Not macht erfinderisch … sagt man so schön. In diesem Sinne haben wohl auch die Macher des Stelvio Marathons nachgedacht. Kaum hatte sich der 2017 erstmals ausgetragene Marathon hinauf auf den mit 2.757 m üNN zweithöchsten alpinen Straßenpass in der Szene erfolgreich etabliert, warf ein lästiger kleiner Virus alle Pläne über den Haufen. Was früher einfach und selbstverständlich erschien, ist es jetzt auf einmal nicht mehr.
Neue Regeln, neue Anforderungen, neue Ängste und Befindlichkeiten machen auch den Organisatoren von Laufveranstaltungen das Leben schwer. Die einen resignieren, andere warten ab. Wieder andere lassen sich etwas einfallen. Letzteres gilt auch für Peter Pfeifer und sein OK-Team. Nach der lediglich virtuellen Durchführung 2020 will man 2021 wieder ein Signal setzen und zeigen: „Wir leben noch – und wir machen weiter“. Mit ein paar Abstrichen und Kompromissen zwar, aber im Kern das erhaltend, was den besonderen Reiz der Veranstaltung ausmacht und schon den Leitspruch bei meinem ersten Besuch im Jahr 2018 prägte: Run to the magic pass.
21.000 Meter in der Vertikalen, 2.100 Meter in der Horizontalen – das sind die Eckdaten der verkürzten Sonderausgabe 2021. Die erste Streckenhälfte des Marathons im Tal hat man kurzerhand gekappt. Auch auf den Run über die letzten 24 Kehren der Passstraße muss man verzichten. Dafür laufen wir den fantastischen Goldseeweg bis ganz hinauf. Und „hinauf“ bedeutet heuer nicht die Passhöhe, sondern noch etwas höher. Ziel ist das Rifugio Garibaldi auf der 2.843 m hohen Dreisprachenspitze, knappe hundert Meter oberhalb des Passes, mit Panoramablick auf denselben und die Passstraße. Das macht Laune. Auch das, was danach geboten wird: Denn den Rückweg nach Prad kann, wer will, mit dem Fahrrad antreten. Nun über die Passstraße, fast zweitausend Meter downhill.
Die Sonne lacht, nein: sie brennt, als ich am Freitag vor dem Lauf Prad erreiche. Fast 30 Grad zeigt das Thermometer im Tal. So ganz anders als noch eine Woche zuvor, als Regenfluten für Chaos und Überschwemmungen auf der Alpennordseite sorgten. Über den Reschenpass führt ein schöner Anfahrtsweg in die 3.500 Einwohner-Gemeinde. Wer immer von Südtiroler Seite auf den Pass will, muss hier durch. Und so muss Prad ein wenig unter dem Durchgangstourismus, vor allem unzähligen brünftig röhrenden Bikern leiden, die zumindest „once in a lifetime“ den berühmten Pass mit seinen 48 Spitzkehren erobern wollen. Aber der Ort lebt auch ganz gut von denen, die hier Station machen.
Auch für uns Läufer ist Prad letztlich das Tor zum Stilfser Joch. Erster Anlaufpunkt ist das „aquaprad“, das in schlicht-modernem Design konzipierte Nationalparkhaus im Herzen des Ortes. Hier bekomme ich in einer kühlen Halle meine Startnummer. Freilich erst nach Klärung der Formalia: Die ärztlich bestätigte Lauftauglichkeit ist in Italien obligatorisch, die Covid 19-Eigenerklärung ein Erfordernis der Zeit. Mit der Startnummer gibt es einen Gepäckbeutel mit allerlei netten Sponsorengaben obendrauf und am Hallenrand stapeln sich schon die Kisten mit leckeren Naturalpreisen für die Altersklassengewinner.
Etwa 400 Teilnehmer overall haben sich für die diesjährige Spezialausgabe gemeldet. Angehen kann man die Strecke in den Kategorien „Competitive“, „Just für Fun“ und „Marsch“, wobei der überwiegende Teil dann doch der Wettkampfversion den Vorzug gibt. Pastaparty und Laufmesse, auf all das muss man leider (noch) verzichten, wie auch auf die After-Race-Party. Ich erinnere mich: Bei meinem Start im Jahr 2018 war Feiern noch groß angesagt, mit luftigem Großzelt, Biergarten, Bar, Fressbuden, Bühne. Im Moment entsprechen jedoch Zurückhaltung und Konzentration auf das Wesentliche dem Zeitgeist. Und das ist eben der Lauf als solches.
