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Laufberichte

Skate this town – 42 km Adrenalin

29.09.12

Fotos: Natascha Sambach und Kay Spamer

Der Finger schwebt über der Enter-Taste. "Anmelden?" Es ist kurz vor neun Uhr abends. Nur noch ein alltäglicher Tastendruck und wir sind angemeldet. "Okay, buchen!" Es geht ja erst in zehn Monaten los.


Eine neue Idee ist geboren


Hunderte durchtrainierte Sportler sausen auf ihren Rollen an uns Zuschauern vorbei. Dann ist der Spuk auch schon vorbei. Jedoch nicht in unseren Köpfen. Dor t hat sich ein Bild und eine neue Idee festgebrannt. Wir kennen dieses Gefühl, als wir vor vielen Jahren als Zuschauer beim IRONMAN in Frankfurt standen. Kein Jahr später war die Anmeldung ausgefüllt und unser Kalender ebenfalls. Keine Woche nach dem Berlin-Marathon 2011 ist die Anmeldung zum Inlineskating-Marathon für 2012 ausgefüllt. Man sollte meinen, dass ein Jahr genügt um sich auf einen Inlineskate-Marathon vorzubereiten. An der Kondition sollte es zumindest nicht scheitern.

2012: Das Jahr hat begonnen, Schnee liegt auf den Straßen, egal, denn wir haben ja noch zehn Monate Zeit. Ende Februar noch immer Dunkelheit und viel zu viel Regen. Nein, so macht Inlinern kein Spaß, aber ich beruhige mich, denn immerhin haben wir noch acht Monate Zeit - jedoch nur noch knapp sechs Wochen bis zu unserem ersten Test:  Der Inlineskate-Halbmarathon im Spreewald.

Es ist März, endlich werden die Tage länger und die ersten warmen Sonnenstrahlen machen Vorfreude. Aus dem hintersten Eck im Keller grabe ich noch meine über zehn Jahre alte Fitness-Skates aus.  Wie in einem Schraubstock eingeklemmt stecken meine Füße in den Schuhen. Seltsam, das hatte ich anders in Erinnerung. Keine fünfzig Minuten später halte ich es in diesem Foltergerät nicht mehr aus, mit diesem “Spanischen Stiefel“ an den Füßen werde ich noch nicht einmal den Halbmarathon aushalten, geschweige denn einen Marathon.

Also müssen neue Inlineskates her. Das Angebot ist riesig und kein Schuh passt wirklich. Irgendwie drückt irgendwo immer was. „Hier“, sagt der Verkäufer, „probiert doch mal die Speed-Skates aus“. Optisch erinnert dieser weiße Schuh an einen Laufschuh, bloß ist dieser bretthart und aus Carbon. Beim Drehen der Rollen surren die Kugellager „zssss“. Ich frage den Verkäufer, ob sie nicht ein wenig übertrieben sind. Der antwortet trocken: „Kein Problem für euch, denn wer so gut trainierte Füße und Oberschenkel (danke, an dieser Stelle für die Oberschenkel) hat, der wird diese High-End-Teile beherrschen.

Vier Stunden und einige hundert Euros später, verlassen wir den Laden. Ausgerüstet wie Profis stehen wir kurz darauf auf diesen Dingern, schon nach acht Kilometern sind wir bereits am Ende. Wer bremst verliert, damit könnte ich leben, wenn ich es nur könnte - aller Anfang ist schwer auf unbekanntem Terrain. Unser Vereinskollege, Wolfgang Harling,  führt uns ein in die hohe Kunst des Skatens. Mit ihm haben wir uns den richtigen Mann ausgesucht. Wolfgang gewann bei den Deutschen Meisterschaften 2006 fünf Mal Gold in der Altersklasse. 3000 Meter, 5000 Meter, 21 Kilometer, 42 Kilometer und auf der 84 Kilometer Strecke. Seine Marathonbestzeit liegt bei 01:12:33 Stunden. 

Berlin ist eines der wichtigsten Marathonrennen weltweit.  Schön, schnell, elegant. Attribute für Marathongrößen wie Geoffrey Mutai, Dennis Kimetto oder Geoffrey Kipsang. Sie alle wollen Siegen beim Berlin-Marathon und dafür sollte man für die 42,2 Kilometer lange Strecke nicht länger brauchen als 2:03:38 Stunden, Weltrekordzeit von 2011. Unser Ziel für heute ist, nicht langsamer zu sein, als der erste Läufer.  Natürlich nicht im gleichen Rennen – mehr so visuell. Wir samstags auf Inlineskates, die Läufer sonntags in Laufschuhen. Wird es uns gelingen,  so schnell zu sein, wie der erste Marathonläufer?


