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Laufberichte

Léons kleiner Spaziergang

31.08.08

Die große Herausforderung „PTL - La petite trotte à Léon“: Zweimal ausgeschieden und dennoch im Ziel! 

Léons kleiner Spaziergang… so lautet die Übersetzung von „La petite trotte à Léon“. Dahinter verbirgt sich, extrem verharmlosend, die nunmehr dritte Laufstrecke, die im Rahmen des Ultra Trail Tour du Montblanc in Chamonix (F) angeboten wird.

Neben dem Klassiker UTMB (166 km, 9.500 hm), der „Kurzstrecke“ CCC (98 km, 5.200 hm) werden die Teilnehmer beim „PTL“ auf die wirklich große Runde um den Weißen Berg geschickt. Die Ausschreibung weist stolze 220 km und 17.000 hm auf.

Kein Wettbewerb mit Wertung im klassischen Sinn, vielmehr eine Herausforderung an Leistungsvermögen, Ausdauer, Orientierungsvermögen, Eigenverantwortung und Kameradschaft. Jeder, dem es gelingt, diese Aufgabe innerhalb des Zeitlimits von 100 h zu bewältigen, ist ein Sieger.

26 Pässe oder Berggipfel, die Mehrzahl davon deutlich höher als 2.500 m, müssen auf Bergpfaden, teilweise aber auch weglos, überschritten werden. Die Trasse führt von Chamonix (F) in einer weiten Schleife nach Courmayeur (I), weiter zum Großen St. Bernhard (CH) und dann über Champex (CH) zurück nach Chamonix.

Zugelassen werden zu diesem Ultra-Lauf nur Teams, die aus drei Personen bestehen, von denen wiederum mindestens zwei Finisher des UTMB sein müssen. Das jeweilige Team muss über die gesamte Distanz zusammen bleiben und gemeinsam das Ziel erreichen.

Der Lauf findet in totaler Autonomie statt. Das bedeutet: Der Veranstalter stellt ein „Roadbook“, bestehend aus einem Satz topographischer Karten, und die GPS-Daten der Strecke zur Verfügung. Es gibt keine Wegmarkierungen, keine Verpflegungsstellen, keine medizinische Versorgung. Eine Unterstützung der Läufer auf der Strecke ist unzulässig.

Auf sog. „Partnerhütten“, davon gibt es auf die gesamte Distanz 13 Stück, bestehen für die Teilnehmer Verpflegungs- und ggf. Schlafmöglichkeiten. Alle Leistungen, die dort evtl. in Anspruch genommen werden, sind von den Läufern selbst zu bezahlen.

Der Veranstalter schreibt eine umfangreiche Pflicht- und Sicherheitsausrüstung vor. Schlechtwetterkleidung für das Hochgebirge, Erste-Hilfe-Ausrüstung, Biwakzelt und ausreichende Essensvorräte sowie 1,50 l Wasser bringen den Laufrucksack schnell auf ein Gewicht von 8 bis 10 kg.

Am 27.08.2008, 08:00 h stehen 61 entsprechend ausgerüstete Dreierteams an der Startlinie in Chamonix. „We will survive!“, so der Name meines Teams, ist auch die Zielsetzung. Stefano Bartolini (I), Leonardo Gaiani (I) und ich haben uns für den PTL zusammengetan. Neben dem jeweils individuellen Training haben wir zur Vorbereitung gemeinsam drei Berg-Ultras in Italien erfolgreich hinter uns gebracht und glauben an eine reelle Chance.


Strahlende Morgensonne und entsprechend hohe Temperaturen begleiten uns auf dem ersten Anstieg über ca. 1.100 hm, der nahezu unmittelbar nach dem Start beginnt. Die durchschnittliche Steigung auf diesen ersten 7,7 km beträgt über 14 % und vermittelt uns einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen soll.