Auch wenn wir „nur“ einen Halbmarathon laufen, so ist langes Ausschlafen am Samstag nicht angesagt. Für 8 Uhr ist der Start terminiert, für die Marschierer schon um 7:15 Uhr. Von meinem komfortablen Hotel Zentral aus sind es nur ein paar Schritte zum Startpunkt vor dem aquaprad gleich gegenüber und so bekomme ich quasi live mit, als in den frühen Morgenstunden auf der Via Croce (Kreuzweg – nomen est omen) das Startgelände aufgebaut wird, die Musik zu schallen beginnt und der Startmoderator sich warm redet. Warm und zudem schwül ist es auch sonst und die Berggipfel verhüllende düstere Wolken lassen für den Lauf nicht allzu viel Gutes erahnen.
Aber im Hier und Jetzt tut das der Stimmung keinen Abbruch. Mehr und mehr Läufer trudeln ein und die Veranstalter tun ihr Bestes, die Stimmung zusätzlich anzuheizen. Zwischen primär rockigen Klängen aus der Konserve setzt ein Alphornbläser-Trio einen beschaulichen akustischen Kontrapunkt. „Eins auf die Ohren“ gibt es von ein paar starken Jungs, die riesige Treicheln rhythmisch vor sich her schwenkend durch den Startkanal wanken. Als AC/DC mit „Highway to Hell“ musikalisch das Zepter übernimmt und das Kommando zum Hands Up ertönt, weiß ich: Es ist soweit.
Mit Schwung setzt sich der Tross um Punkt acht Uhr in Bewegung. Im flotten Trab geht es die Via Croce dorfauswärts und gleich hinter dem rauschenden Suldenbach auf einem kleinen Sträßlein südwärts in Richtung Agums. Schon kurz darauf setzt die Steigung ein, zunächst nur leicht, dann immer mehr an Dynamik gewinnend, als wollte der Kurs ganz allmählich unsere Steigfähigkeit bzw. deren Grenzen austesten. Am Anfang will sich da keiner eine Blöße geben und der Pulk nimmt noch geschlossen die ersten Steigungen. Aber schon wenige Minuten später ist der Punkt erreicht, an dem die ersten Läufer marschieren. Schnell werden es immer mehr und schließlich endet dieser erste Test um mich herum im kollektiven Power-Walk. Schon jetzt rinnt mir der Schweiß in Strömen, mein Herz rast. Bange wird mir bei der Vorstellung, auf 915 m üNN startend so viele Höhenmeter bezwingen zu müssen. Beruhigend ist: Immerhin 6,5 Stunden bzw. bis 14:30 Uhr habe ich Zeit, den Weg ins Ziel zu finden.
Schnell gewinnen wir an Höhe. Aus dem Asphalt- wird ein breiter Naturweg und herrlich ist der Blick über die weiten Wiesen, zurück nach Prad und auf das sich im Wolkendunst verlierende Bergpanorama, wenn die Natur entlang des Weges ihren grünen Schleier lüftet. Rebkulturen in steiler Hanglage passieren wir auf unserem Weg und alte, einsam gelegene Gehöfte wie den Mitterhof.
Ab dem Patzleid-Hof setzt sich unser Laufkurs auf dem historischen Archaikweg nach Stilfs fort. Der Archaikweg folgt weitgehend alten Säumer- und Karrenwegen, die jahrhundertelang zum Übergang vom Südtiroler Etschtal über das Stilfser Joch ins Veltlin genutzt wurden. An mehreren Stellen sollen sogar alte Karrenspuren im Felsgrund sichtbar sein. Jedenfalls startet die neue Passage mit einem nur moderat steigenden, breiten Höhenweg, der sich Kurve um Kurve den Berghang entlang schlängelt und weite Ausblicke über die sonnenbeschienenen Wälder im Tal und die schroffen Berghänge dahinter erlaubt.
Die vorübergehende Gemütlichkeit endet beim Abzweig auf einen Single Trail, der sich steil und teils gestuft über reichlich Wurzeln und Fels in die Höhe windet. Jäh geht es neben dem Weg bisweilen in die Tiefe, Konzentration ist angesagt, auch wenn die Balkonaussicht immer wieder zur Ablenkung verleitet. Nichtsdestotrotz: Ein Wegstück, das eines Trailrunners Herz höherschlagen lässt.
