1957, die Stadt hieß noch München Gladbach, da wurde eine Bank zur Finanzierung von Autokäufen gegründet. Zehn Jahre später übernahmen die Amerikaner die Bank, man wollte auch Waschmaschinen- und Möbelkäufe finanzieren. 1987 kam diese Bank unter das Dach der spanischen Santander Group, blieb aber Finanzierungsbank nach deutschem Recht. Firmensitz nach wie vor in Möchengladbach, nennt sich jetzt „Santander Consumer Bank Deutschland“. Dies ist unser Titelsponsor. Die Santander Bank, die die Kunden der SEB übernahm, ist eine Schwippschwester.
Der heutige Marathon geht aus den langjährigen Santander Spendenläufen hervor. Die Bank spendet seit je her für jeden Läufer 10 Euro, für den Marathon heute also mindestens 6000, insgesamt mehr als 30.000 Euro.
Die Erstaustragung des Marathons 2016 wurde wetterbedingt abgesagt, alle Läufer erhielten einen Freistart für 2017. Heute findet also die wirkliche, erste Austragung nach 25 Jahren statt, denn damals war MG schon mal eine großartige Marathonstadt. Die Startzeit um 16:30 und die vier Runden auf einem 10,5 Kilometerkurs, versprechen viele Zuschauer, bei denen ich sicherlich reichlich von meinem Lieblingsgetränk abstauben kann. Die Startunterlagen samt Duschgel, Flyer, Schwamm und Gummibärchen habe ich mir zuschicken lassen.
Vom HBF sind es 15 Minuten zum Geropark, einem sonst ruhigen Park unterhalb des St .Vitus Münsters, heute absolut hitverdächtiger Ort, weil alles an einem Platz: Startnummernausgabe, Dusche und Biertresen. Nur mein Weg zum Startort ist schockierend: Die ehemalige Altstadt von MG liegt recht hoch auf einem Berg, das schafft mich. In der Haupteinkaufsstraße, der Hindenburgstraße sind die Absperrmaßnahmen gewaltig, seit heute Morgen gibt es keine Möglichkeit mehr, von McD zur Nordsee zu wechseln, ich muss mich also mit einem BM mit Pommes begnügen, 100 Meter weiter kaufe ich mir zwei Getränkedosen.
Erzbischof Gero bekam 971 eine größer Aufgabe. Er brachte Prinzessin Theophanu aus Konstantinopel nach Rom, damit diese sich mit dem deutschen Kaiser Otto II vermählt. Nach dieser Aufgabe gründete er 974 diese Abtei hier, der Ort nannte sich München (von Mönche) wurde dann in den 50ern in Mönchen umbenannt. Das Münster, eine Klosterkirche, ist dem Veit (Vitus) geweiht. Vitus ist der Schutzheilige der Bierbrauer. Wer ihn anruft, wird von Krämpfen und Bettnässen verschont. Erstaunlicherweise habe ich ihn nie angerufen. Kann eh nicht telefonieren seit meiner Börsianerzeit, kann nur noch whatsapp. Und das kann Vitus nicht. Ins Bett kann ich heute auch nicht, ich fahre mit Dänemark-Klaus anschließend nach Lüttich, um dort am Beer-Lovers Marathon teilzunehmen.
Es wird viermal eine 10,5 Kilometer-Runde gelaufen. Es gibt Läufer, die verziehen jetzt das Gesicht. Ich finde das gut, ich will Party! Start vor dem Geropark, wir laufen im Uhrzeigersinn. Es gibt 5 Verpflegungs- und 5 Musikstationen, die erste gibt es gleich nach wenigen Metern vor der Zentrale der Santander (Consumer Bank AG). Dieser Ort ist ziemlich verwaist, total verwaist sogar. Nur Stehtische zeugen davon, dass Vorstandsmitglieder einen schönen Tag hatten. Ich kann es nachvollziehen, ich lag auch schon um diese Uhrzeit angeschlagen in der Truhe!
Das urige Kultrestaurant „Die Alte Ulme“ ist der wahre Mittelpunkt von Mönchengladbach. Hier sorgen die zwei DJ´s mit Spezialitäten von Elvis, Jonny Cash und Frank Sinatra für Schwung. Auf der rechten Seite sind die Biertische. Biertische, keine Bierbänke, und das auf 100 Meter in einem leichten Bogen angeordnet, darauf reihen sich die kühlen Biergläser der Gäste und bilden eine sündige Meile. Ich bin in der ersten Runde. Es wird die letzte sein, in der ich hier ungebremst vorbei laufe. Etwa bei km 5, bei der Aachener Straße, kommen wir nahe am Dicken Turm vorbei, einst Teil der Stadtbefestigung. Am Kapuzinerplatz leuchten große Videowände, DJ´s heizen uns mit Laufbeats ein.