Bis ca. 19:00 h geht es in einem ständigen Auf und Ab zur ersten Partnerhütte (Chalet du Trucs) bei km 36. Die erste Verpflegungsmöglichkeit ist der Lohn für ca. 3.300 hm im Aufstieg und ca. 2.600 hm im Abstieg. Nach einer Pause von ca. 30 Min. geht es weiter. Bis zu unserem Tagesziel, dem Col de la Croix du Bonhomme sind noch 19 km mit einem weiteren Anstieg von ca. 1.850 hm zu überwinden. Bald wird es dunkel. Trotz Stirnlampen gestaltet sich die Suche nach dem richtigen Weg häufig schwierig, so dass wir erst gegen 02:30 h unser Etappenziel erreichen.

Nach zwei Stunden Schlaf in der Partnerhütte am Col und einem Frühstück sind wir im ersten Morgenlicht wieder „en route“. Auf den nächsten 11 km führt die Trasse zuerst 875 hm nach unten, um dann sofort wieder um etwa den gleichen Höhenunterschied auf den Col de la Seigne anzusteigen.


Schwierig geht es dann über mehrere kleine Pässe und Gipfel zum Col de Charmonts (2.865 m). Von dort führt ein Abstieg mit über 900 hm zum Refuge „Maison Vielle“ am Col Checrouit. Leo kämpft seit längerem mit verbissenem Gesicht, aber ohne zu klagen, gegen die Schmerzen an seinen blutenden Füßen. Während des Abstiegs wird klar, dass Leo nicht weitermachen kann. Stefano, der während des Tages bereits mehrere Tiefpunkte überwinden konnte, spricht das erste Mal vom Aufgeben.

Mir geht es nach wie vor gut, so versuche ich, zumindest Stefano zum Weitermachen zu motivieren. Er jedoch meint, dass er mich nur aufhalten würde. Alleine hätte ich, wenn auch außerhalb der Regularien des Laufs, immer noch die Chance, die gesamte Strecke zu bewältigen.

Diese Situation hatte ich, schon aus Motivationsgründen für mich, nicht in Erwägung gezogen. Ein Aufgeben des gesamten Teams aufgrund der Schwierigkeiten und der Länge des Laufs bzw. bei evtl. schlechten Wetterverhältnissen konnte nie ausgeschlossen werden. Dass aber bereits nach gut ¼ der Strecke nur ich als einziger übrig bleiben würde, der körperlich und mental in der Lage wäre, weiter zu machen, war nicht vorherzusehen.

Ich nehme mir eine Auszeit vom Team und setze den Abstieg bis zum Refuge alleine fort. Fest steht, dass ich nicht alleine weitermachen kann. Nicht umsonst waren wir, vor allem aus Gründen der Sicherheit, im Team unterwegs. Die einzige Option, die möglicherweise bleibt, ist, sich evtl. einem anderen Team anzuschließen.

Am „Maison Vielle“ treffe ich auf das französische Team „Marche ou Reve“ mit Pascale und Olivier. Das sympathische Paar hat bereits in der ersten Nacht seinen „dritten Mann“ verloren. Sie sind damit, ebenso wie ich, bereits ausgeschieden, wollen und können aber weiter laufen. Ein Telefonat mit dem Organisationsbüro klingt viel versprechend. Ein „zusammen gesetztes“ Team würde akzeptiert. Stefano und Leo sind zwischenzeitlich ebenfalls eingetroffen. Sie erklären die Aufgabe und schicken mich mit den besten Wünschen mit meinen neuen Partnern auf den weiteren Weg.

Dieser führt weitere 750 hm hinunter nach Courmayeur (I) und von dort 780 hm steil hinauf zum Rifugio Bertone. Es folgt Abendessen, eine kurze Schlafpause von ca. 2 Stunden und anschließendes Frühstück, bevor es, zwischenzeitlich ist es Freitag, gegen 02:30 h Richtung Col du Grand St. Bernard weitergeht. 2.050 hm im Aufstieg, 1.575 hm im Abstieg, teilweise im schwierigen Gelände, sind bis dort hin zu bewältigen. Ein traumhafter Sonnenaufgang und weiterhin herrliches Wetter entlohnen uns für die Mühen.