Bis auf etwa 1.430 m üNN geht es hinauf, dann kippt das Profil und wir dürfen etliche der mühsam erarbeiteten Höhenmeter beim Abgalopp durch teils dschungelartige Natur wieder abgeben. Der Weg verbreitert sich und führt uns direkt hinein nach Stilfs, das mit seinen engen und gleichermaßen steilen Gassen auf etwa 1.300 m ÜNN wie ein Adlerhorst im Hang hängt. Im Herzen des Dorfes erreiche ich, von mir bereits sehnlich erwartet, nach 6 km die erste von vier Verpflegungsstationen auf dem Weg nach oben. Wasser, Isotonisches, Cola, Obst – nach dem schweißtreibenden Einstieg nutze ich die Gelegenheit, reichlich „nachzutanken“. Nur eine Straßenecke weiter gibt es Motivation ganz anderer Art: Auf dem Hauptplatz des Dorfes zu Füßen der Kirche sorgt ein DJ live am Mischpult für heißen Sound. Zu wummernden Beats aus der Box empfängt mich lautstarkes Gejohle des sichtlich gut gelaunten Begrüßungskommandos.
Mitten durch den Ort führt der Laufkurs und weiter zum Ortsausgang in Richtung Platzhof. Erst aus der rückwärtigen Perspektive wird die exponierte Lage des Dorfes am Berg so richtig deutlich.
Die Naturwege sind meist breit und bequem, im Daueranstieg aber dennoch nicht ohne Mühsal. Über das weite Almgelände hinweg haben wir zumindest überwiegend ungetrübten Rundum-Panoramablick in die so herrlich entspannte Bergnatur. Malerisch thront einsam und allein das Kirchlein St. Martin inmitten der Landschaft. Selten habe ich einen „Kirchgang“ so schweißtreibend erlebt wie hinauf zu dieser Kapelle.
Jenseits des Platzhofs wird der Bergwald entlang unseres Streckenkurses immer dichter. Breite Forstwege und ausgetretene Wanderpfade wechseln einander ab. Das Blickfeld ist primär auf die unmittelbare Umgebung beschränkt, was auch daran liegt, dass wir uns in einer Art Zwischental befinden. Nur in einem Aspekt gibt es eine Konstante: Es geht weiter bergauf. Daran ändert sich auch nichts, als wir nach 9,5 km das Wildtiergehege Fragges auf 1.700 m üNN erreichen. Das Getier macht sich angesichts der permanenten läuferischen Invasion anscheinend rar. Dafür ist für uns in der Einsamkeit des Waldes der zweite Verpflegungspunkt eingerichtet.
Auf relativ komfortablem Schotter führt der Weg in langgezogenen Serpentinen von Fragges aus zwei weitere Kilometer durch beschauliche, aber auch wenig aufregende Natur dahin. Jenseits der 2000 Meter-Höhengrenze lichtet sich der Wald. Auf schmalem Wanderweg wechseln saftig grüne Almwiesen und steile Passagen durch den Nadelwald einander ab. Und näher rückt auch die Wolkendecke über uns. Trübe Aussichten, so gesehen,
Fast wie ein Paukenschlag mutet es da an, als sich nach 12 km plötzlich der Naturvorhang öffnet und eine gewaltige Szenerie offenbart. Direkt hinter dem Almhof auf der Prader Alm (2.054 m üNN), dem wir aus dem Wald kommend entgegenstreben, baut sich das Massiv der Ortlergruppe in seiner ganzen Mächtigkeit auf, schimmern die schnee- und eisbedeckten Gipfel der sich aneinanderreihenden Dreitausender mitsamt des die magische 4000er-Grenze nur knapp verfehlenden Hauptgipfels im Dunst. Bei Sonne und klarem Himmel mag der „Wow“-Effekt noch gewaltiger sein, aber im positiven Sinne wirkungsvoll ist auch dieser Anblick allemal.
Auf einem breiten, bequemen Naturweg geht es im offenen Gelände weiter, meist „König Ortler“, seitlich im Visier. Nur einen Kilometer weiter, an der Furkelhütte auf 2.150 m üNN, wartet die nächste Verpflegung. Die Hütte ist gleichzeitig Bergstation der aus dem Tal von Trafoi hinaufführenden Sesselbahn und insofern beliebtes Ziel für eine Höhenwanderung vom oder zum Stilfser Joch. Nurmehr schemenhaft hebt sich das Ortler-Gruppe im Wolkenmeer am Horizont ab. War es das jetzt schon? Die Vorzeichen machen wenig Hoffnung.
