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Laufberichte

Irgendwann ist jetzt

12.06.10

Dann tauche ich unter in der sich langsam zur Startlinie bewegenden Menge. Für einen Moment fühle ich mich in diesen Hundertschaften von Läufern allein. Nicht einsam, aber ich weiß, dass ich in den kommen Stunden auf mich allein gestellt sein werde. Der Rahmen ist durch die Organisation gesetzt, daran kann ich mich klammern, den Rest muss ich allein schaffen.

Endlich kommt der Countdown und ertönt der Startschuss. Irgendwann ist jetzt! Ich laufe los, hinein in die Nacht der Nächte, gespannt, was da auf mich zukommt. Zuerst schon mal überraschend viele Leute am Straßenrand, obwohl der Start nicht in einer dichtbesiedelten Wohngegend liegt. Die ersten fünf Kilometer durch die Stadt sind kurzweilig und zeugen davon, wie sehr „der Bieler“ in der Bevölkerung verankert ist.

Schon bald merke ich, dass ich mir die Strecke in dieser Nacht nicht chronologisch werde einprägen können. In der Dunkelheit fehlen mir die landschaftlichen Fixpunkte, an welchen ich mich orientieren könnte. Ich beschließe, auch gar nicht darüber nachdenken zu wollen, sondern die Eindrücke so aufzunehmen, ohne sie besonders einzuordnen, und einfach zu laufen – und zu laufen.

Nachdem ich die erste Verpflegungsstelle ausgelassen habe, mache ich bei der zweiten eine kurze Trinkpause. Der Sinn steht mir nach sofortigem Weiterlaufen, doch ich muss zuerst noch die Buchhaltung für die Studie erledigen. Ich protokolliere, was und wie viel davon ich zu mir genommen habe, rolle das Blatt um den Kugelschreiber, schiebe beides in eine Plastiktüte und stecke sie in eine Schlaufe am Träger meines Trinkrucksacks. Dieser ist mit einem Liter Wasser, einem Ersatzshirt und einer kleinen Stirnlampe bestückt und soll mir den Coach auf dem Fahrrad ersetzen.

Auf den weiteren Kilometern lasse ich das ganze Drumherum des Hunderters auf mich wirken. Die Leute, die überall wieder in der feucht-warmen Sommernacht auf die Athleten warten, die anderen Teilnehmer und das, was ich im Dunkel oder im Schein der Straßen- und Stirnlampen auf und neben der Strecke erkennen kann. Obwohl es eine Nacht vor Leermond ist, könnte ich auf das Licht der verschiedenen Stirnlampen verzichten. Der stete Wechsel von Hell und Dunkel, die unruhig sich hin-und her bewegenden Lichtkegel, die von hinten strahlenden, die Xenonscheinwerfer der Luxusklasse konkurrierende Funzeln, die mich als Schatten im King Kong-Format vor mir auf den Boden werfen, all das stört die Ruhe, in welche ich einzutauchen hoffte.

Im Gegensatz dazu stört mich der helle und hörbare Empfang in Aarberg überhaupt nicht. Auf dem ausgelegten blauen Teppich über die alte Holzbrücke, direkt auf den von schönen alten Häusern gesäumten, großzügigen Stadtplatz zu laufen, der zu so später Stunde so lebt, ist ein besonderes Erlebnis. Für die Halbmarathonis, die wie die Marathonis später starten und in Biel noch eine Zusatzschlaufe drehen, ist hier Endstation. Ich bin froh, dass ich weiter darf. Das wäre mir zu wenig.

Vom Stadtplatz weg geht es wieder in die relative Ruhe der Nacht. Relativ deshalb, weil immer wieder Gruppen von Zuschauern ihre eigene Party zu diesem Anlass veranstalten. Eine Gruppe Jugendlicher sitzt mit einer ganzen Batterie gefüllter Bierbecher am Straßenrand und bietet mir einen Schluck an. Ich lehne dankend ab und rufe ihnen im Weitergehen noch zu: „Aber der Joe nimmt sicher gerne eines!“

