesamtheit dieses Rundkurses erfassen können. Den Kurs von Biel kann man nicht erfassen. Lediglich an Kontroll - und Verpflegungsstellen wirst du angestrahlt, als würde man dich mit Suchscheinwerfern, wie in einem billigen Film jagen. Und dann tauchst du wieder ein in diese stille, dunkle Welt mit dem „Tapp-Tapp“ der Läuferschuhe, den säuselnden Kornfeldern, über die ein kalter, teilnahmsloser Vollmond leuchtet, während Freunde und Bekannte längst schon im Tiefschlaf schnarchen.
Und wenn diese Leute morgen früh aufwachen, ihr wachsweiches Frühstückei mit katerbedingt zittrigem Messer aufschlagen, sodaß knirschende Schale im Eigeld klebt, verschlafen die Brötchen aufsäbeln, bis leuchtendes Rot aus der Hand sickert, dann läufst du immer noch. Die Morgensonne brennt dir auf den salzwunden Hals, die Fussnägel haben sich nach oben gewölbt und dein Arsch ist wundgelaufen.
Gut ist das neue Veranstaltungszentrum rund um die Kongresshalle. Nicht gerade eine Jahrhunderthalle, aber nur 5 Minuten vom Bahnhof, geradeaus, dann rechts. Der Rückweg morgen zum Bahnhof wird unerklärlicherweise länger dauern.
Jakob Etter stellt sich der Presse, es geht um die Fehler vom letzen Jahr. Ich bitte Werner Sonntag, legendäre Figur des Bieler 100ters, sich neben den OK-Präsidenten zu stellen.
Einer, der weiss, wie launig Biel in der Nacht der Nächte ist, das ist Karl Heinz Kobus. Seine erste Nacht in Biel hatte er mit 16! Es war sein erstes Mal, 100 km, aus dem Stand heraus, ohne Vorspiel, wenn man die Bundesjugendspiele nicht einrechnet. Zum 30ten Mal ist er heute dabei. Keule begleitet ihn, es könnte ja langweilig werden, nach so vielen Jahren.
Das regensichere Festzelt ist direkt an der Kongresshalle, der Chinese gegenüber recht teuer. In der Esplanade-Halle befinden sich drei Sporthallen für Umkleide- und Wartezeit. Ich fotografiere nur die Herrenhalle von der Tribüne aus, in der Damenhalle ist einfach nix los, stehen alle vor dem Klo. Scheint ein läuferinnenspezifisches Ritual zu sein.
Ja, die individuelle Vorbereitung für den 100 km Lauf ist geheimnisvoll. Italiener bringen ihre eigenen Nudeln mit, Deutsche trinken ihr Bier. Alle werkeln, schmieren, packen oder schlafen. Der Eine oder Andere hantiert mit geheimnisvollen Fläschchen und über all dem liegt eine unglaubliche Stille. Kein Lachen, keine Erzählungen von Heldentaten, nur konzentrierte Ruhe in einer mit dem Geruch von ätherischen Ölen und ungewaschenen Laufklamotten geschwängerten Wartehalle.
Tasche abstellen, Wertsachen abgeben, Wechselklamotten und Geheimnahrung für Kirchberg aufgeben, dann zum Start.
Eigenartige Stimmung, Fotos täuschen Kampfgeist vor. Niemand käme hier auf die Idee, sich klatschend und hüpfend aufzugeilen. Nur wenige heben die Hände. Aber der Sprecher hat es auch kaum erwartet, bei Läufern die mit jeder Kalorie rechnen müssen und sich nur dehnen, wenn der Schuh gebunden werden muss. Oder wie ich, der noch einen Rest Liechtenstein aus der Socke schütteln muss.
Der grüngepuschelte Cabanaut macht vor, was sich das OK für die nächsten Jahre wünscht: Run and Fun. 13 Stunden später sehe ich, wie sich ein Offizieller bei ihm bedankt, denn 100 km in Grünpuschel sind nicht vergleichbar mit 42 km in Ketten. Run and Fun, mein ureigenes Motto.
Schnell ist es 22 Uhr. Wie letztes Jahr laufen wir zwischen den abgesperrten Zuschauern der Innenstadt, dennoch eine eigenartige Ruhe zwischen all den vielen Menschen. Zu schnell wie immer, man lässt sich mitreißen. Nach einer ruhigeren Schleife geht´s nochmal durch die Innenstadt. Ralf, der Rückwärtsläufer ist fünf Minuten vor uns gestartet. Ich entdecke Anton, rufe ihm zu, dass ich jetzt mit Ralf zusammen laufe, weil Bekloppte in der Nacht der Nächte meine Begeisterung wecken.
Das km 1-Schild wollte ich nicht fotografieren, das km 3-Schild ist schon Hohn genug. Es ist schwierig in der Dunkelheit vernünftige Fotos zu schiessen. Die Kamera braucht Ewigkeiten zum Fokussieren, erwischt bewegte Objekte kaum, frisst den Akku. Ein Akkuwechsel auf 100 km entscheidet nun auch nicht gerade die Platzierung, doch ich werde heute von vielen Wechseln berichten müssen. Wie gesagt, keine Nacht in Biel ist gleich. Und diesmal geht mir die Nacht der Nächte ziemlich auf den Magen. Magen-Woodstock, das ist der Name der Königin der Läufe.
Ich sehne mich nach Jens. Kein Typ, ein Ort mit Steigung. Doch ehe es keine Zuschauer mehr gibt, muss ich noch ein Stück bergauf laufen, erst hier ab km 10 bin ich Ultraläufer, kann mich beim Gehen erholen. Zuschauer, Häuser und Strassenlaternen verschwinden in der Ferne, zum Glück hinter mir. Stirnlampen werden sprachlos eingeschaltet, produzieren wippende Monster auf dem Asphalt.
Ab jetzt bin ich mit meinem Magen beschäftigt. Beim Chinesen gab es diesmal keine „Ente-Cross“, außerdem war das schon um 19 Uhr gewesen, und Sambal-Olek kann es wohl auch kaum sein, dass mir im Wald bei Bühl schlecht wird. Vielleicht bin ich seekrank, denn diese schauckelnden Scheinwerfer nerven heute besonders.
Beim hell erleuchteten Galvanisierungswerk frage ich mich wie jedes Jahr, warum man mitten in der Nacht mit Gabelstaplern silberfarbene Metallbalken transportieren muss. Aber die Jungs bekommen Geld dafür und stellen sich jetzt die Frage, warum man mit Stirnlampe in der Nacht der Nächte 100 km läuft und dafür auch noch Geld lässt.