Im Hospiz am Großen St. Bernhard sind unsere Kleiderbeutel deponiert. Umziehen, Rucksack umpacken und Vorräte auffüllen, Essen, Trinken und eine kleine zusätzliche Ruhepause. Schon geht es weiter. Unser Tagesziel ist Champex (CH). Neben den bereits zurückgelegten 21 km liegen weitere 36 km mit einem Höhenunterschied von + 1950 hm bzw. - 2.950 vor uns.

Dazwischen liegt die Etappe mit den wohl insgesamt höchsten technischen Schwierigkeiten. Steile An- und Abstiege, extrem schmale und ausgesetzte Wege, teilweise weglose Abschnitte durch Blockgelände und erneute Orientierungsschwierigkeiten in der nunmehr folgenden dritten Nacht, lassen diesen Abschnitt zu echten Herausforderung werden. So erreichen wir die Partnerhütte in Champex erst gegen 03:00 h am Samstag.

Jetzt ist eine Schlafpause angesagt. Diese fällt leider etwas zu lange aus. Wir verpassen die Cut-Off-Zeit um 06.00 h. Laut Reglement müssen wir nunmehr eine verkürzte Strecke auf der Trasse des zeitgleich stattfindenden UTMB nehmen.

Pascale erklärt ihre Aufgabe. Olivier und ich entschließen uns, dennoch weiter zu machen. Statt die verkürzte Wegführung zu nehmen, halten wir uns an die vorgegeben Trasse des PTL. Wir hoffen nämlich, dass wir den Zeitrückstand bis zur nächsten Cut-Off-Zeit am Col de la Forclaz wieder wett machen können. Bis auf eine halbe Stunde kommen wir, trotz wirklich schwierigster Wegbedingungen, auch wieder an das Zeitlimit heran. So bleibt uns nichts anderes übrig: Wir müssen vom Col de la Forclaz nach Trient absteigen, um dort auf die Streckenführung des UTMB zu treffen.


Da wir, nach dem Ausstieg von Pascale, ohnehin erneut aus der Wertung sind und als „abandon“ (aufgegeben) geführt werden, ist dies nicht zu tragisch. Die UTMB Strecke „erspart“ uns im Vergleich zum PTL ca. 22 km und 2.200 hm.

Sicher, das Ziel in Chamonix noch an diesem Samstagabend zu erreichen, machen wir uns auf den Weg. Wir können jetzt die Verpflegungsstationen des UTMB nutzen. Als sich dort jeweils herumspricht, dass wir zwei Läufer des PTL sind, ist die Begeisterung der Helfer und der Zuschauer kaum zu bremsen. Das tut wirklich gut und hilft mir, die trotz alledem verspürte Enttäuschung zu verwinden.

Von Trient auf den Catogne, hinunter nach Vallorcine, wieder hinauf zum Col de Montets, die Strecke kenne ich noch gut vom UTMB 2006. Dann die geänderte Route des UTMB 2008. Ein letzter langer Anstieg mit ca. 800 hm nach La Flégère. Traumhaft schöne Ausblicke auf den Montblanc im Licht der untergehenden Sonne. Eine letzte Verpflegungsstelle und das Wissen: Von nun an geht’s bergab! Diese 850 hm Abstieg nach Chamonix haben es aber noch mal in sich. Der Abstand zwischen Olivier und mir wird größer. Ich bedeute ihm, dass er voraus laufen soll. Die letzten km bin ich mit mir und meinen Gedanken alleine. Ein unwahrscheinliches Glücksgefühl vermischt sich mit ein bisschen Stolz, soweit gekommen zu sein.

