Tommy Jaudt hat in seinem Buch Hummeldumm sehr pointiert beschrieben, was passieren kann, wenn man seiner „besseren Hälfte“ freie Hand bei der Auswahl des nächsten Reisezieles lässt. Weil ich das nicht so gut kann, nur mal kurz gesagt: „Bei mir war es in diesem Jahr ganz ähnlich.“
So erfuhr ich eher beiläufig, dass die Reise nicht wie gehofft an die Westküste Irlands führt. Dabei würde gerade zu unserer Reisezeit der Dingle-Marathon über herrliche Küstenstraßen führen. Dafür geht es in die Lüneburger Heide, in einen Bungalowpark mit angeschlossenem Freizeitbad, genau im läuferischen Nichts zwischen Hamburg, Hannover und Bremen. Ich solle auch mal Laufurlaub machen, meinte meine Frau noch.
Doch so schnell gebe ich nicht auf. Mir ist klar, dass die großen Läufe in Hamburg und Hannover Ende April und Anfang Mai stattfinden und Bremen im Oktober. Aber da muss es doch noch einen geben. Ich nehme zunächst das Marathon-Sonderheft einer großen Laufzeitung zur Hand, in der an dem betreffenden Wochenende zwei Veranstaltungen auflistet sind, nämlich den Mitteldeutschen Marathon in Halle an der Saale und der Darmstadt Marathon. Aber beide sind viel zu weit von meinem Urlaubsdomizil entfernt. Also durchforste ich die einschlägigen Internetseiten und werde fündig: Der Wolfsburg-Marathon. Im Vorjahr erreichten 166 Läufer das Ziel, nachdem sie den 21,1 km Rundkurs zweimal durchlaufen hatten. Von meinem Urlaubsort knapp 100 Kilometer entfernt – das passt doch.
Die Distanz verhindert aber, dass ich die Startunterlagen bereits an den Vortagen abhole. Dies wäre am Freitag und Samstag jeweils am Nachmittag von 14-18 Uhr in der VfL-Turnhalle möglich gewesen. Ich fahre am Morgen des Marathontages über fast leere Niedersächsische Autobahnen anderthalb Stunden nach Wolfsburg und stelle mein Fahrzeug um 8:43 Uhr vor dem Porsche-Stadion ab, welches das Fußball-Internat des VfL Wolfsburg beheimatet. Von hier führt mich der kurze Weg zunächst am Kunstmuseum vorbei zur Stadtbücherei. Hier herrscht am meisten Trubel, insgesamt 850 Helferinnen und Helfer sind im Einsatz und dies ist ihre Anlaufstelle. Sie erhalten für ihren Einsatz neben einem Helfer-T-Shirt und Verpflegung am Lauftag auch je eine Eintrittskarte für ein Spiel der Fußball-Bundesliga und der Deutschen-Eishockeyliga sowie eine Einladung zur Helfer-Party. Kein Wunder sind diese am heutigen Tag alle bester Laune. Beim Verlassen der Stadtbücherei führen die Wegweiser leider auf das einzige (gebührenpflichtige) WC weit und breit. Die gewohnten Dixie-Anlagen und Toilettencontainer sehe ich erst später. Immerhin weiß ich jetzt, dass meine Anlaufstelle, das Rathaus, genau gegenüber und keine 50 Meter entfernt liegt.
Hier erhalte ich meine Startunterlagen. Es geht familiär zu. Wie schon in den Vorjahren gehen keine 200 Läufer an den Marathonstart, rund 1000 nehmen den Halben in Angriff, weitere rund 500 Starten über die 10 km-Distanz. Auch ein 5-Kilometer-Lauf sowie Bambini- und Kinderläufe werden angeboten.
Mein Start kostet mich als Frühanmelder gerade einmal 29 Euro. Bis eine Stunde vor Start ist eine Nachmledung möglich. Mit 47 Euro immer noch günstig.