Ein ausgefallenes Hinweisschild markiert kurz darauf den Einstieg in den Goldseeweg. Und damit in einen alpinen Höhenweg der Extraklasse. Bei traumhaftem Wetter und entsprechender Traumkulisse durfte ich diesen Steig 2018 erleben und genießen. Weniger traumhaft sind die äußeren Rahmenbedingungen heute. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich die folgenden Kilometer nicht gar so profiliert in Erinnerung habe wie sie mir heute erscheinen.
Über Wurzeln und Fels führt das erste Wegstück durch ein Stück Natur, das auf mich mit seinen blühenden Büschen, krüppeligen Kiefern und wildem Gesträuch wie ein Stück hochalpiner botanischer Garten anmutet. Der steile, steinige Pfad durch karg-grüne Grasmatten im Folgenden hätte den Beinamen Sky Walk verdient. Überaus knackig ist der Anstieg und er kostet mich in dieser Höhe viel Kraft. Zumindest äußerlich immer kühler und windiger wird es, zunehmend tauchen wir ein in die herumwabernde Wolkensuppe, verlieren wir optisch den Kontakt zur Außenwelt und sind gefangen in dem, was die nähere Umgebung bietet. Und das ist für sich allein nicht allzu abwechslungsreich. Ich erinnere mich noch, wie aufregend es 2018 war, als mich hinter jeder Biegung aufs Neue die gigantische Bergkulisse der Ortlerkette überraschte. Jetzt überrascht mich allenfalls, dass hinter jeder Biegung eine neue Steigung zu warten scheint.
Allmählich mutiert der Steig zu einem Höhenpfad, der auf einem Niveau von etwa 2.400 Metern in stetigem leichten Auf und Ab durch den steile Bergflanke führt und sogar die eine oder andere kurze Laufeinheit ermöglicht. Allerdings wird der Pfad auch technisch herausfordernder. Einzelne Passagen führen durch kantige Geröllhalden, Konzentration und Gleichgewichtssinn sind gefragt, selbst die Schneetauglichkeit unserer Schuhe dürfen wir, wenn auch nur kurz, testen. An einigen Stellen kann man gar den Hauch des Abgrunds spüren, was umso wirkungsvoller ist, als man ihn nicht wirklich sieht.
Irgendwo in diesem Wolkensumpf, etwa auf 2.450 m Höhe, war es, wo wir anno 2018 via Oberer Tartscher Alm kräftig downhill gelotst wurden, um dann, unweit des einsamen Berggasthofs Franzenshöhe (2.190 m üNN), auf Asphalt die oberen 24 Kehren der Passstraße auskosten zu dürfen. Nicht wirklich unglücklich bin ich darüber, dass uns dieser Abstieg und die Passstraße erspart bleiben, weniger glücklich aber umgekehrt, in diesem Wolkenmeer gefangen zu sein.
Inmitten der nebeligen Bergeinsamkeit ist nach 16 km nochmals eine Verpflegungsstelle eingerichtet. Ein Helikopter hat alles hier heraufgeschafft. Nicht wirklich gemütlich ist jedoch der Aufenthalt und ich fühle mich durchgefroren, als ich mich etwas unmotiviert zur letzten Etappe aufraffe.
Weiter geht es durch die Geröllwüste. Steine, nichts als Steine, soweit das Auge reicht. Auch wenn es nicht wirklich weit reicht. Nur vereinzelt bringen Grasmatten und Distelkolonien etwas Grün ins Grau. Einige Wanderer sind unterwegs, vereinzelt auch in Gruppen. Nette anfeuernde Worte begleiten mich und bereitwillig wird Platz für mich gemacht. Der Wind nimmt zu und ein wenig habe ich das Gefühl, als ob der Himmel über mir aufhellt. Ob das etwas zu bedeuten hat?
Schneller und letztlich völlig unerwartet kommt die Antwort: Hinter einer Wegbiegung reißt der Wolkenvorhang unvermittelt auf und vor mir tut sich der Gebirgsstock des Ortlers in seiner ganzen Pracht und Mächtigkeit auf. Kaum glauben kann ich es, im gleißenden Sonnenlicht auf die Kette der aus ewigem Gletschereis ragenden Gipfel zu blicken, während im Tal die Wolkenberge wie riesige Wattebäusche hängen. Ich bin hin und weg, auch wenn ich weiß: Das sind einmalige Momente, die Wettersituation ist fragil und kann sich jederzeit ändern. Aber für die nächste halbe Stunde wird sie halten.