Nach einem guten Fünftel der Strecke sind wir in Lyss. In bescheidener Kenntnis der Verhältnisse in der Schweiz wage ich zu behaupten, dass das Zentrum dieser kleinen Regionalstadt außer an Silvesterabend um Mitternacht sonst nie so belebt ist wie heute. Zu einem kleinen Teil sind dafür auch die Coaches verantwortlich, die hier auf ihre Schützlinge warten und sie bis Kirchberg begleiten und vom Fahrrad aus versorgen dürfen. Kaum sind wir aus dem Siedlungsgebiet heraus, dort wo es keine Straßenlaternen gibt, nervt mich einer dieser Begleiter ungeheuer. Statt mich weiter aufzuregen bitte ich ihn, seinen Scheinwerfer vom Stroboskopmodus auf Dauerlicht zu schalten, was er dann auch tut. Wieso er diesen Lichtzuckungen den Vorrang gegeben hat, bleibt mir ein Rätsel…

Beim nächsten Verpflegungsposten kümmere ich mich auch noch um meinen linken Fuß. Ich habe das Gefühl, als hätte sich in der Socke eine Falte gebildet. Der Kompressionsstrumpf sitzt aber tadellos. Mir schwant Böses. Dieses Gefühl hatte ich schon einmal, damals rührte das Gefühl aber nicht von der Socke her, sondern von der Haut der Fußsohle, die sich am Vorfuß ebenso in einen langen, geraden Falt gelegt hatte. Besonders anzusehen, vom Gefühl her aber wie eine hundskommune große Blase. Ich vermute, dass ich die Schnürung meines Schuhs noch nicht optimal auf die orthopädische Einlage eingestellt habe, und hoffe, dass die Beschwerden nicht zunehmen. Es kommen aber auch Zweifel auf, ob ich die verbleibenden drei Viertel des Laufs durchstehen werde, wenn ich jetzt schon Anzeichen von Beschwerden habe. Wäre es ein Marathon, dann könnte ich den Rest noch schnell über die Runden bringen. Der Bieler ist aber ein anderes Kaliber.

Ich spüre, wie einer in mir an der Kette zerrt, an welche ich ihn gelegt habe. „Nein, du Kerl, dir werde ich es zeigen.“ Noch ist der Kampf unentschieden und gemeinerweise bekommt er Unterstützung von Läufern, deren Leiden andere Dimensionen angenommen haben. Solche, die sich übergeben, andere, die mit griffbereiter Hand am Hosenbund zum Waldrand oder ins Getreidefeld ausscheren. Nein, solange mein Körper kann, solange muss er auch.

Ein seltsames Klappern gesellt sich in die anderen nächtlichen Geräusche. Ich orte es vor mir, also muss es von einem Läufer stammen. Was es wohl ist? Es ist das Klappern von Sandalen, einer eher exotischen Ausrüstung fürs Laufen, besonders über diese Distanz. Ich stelle mir vor, wie sich meine Füße darin fühlen würden und verdränge damit das leichte Wärmegefühl in meinem linken Vorfuß.

Ab Kilometer 35 versuche ich mich an die letzten Marathons zu erinnern und daran, wie schnell jeweils die letzten sieben Kilometer vergingen. Mit solchen Ablenkungsmanövern hangle ich mich bis Oberramsern durch, dem Zielort für die Marathonis. Von dort aus ist es nicht mehr weit zu „unserem“ Marathonziel, welches allerdings nicht ausgeschildert ist. Jetzt, da ich in den Vierzigern drin bin, ist die Hälfte greifbar nahe und entsprechend gewinne ich im Kampf die Oberhand.

Nach 45 Kilometern nehme ich mir beim Verpflegungsposten Zeit für einen Rundumservice, trinke viel, wasche mir die Salzlake vom Gesicht und notiere auf meiner medizinischen Buchhaltung den Besuch des blauen Kabäuschens. Viel beschwingter geht es nun weiter und zu meiner großen Überraschung wird schon drei Kilometer später in Jegenstorf wieder das ganze Sortiment an Essen und Trinken angeboten.  Die Gemeinde bezeichnet sich als Bindeglied zwischen Stadt und Land, und dorthin geht es dann auch. Auf Wirtschaftswegen zwischen Feldern und durch ein Waldstück geht es weiter nach Kirchberg, wobei nochmals eine kleine Ortschaft durchquert wird. Vor mir versperren zwei Coaches und drei Läufer in einer Diagonalen den ganzen Weg und rühren sich nicht zur Seite, als von hinten das Licht einer Stirnlampe naht. Um dem nahenden Staffelläufer zu helfen rufe ich „Achtung Staffel!“ und bekomme als Reaktion die blöde Frage: „Was, die ganze Staffel?“ Ich stelle mir die Frage, ob dieser Teilnehmer nun ein sportlicher Idiot oder gar ein unsportlicher Idiot ist.

 
 

Informationen: Bieler Lauftage
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