Im Bereich der ehemaligen Altstadt wird es klasse. Vor uns ist nun die City Kirche am Alten Markt zu sehen, hier stand 400 Jahre lang das repräsentative Markttor. 1809 ließ Bürgermeister Boelling auf Druck der Franzosen das Tor niederreißen. Die Bürgermeister wurden während der 22jährigen Besatzungszeit „Maire“ genannt. Ehemalige Verwaltungsbezirke wurden geändert, alle Länder links des Rheines wurden in Departements unterteilt, Kirchenbesitz enteignet, Reliquienschreine eingeschmolzen, christliche Symbole entfernt, Klöster eingeebnet, Stadtmauern eingerissen, Brauerein stillgelegt. Geblieben ist eine grandiose Absperrung, hinter der die feierwütigen MG´ler hängen und mich nach vorne peitschen, als sei ich ein Kenianer! Klasse.
Geblieben ist auch das Münster St Vitus, das vor uns zu sehen ist. Der Legende nach hat Erzbischof Gero zusammen mit seinem Begleiter den Schädel des Hl. Vitus (Veits) und Reliquien weiterer vier Heiliger in einer Grotte gefunden, nachdem sie Engelsgesang gefolgt waren (höre ich gerade auch). Irgendwie kam dann auch noch ein Teil des Abendmahltuches hinzu, dessen passendes Gegenstück in Wien zu finden ist. Wissenschaftliche Untersuchungen dieses Stückes, das zu den Reichsutensilien Österreichs gehört, bestätigen die Echtheit und das Alter des Tuches.
Im siebenjährigen Rhythmus findet in Mönchengladbach nun die Heiligtums-Fahrt statt. Der Aachener Bischof öffnet dann den goldenen Abendmahlsschrein, um das heilige Tuch für die Gläubigen auszustellen. Ein Ereignis, das mich stark interessiert.
Doch wo sind die Reliquien vom Vitus? Vitus lebte auf Sizilien, bekannte sich früh zum Christentum, wurde von seinem Vater deswegen misshandelt. Einmal sperrte der Vater seinen Sohn zusammen mit mehreren Frauen in einen Raum ein, doch sieben Engel bewahrten Vitus vor dem Zugriff der Weiber. Als der Vater durch das Schlüsselloch schaute, um zu sehen, was abgeht, erblindete er. Hört sich für mich nicht direkt als Misshandlung an, ich bin aber auch Extremsportler. In der christlichen Lehre bedeutet diese Geschichte, dass Vitus frei von Sünde war, was von mir noch nie jemand behauptet hat.
Heiliggesprochen wurde Vitus wegen der Folterungen durch Kaiser Diokletian, die Vitus nicht vom Glauben abbringen konnten. Er starb im Jahre 304. Im Jahre 836 wurden seine Gebeine vom Kloster Saint-Denis bei Paris über Höxter auf dem Weg nach Prag (Veits-Dom) gebracht, um die Christianisierung im Osten zu unterstützen. Tatsache ist, dass auf diesem Weg zahlreiche Reliquien „abgezweigt“ wurden. Die Legende über den Fund des Schädels 150 Jahre später durch Gero ist also nicht ganz abwegig.
Nun geht unsere Reise am ehemaligen Abteigarten der Benediktiner vorbei. Hier stand einst ein Wachtturm mit dem passenden Namen Lauffenbergturm. Die Abteimauer bildete mit weiteren Schutztürmen einen sogenannten Zwinger, eine Umfriedung innerhalb der Stadtmauer zum Schutz der heiligen Reliquien. Die Reliquien haben die Säkularisierung von Napoleon in den Kellern des Münsters angeblich überstanden. Auch die Weltkriege. Vor einigen Jahren wurden die Tresore geöffnet, um die Reliquienschreine zu restaurieren. Von der Sichtung einer Schädelreliquie kann ich nicht berichten. Aber von dem kleinen Würfel, mit dem die römischen Soldaten um die Kleider des gekreuzigten Jesus gespielt hatten. Hm… beeindruckt mich!
Napoleon hat hier eine der wertvollsten Bibliotheken Europas geplündert. Die meisten Bücher der Benediktiner sind verbrannt, zwei fand man in Auktionshäuser in Amerika. Unsere Streckenführung entspricht dem Grundriss des ehemaligen Zwingers, um mal die emotionale Richtung zu wechseln.
Wir biegen in die Hindenburgstraße ab, links fand man 2003 das Fundament des Judentores. Das Judenviertel war nördlich des Tores. Gegenüber, also rechts der Laufstrecke, stand der Hoppenturm, der einen Durchlass zur Bleiche am Gladbach (glänzender Bach) bot, wo die Stoffe gebleicht wurden. Dies ist der fröhliche Teil der Laufstrecke. Es geht auf der breiten, abgesperrten Fußgängerzone recht steil hinab. Viele Zuschauer, sehr viele sogar für einen Ort, den kaum ein Marathonläufer ansteuern würde. Aber bitteschön: Wir sind 600!!