Probieren geht über Studieren


Wir können nur sehr schwer erahnen, welche Leistungen die Protagonisten beim Inlineskate-Marathon tatsächlich vollbringen, um bereits eine Stunde später schon wieder im Ziel zu stehen. Nur am eigenen Oberschenkel ist spürbar, welches Brennen schon nach wenigen Minuten in den Muskeln erzeugt wird. Nur die eigenen Emotionen geben Auskunft darüber, was im Gehirn passiert, wenn Straßenbahnschienen wie aus dem Nichts plötzlich vor einem auftauchen und die noch eben glatte Straße sich in ein Hindernis verwandelt. Wir wollen es probieren, wir wollen wissen, wie es ist, wenn sich tausende Rollen in Bewegung setzen und durchtrainierte Körper den Fliehkräften in Speed-Kurven entgegenstemmen. Radarmessungen könnten beweisen, dass die Profis unter den Speed-Skatern mit einer Spitzengeschwindigkeit von bis zu 70 km/h durch Berlin fegen. Ein Sieg in Berlin zählt mehr als eine Weltmeisterschaft.


Plastikgepanzerter Gladiator


Mit Helm, Protektoren um die Knie und Ellbogengelenke, stehen wir am Brandenburger Tor wie angewurzelte, plastikgepanzerte Gladiatoren. Die Straßen sind trocken, die Sonne scheint, damit also ideales Wetter für uns Skater. Die Spannung steigt von Minute zu Minute. Kurz vor dem Startschuss ist sie kaum noch zu ertragen.

Nervös zupfe ich an meinem m4y-Leuchtfarben-Trikot und an meinem Helm. Ein siebtes und achtes Mal binde ich die Schuhe, zum X-ten Mal ziehe ich die Schnalle darüber fest. Plötzlich frage ich mich, ob ich die Schrauben an den Rollen nachgezogen habe und was ist, wenn sich eine löst? Mit klopfenden Herzen verdränge ich den Gedanken.  Immerhin macht mich das schicke und rasante Schuhwerk aus Carbon 100 mm größer und dafür kann man doch auch schon mal 150 und 3000 EURO für ein Paar Speed-Skates aufwenden, oder? Leider wächst mit der Rollengröße auch die Anforderung an das Balancegefühl. Der Körperschwerpunkt liegt höher und erfordert eine besser trainierte Schienbeinmuskulatur. Aber wann, um Gottes Willen, hätten wir trainieren sollen. Wäre es tatsächlich Gottes Wunsch gewesen, das wir hier antreten, dann hätte er es nicht ausgerechnet an den möglichen Trainingstagen regnen lassen.
Weil die Straße für Skater verboten ist, verlegten wir unser Training auf das einmal in der Woche stattfindende Tuesday Night Skating in Frankfurt auch „TNS“ genannt. Immer am Dienstagabend, so der Plan, wollten wir durch die Innenstadt von Frankfurt rollen. Vorneweg sperren Polizeimotorräder die Straße und hunderte  Inlineskater rasen  bis zum Einbruch der Dunkelheit durch die Stadt. Tatsache ist: 200 Kilometer auf unseren Skates,  Januar bis heute, stehen nicht wirklich für eine gute Marathonvorbereitung, das laufen andere an einem Tag (ich meine zu Fuß).


Start-Blockeinteilung


Die Einteilung der Startblöcke wird nach Bestzeiten vorgenommen. Sportler die länger als 1:45:00 Stunden, beziehungsweise noch keine Qualifikationszeit vorweisen können starten aus Block E in der Kategorie Party und dort stehen auch wir. Um aus dem Block C der Kategorie Sport starten zu können, müssten wir bereits eine Bestzeit von 1:30:00 Stunden vorweisen können. Block B heißt dann schon Ehrgeiz und erfordert die Bestzeit von 1:23:00 Stunden. Ein Hubschrauber kreist wenige hundert Meter über der bunten Radhelmlandschaft. Eine kleine Gruppe Skaterinnen erzählt, dass sie schon zweimal mitgefahren seien und alles gar nicht so wild sei - es klingt, als müssten sie sich selber beruhigen. Ich komme mir vor wie jemand, der gerade schwimmen lernt. Ängstlich, hilflos, gleichzeitig neugierig und voller Ehrgeiz, es unbedingt schaffen zu wollen.

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