Vor dieser gewaltigen Hintergrundkulisse und dem neu gewonnenen Weitblick erscheinen die wüstenhaft kargen Schotterhänge der Rötlspitze, durch die der Goldseeweg weiterführt, in einem ganz anderen Blickwinkel, gewinnt unser Laufkurs eine ganz andere Dimension. Und wird der Lauf wieder zur wahren Lust, auch wenn die dünne Höhenluft ihren Tribut fordert.
Feststellen kann ich nun auch, dass es auf unserem Weg noch einiges mehr zu entdecken gibt. Denn sichtbar wird nun, dass der Goldseeweg auch in anderer Hinsicht Bedeutung hat: Als militärhistorischer Wanderweg. Hier verlief die sogenannte Ortlerfront im Ersten Weltkrieg. Reste alter Artilleriestellungen erinnern an diese harte Zeit. Thementafeln erklären die Geschichte. Tief in einer Mulde erblicke ich den für den Weg namengebenden Goldsee (Lago d‘Oro) auf 2.755 m üNN. So recht erschließt sich mir nicht, wie diese „Pfütze“ zu einem so geheimnisvollen Namen kommt. Ein wenig mutet das kreisförmige Gewässer wie ein Kratersee an, den wir in einem weiten Halbkreis umrunden.
Und noch etwas weckt meine Aufmerksamkeit: Jenseits des mächtigen Talkessels vor mir sehe ich die obersten Serpentinen der Passstraße, die sich aus der Tiefe des Val die Trafoi zur Passhöhe hinaufschrauben. Mit gewisser Freude stelle ich fest, mich höhenmäßig bereits auf dem Niveau des Stilfser Jochs zu befinden, was gleichzeitig bedeutet, dass steigungsmäßig keine größeren Herausforderungen mehr zu erwarten sind. Was aber nicht bedeutet, dass unser Ziel schon nahe ist. Schier endlos zieht sich unser Pfad in einem weiten Bogen durch die Bergflanke, um dann erst ganz allmählich Kurs in Richtung der nicht mehr sichtbaren Passhöhe zu nehmen.
In vollen Zügen genieße ich die immer neuen Perspektiven, die sich bieten. Eigentlich könnte man diese Passage in weiten Teilen hervorragend laufen, doch merke ich, dass trotz des Hochgefühls die Lust hierzu mäßig ausgeprägt ist, umso mehr die Lust, die Szenerie immer wieder fotografisch festzuhalten. Auch ein schier endloser Weg hat irgendwann ein Ende und hier wird uns auf einem Felspodest tatsächlich noch einmal Cola auf den letzten Metern angeboten.
Der Weg wendet sich vom Abhang ab und führt auf ein kleines Hochplateau mit Mauerresten. Auch wenn ich schon den lauten Klang der mir vom Start bekannten Kuhglocken durch die Bergeinsamkeit hallen höre, so bleibt mir bis zuletzt verborgen, wo genau denn nun eigentlich das Ziel ist. Der Name „Dreisprachenspitze“ suggerierte mir, dass es final noch einen Berg zu erklimmen gilt. Aber als sich die Realität offenbart, darf ich feststellen, dass der Abschluss des Rennens sehr viel kommoder ist.
Von einer Anhöhe blicke ich auf einmal hinunter auf eine stattliche Menschenmenge, die sich im felsigen Gelände in der Ferne um einen blauen Bogen und zwei große Baldachine verteilt, dahinter, auf einem Hügelchen thronend, die zinnengekrönte Miniritterburg des Rifugio Garibaldi. Das also ist die ominöse Dreisprachenspitze. Ihren Namen hat sie übrigens dem Umstand zu verdanken, dass sich hier die Lombardei, Südtirol und Graubünden und damit die drei Sprachen italienisch, deutsch und rätoromanisch treffen.
Ein Genuss ist, von hier aus das letzte Wegstück ins Ziel einzulaufen, wo jeder Finisher über Lautsprecher persönlich mit Namen begrüßt wird. Man sieht förmlich, wie die Last auf den letzten Metern aus den Gesichtern weicht. Eine Holzmedaille bekommt ein jeder Ankömmling umgehängt, Getränke werden unter einem der Pavillons ausgegeben. Kühl und windig ist es auf dem exponiert gelegenen Zielgelände, doch großes Bergkino ist das Panorama rundherum, die Serpentinen der Passstraße und den Passübergang tief unter uns eingeschlossen. Ein ganz besonderer Ort.