Die Bleiche befand sich außerhalb der Stadtmauer am heutigen Geropark, unserem Startort. Mönchengladbach wurde durch die Textilindustrie reich, dies erklärt vielleicht, warum es nicht zusätzlich als Wallfahrtsort reich werden wollte.
Zum Schutz der an der Bleiche ausgelegten Reichtümer der Stadt, der Leinen- und später der Baumwollstoffe, stand im Geropark der Bleicheturm. Die Bleiche war auf einer Insel inmitten des Gladbaches, der einen zusätzlichen Schutz der Altstadt bot und nur über eine schmale Brücke zu erreichen war. Der Gladbach fließt heute unterirdisch durch die normale Kanalisation, wird aber noch durch ein großes Schild am Ende der Viertelmarathonrunde angekündigt. Es ist angedacht, am Marathonparkplatz bzw. Geroplatz beginnend, den Gladbach, ähnlich den Freiburger Bächle, wieder ans Sonnenlicht zu bringen. Warum ich Eure Aufmerksamkeit auf diesen Teil der Geschichte lenke? Mönchengladbach war mal verdammt bedeutend, hatte keine Reklame nötig. Unglaublich viele Reliquien von Heiligen Menschen sind in dieser Stadt. Das sollte jeder wissen, der hier läuft. Sicherlich mache ich keinen Kniefall vor alten Knochen, davon habe ich selbst genug. Aber es ist mir eine verdammte Ehre, hier zu laufen.
Zweite Runde, es geht wieder über die Hindenburgstraße zum Vier-Sterne-Shoppingcenter Minto, das vor zwei Jahren eröffnet wurde. „Minto“ ist Dialekt und bedeutet „meins“. Zumindest aus meiner Sicht „meins“ ist die Musik aus den 80er Jahren und der Song von Michael, bei dem ich… Leute, damals waren die Mädchen noch unter zwanzig! Damals habe ich meinen Windmühlentanz optimiert!
Der Schillerplatz liegt im Gründerzeitviertel. Hier wird Musik aus den 60ern und 70ern gespielt. Die Bezeichnung „Gründerzeit“ geht auf die Zeit nach dem Krieg von 1871 zurück. Frankreich musste enorme Reparationszahlungen wegen der 22jährigen Besatzungszeit zahlen. Die Geldschwemme löste im neu gegründeten Deutschen Reich eine Vielzahl von Firmengründungen und Spekulationen aus, ähnlich der Zeit des „Neuen Marktes“ 1997 im Zuge der New Economy.
Über die Bismarckstraße geht es zurück zum Startgelände. Dort ist am Geropark der Staffelwechsel, dort werde auch ich in nach der vierten Runde wieder in das Areal der ehemaligen Stadtbefestigung eindringen, von dem ich im nächsten Jahr berichten werde. Jetzt aber konzentriere ich mich, ich darf nicht falsch laufen. Dafür sorgen glücklicherweise die Helfer. Danke, perfekt.
Die Leute hier sind feierwütig und ich bin es auch. Alle zusammen sind wir marathongeil! Die haben hier aufgerüstet, als sei nach meiner Erscheinung Weltuntergang. Ich weiß nicht, woher die Kinder wissen, dass Marathonläufer Wasserschläuche lieben, ich weiß nicht, woher Eltern wissen, dass Joe spezielle Verpflegung braucht.
Wir werden auf die Waldnieler Straße geleitet, die um die ehemalige Bleiche führt. Der Geroweiher sammelt das restliche Oberflächenwasser des ehemaligen Gladbaches. Links ist irgendwo das Fußballstadium.
Auffallend bei diesem Marathon sind die zahlreichen Hotspots und Quickspots, wie man die Punkte nennt, zu denen die Zuschauer gelockt werden. Es gibt Hüpfburgen, Riesenrutschen und sonstige Verlockungen, mit dem man die Bälger beschäftigen kann, damit man sich den unglaublich vielen Fress- und Trinkbuden widmen kann, um uns dann lautstark anzufeuern. Das ist gut gemacht.
Liebe Leser, dieser Lauf hat gewaltiges Potential, sticht jeden Wald- und Wiesenlauf aus. Auf den Großbühnen, die die Orga aufgebaut hat, sind zwar noch Plätze frei, aber mich fasziniert der Wille, hier eine marathonale Party aufzubauen. Einfach mal im Hinterkopf behalten! Von mir ein klares RECALL !
Laufberichte | ||||||
04.06.16 | Aufgeschoben ist nicht aufgehoben |
Peter Ickert |