Im Starterbag befinden sich neben der Startnummer auch noch zwei Eintrittskarten für die Autostadt Wolfsburg, ein Brillenputztuch, ein Gutschein für die Nudelparty am Samstagabend sowie eine drei Monate alte Ausgabe einer Laufzeitung. Wer keinen eigenen Champion-Chip besitzt, für den liegt auch noch der Chip bei. Mich führt mein Weg zurück zum Auto, ich muss mich noch startfertig machen. Ein Vorteil Wolfsburgs wird mir hier schon deutlich. Es liegt alles ganz nah beieinander. Nach nur 23 Minuten bin ich mit meinen Badeschlappen bereits wieder am Auto zurück.
Während ich mich rennfertig mache, gehe ich im Kopf durch, was ich bis hierher von Wolfsburg gesehen habe. Nichts wirklich Ates. Kein Wunder, denn Wolfsburg wurde 1938 als "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben" gegründet und 1945 in Wolfsburg umbenannt. Ich nehme mir fest vor, das namensgebende Schloss Wolfsburg, welches nicht an der Laufstrecke liegt, zu besuchen. Bereits 1972 durchbrach man die 100'000 Einwohner Grenze und wurde so zur Großstadt. Heute Leben 120'000 Menschen in Wolfsburg und den zugehörigen Stadtteilen.
Angesagt war herrliches Spätsommerwetter mit Temperaturen um 28°C. Ein Blick in den Himmel lässt mich daran zweifeln: Ich sage spontan Regen voraus und frage einen wolfsburgwettererfahreneren Helfer, ob er meine Einschätzung teilt. Er bestätigt mich, beruhigt aber auch. Es sei schon oft so gewesen, dass der Mittellandkanal die Wettergrenze gewesen sei. Beim Start um 10 Uhr muss ich die Kamera wegen des beginnenden Regens deshalb auch schon einpacken. Leider.
Der Weg führt schon nach 100 Metern an der ersten Verpflegungsstelle vorbei. Na das nenne ich mal Luxus, soll aber sicher eher für die zweite Runde der Marathon und auch 10-km-Strecke dienen. Richtung Süden laufen wir aus der Fußgängerzone heraus und am Planetarium vorbei in Richtung Sportanlagen des TV Jahn. Über die halbseitig gesperrten größeren Innenstadtstraßen machen wir einen großen Bogen und kehren nach etwa 3 Kilometern zurück in den Bereich der Fußgängerzone, wo zwei Perkussiongruppen sowie eine Cheerleadinggruppe für Stimmung sorgen. Die Wolfsburger selber? Naja, da gibt es für mich drei Gruppen. Die erste hilft, die zweite läuft, die dritte schläft. Angefeuert durch die Sambarhythmen geht es locker durch den nördlichen Teil der Fußgängerzone.
Ich lerne Dierk kennen, einen erfahrenen Marathoni aus Wolfsburg. Er erzählt mir, dass man bei der ersten Auflage tatsächlich noch einen großen Rundkurs gehabt hätte und im Vorjahr Start und Ziel noch im alten VfL-Stadion gewesen sei. Das wird heute zweimal durchlaufen. Doch zunächst geht es vorbei am Phaeno, einem postmodernen Museum, welches sich, nomen-est-omen, Phänomenen widmet und entlang des Designer-Outlet Wolfsburg zum Industriegebiet Heßlingen. Nach Planetarium, Museum, Fabrikverkauf - alles recht modern - bietet dies einen ersten Gegensatz und lässt die Vorfreude auf die größten Flügeltüren Europas noch größer werden. Doch noch trennt uns der Mittellandkanal vom vielleicht schönsten Stück des Laufes. Ganz schnelle Läufer könnten uns auf dem Begegnungsstück über den Fußgängersteg bereits entgegenkommen. Sie tun es aber nicht.
Vorbei am Yachthafen und der Volkswagenarena, Dierk zeigt mir den Magath'schen Berg der Qualen, kommen wir immer näher Richtung Autostadt. Der wetterkundige Helfer hatte Recht. Hier auf der anderen Seite des Mittellandkanales ist es tatsächlich trocken. Sofort hole ich meine Digitalkamera heraus und mache erste Bilder der Laufstrecke.