Schnell darf ich feststellen: Glück habe ich gehabt. Denn auf einmal schlägt das Wetter um. Dunkle graue Wolken ziehen rasant hinter dem Pass auf, der Wind zerrt heftig an den Pavillons, die Stimmung wird etwas ungemütlich, insbesondere, als kalter Regen einsetzt. Ich beeile mich, den Wanderweg gen Pass hinab zu steigen. Auch wenn das Wetter nun suboptimal ist: Ich freue mich schon auf Teil zwei meines Stilfser Joch-Abenteuers.
Das Rennen ist zu Ende, das Veranstaltungserlebnis aber noch längst nicht. Auf der Passhöhe des Stilfser Jochs drängen sich die Hotels, Restaurants, Bars und dazwischen noch mehr Touristen. Zumeist „easy“ mit dem Motorrad oder „hard working“ mit dem Fahrrad haben sie, jeder für sich, den Pass erobert und feiern dies nun mit Gleichgesinnten, auch wenn das Wetter im Moment etwas querschießt. Selbst mit dem Linienbus kann man hier heraufkommen. Allerdings nur zwischen Ende Mai und November – den Rest des Jahres hält der Pass Winterschlaf.
Um nach Prad zurück zu gelangen, hat man als Läufer 2021 verschiedene Optionen. Da der Veranstalter im Rahmen der Corona-Auflagen keinen eigenen gesammelten Rücktransport vorhalten darf, steht neben dem öffentlichen Bus oder einer privaten Abholung als kreativste Alternative eine Radabfahrt im Angebot. Genau dort, wo der der Wanderweg von der Dreisprachenspitze in den Pass mündet, wartet schon der zweirädrige Fuhrpark für diejenigen, die sich ihr eigenes oder ein Leihfahrrad vom Veranstalter auf die Passhöhe haben karren lassen.
Und so stehe ich kurz darauf, mit allem bekleidet, was ich an Wärmendem im Kleidersack zum Ziel habe transportieren lassen, behelmt und im Downhillfahren völlig unerfahren, quasi an der Abbruchkante der Passstraße und denke mir angesichts nassen Asphalts und Dauerregens: Hoffentlich geht das gut.
Eher vorsichtig lasse ich den 24,5 km-Straßentrip nach Prad anrollen und teste erst einmal das Vermögen meiner Bremsen ebenso wie das Ausfahren der engen Kurven. Aber ich sehe schnell, das geht gut und immer rasanter lasse ich es auf den Geraden von einer zur anderen Haarnadelkurve rollen. Herrlich ist, den kühlen Fahrtwind zu spüren, der allerdings teils so kühl ist, dass meine Finger klamm werden. Aber es macht vor allem eins: ungemein Spaß.
Bereits in den Jahren 1820 bis 1825 wurde die Passstraße überaus schnell erbaut, einst bestimmt, die Lombardei mit anderen Reichsteilen des damaligen österreichischen Kaiserreichs zu verbinden. Ihre ökonomische Bedeutung hat die Passstraße längst verloren, umso größer ist heute die touristische, wie die vielen Besucher eindrucksvoll belegen.
Von oben kann ich die 48 durchnummerierten Spitzkehren durchzählen. Ich spüre förmlich, wie die Luft in tieferen Lagen wärmer wird, was freilich auch daran liegt, dass der Regen nachlässt, ja gar die Sonne wieder wärmend zwischen den Wolken durchdringt. Ehe ich mich versehe, ist mein pitschnasser Regenanorak wie durch einen Föhn luftgetrocknet. Immer grüner wird das Tal, länger die Geraden, die ich dahin brause. Durch die kleinen Ortschaften Trafoi mit seiner so malerisch im grünen Talgrund thronenden Kirche und Gomagoi, vorbei am hoch im Hang gelegenen Stilfs geht es unserem Ausgangspunkt entgegen. 23 Kilometer sind vergangen, als ich das erste Mal in die Pedale trete und überaus entspannt zur Radrückgabestelle hinter dem aquaprad rolle.
Pralle Sonne bei 25 Grad Celsius erwarten mich in Prad. Bei einem Cappuccino im Straßencafe sitzend fällt jede Anspannung von mir ab, lasse ich das einmal mehr überaus erlebnisreiche Laufevent auf den „Pass der Pässe“ Revue passieren. Und beschließe: Da muss ich wieder hin. Umso mehr, als nächstes Jahr wieder ein voller Marathon im Programm stehen soll, erneut mit Ziel auf der Dreisprachenspitze und einem Kurs, der zu hundert Prozent in den Bergen verlaufen soll, ohne bei den Höhenmetern weiter in Extreme zu verfallen. Hört sich verdammt gut an.