Ich telefoniere mit meiner Frau Margot, die in Chamonix auf mich wartet. Sie wird an der Ziellinie stehen. Dann erreiche ich die ersten Häuser von Chamonix, Zuschauer jubeln und feuern mich an. Der letzte km durch die nächtlichen Straßen wird für mich zum emotionalsten Moment meiner bisherigen Läufe. Die Ehrenrunde im Stadtzentrum, dann die Gasse hoch zum Zieleinlauf. Kann es noch etwas Schöneres geben? Ja, die Umarmung meiner Frau, die sich die vergangenen 86:40 h um mich gesorgt hat und vermutlich auch nicht mehr geschlafen hat als ich.

Ich treffe Olivier wieder, der wenige Minuten vor mir ins Ziel gekommen ist. Wir beglückwünschen uns. Ohne uns vorher zu kennen, haben wir zwei Tage lang hervorragend harmoniert und uns gegenseitig geholfen. Meine Freude wird noch größer, als uns die Organisatoren, trotz unseres zweimaligen Ausscheidens und der verkürzten Strecke, die Finisher-Weste des PTL überreichen.

Die lang ersehnte und auch dringend erforderliche Dusche im Hotel macht nahezu einen neuen Menschen aus mir. Unser Hotel ist nur wenige Meter vom Zielbereich entfernt. So gehen wir zurück, um mich mit einem (oder waren es zwei?) Bière Sérieux zu belohnen. Wir teilen die Freude mit den ankommenden Finishern des UTMB und feiern einfach mit der ganzen Stadt.

Von den 61 gestarteten Teams konnten 29 innerhalb des Zeitlimits das Ziel erreichen. Auch die einzige deutsche Mannschaft, das Team „One-Sixty-Five“ mit Martin Sturzl, Dieter Baumgart und Thomas Herget hat in ca. 101:30 h gefinisht. Herzlichen Glückwunsch.

„La Petite Trotte“ ist eine Herausforderung. Wir hatten in 2008 ein unwahrscheinliches Wetterglück. Vom Start weg bis weit nach Zielschluss herrschte eine stabile Hochdrucklage. Ich bin davon überzeugt, dass bei schlechteren Verhältnissen oder auch nur, bei den in dieser Jahreszeit durchaus üblichen Wärmegewittern, einzelne Passagen nur mit größten Schwierigkeiten oder auch gar nicht zu bewältigen sind.

Aber darauf wird in der Ausschreibung auch hingewiesen:

„Alle Läufer, die sich für La Petite Trotte anmelden, müssen unbedingt folgendes in Betracht ziehen:

- Die Wege und Pfade der Strecke sind sehr viel schwieriger als die des UTMB und können objektiv gefährliche Stellen aufweisen (sehr steile Hänge, Steinschlaggefahr, sehr schmale Pfade, Überqueren von Schutthalden, schlecht gekennzeichnete Abschnitte  …)

- Die Strecke verläuft grossteils höher als 2 500 m, abseits von Hütten, so dass bei schlechten Wetterverhältnissen die Bedingungen sehr schwierig werden können.
- An der Stecke gibt es keine Hilfsposten. Nur in den Hütten können Sie Hilfe finden.“

Abseits vom zwischenzeitlich stark kommerzialisierten UTMB bzw. CCC ist der der PTL die ruhige, naturnahe, persönlichere und wildere Variante. Die Schwierigkeiten auf Europas längstem Ultra-Trail sind außergewöhnlich hoch. Eine in weiten Teilen völlig unberührte Hochgebirgsnatur, begeisternde Aus- und Tiefblicke und das allgegenwärtige Panorama des Montblanc-Massivs haben mir ein unvergessliches Erlebnis beschert. Die Kameradschaft innerhalb „meiner beiden Teams“ war beeindruckend.

"Mille grazie" an Stefano und Leo und "merci beaucoup" an Pascale und Olivier. Pour moi c´etait un grand plaisir et un honneur exceptionel.

 

Informationen: Ultra Trail du Mont Blanc (UTMB)
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