Die Starterliste hat einen Altersdurchschnitt von gefühlten 55 Jahren. Hier in Twisteden, findet die inoffizielle Meisterschaft der alten Knacker statt. Älterster Knacker ist Karl, Jahrg. 1935, zweitältester der „General“ Karl- Ernst. Mit Jahrgang 1940 folgt Manfred, der heute eine beachtliche Zielzeit von 4:38 hinlegen wird. Horst Preisler ist nicht mehr dabei, der 80jährige hat hier 2015 seinen letzten Marathon absolviert.
Älteste Knackerin, Jahrgang 1940 ist Siegrid Eichner, die heute eigentlich ihren 1938 Marathon/Ultra laufen sollte, aber sie kann die Füße nicht stillhalten, hat schon wieder 25 mehr als geplant. Keine Frau auf unserem Planeten ist mehr gelaufen. Peter sagt, die Alten sind schon vor ner Stunde gestartet, damit sie am Ende der Veranstaltung nicht gänzlich alleine laufen müssen.
Bei den Jüngeren sieht es so aus: In der Altersklasse MHK (Mindesthaltbarkeitsdatum) und WHK (Wechselndes Halbbarkeitsdatum) tretet nur ein Dutzend Läufer an, wer es genau wissen will, das sind die unter 35jährigen.
In der Presse hieß es: „Der Ortsvorsteher wird pünklich um 10 Uhr den Startschuß geben“, aber das ist bei dem heutigen Andrang nicht möglich. 500 Läufer sind gemeldet, neuer Rekord. Nach-, oder Ummeldung gibt es nicht. Die brauchen alte Marathonläufer auch nicht, denn sie werden nie krank, sind auch unabhängig vom Trainingszustand immer in der Lage, einen Marathon zu finishen. 24 Euro Startgeld ruft keine potentiellen Erben zum Protest auf die Laufstrecke. Es ist wunderbares Wetter, da bleibt ein Erbe im Bett. Und heute ist auch kein Tag zum Sterben.
Die Mitglieder des LLG Kevelaer haben alle Hände voll zu tun. Gerne erinnere ich mich an 2010, als der Schneeorkan Daisy wütete und Deutschland lahmlegte. Marathonchef Peter Wasser präparierte damals selbst die Piste, was die Presse zu loben wusste: „Mit Wasser gegen Eis und Schnee!“
Erstmals stellen die Radsportler der DJK Twisteden die Streckenposten. Das werden sie blendend machen, allerdings fehlt dieses Jahr der Jenever. Im Festzelt ist es mir zu stickig, es sind zuviele Menschen dort, ich muss mich konzentrieren. Draußen ist es mir zu kalt, der norddeutsche Wind ist unangenehm. Der strahlend blaue Himmel kommt unerwartet, auf der Autobahn hat es noch heftig geregnet. Ich habe tatsächlich nachgedacht, umzudrehen. Nun blendet die Sonne frühlingshaft, verheißt einen goldigen Lauf.
Moderator Laurenz Thiessen steht auf der Ladefläche des LKW´s mit der großen Werbung für Kevelaer und macht seinen Job hervorragend. Er hat zu fast jedem Läufer etwas zu sagen, seine Wortspielerein sind echt gut. Mich hat er glücklicherweise nicht in seiner Liste, so kann er auch keinen Kommentar abgeben, als ich den Tisch mit meiner Eigenverpflegung bestücke.
Eigenverpflegung ist eigentlich nicht nötig, es gibt alle 3 Km Verpflegung, wobei der Honigkuchen zu empfehlen ist. Schon am Start liegt er in leckeren Stückchen aus, Wasser und Tee sind mundgerecht aufgewärmt, als hätte Mama nochmal das Fläschen mit der Wange gecheckt. Es ist der erste Marathon in diesem Jahr, den ich ohne Rucksack laufe. Da fühle ich mich wie die Performance-Künstlerin Milo vor dem Kölner Hauptbahnhof.
Um 10.15 schickt der Ortsvorsteher von Twisteden uns Performancekünstler bei blendend-schönem Wetter auf die Strecke. „Ortsvorsteher“ hört man selten. Kevelaer und nicht Twisteden stellt halt den Bürgermeister der Gemeinde.
Eine Laufrunde beträgt 6 Km. Da könnte man statt Eigenverpflegung auch Wechselkleidung deponieren. Nach jedem Kilometer wird die gelaufene Distanz angezeigt. Das Ermitteln der absolvierten Kilometerzahl ist also einfach, man muss nicht die Runden zu zählen und muss nicht multiplizieren. Das ist gut, denn der IQ eines Marathonläufers sinkt angeblich um 10 Punkte während eines Laufes.
Der Fanclub am Gerberweg ist der Hit, seit 2013, als hier das erste Mal die Strecke langführte. Mit Trommelwirbel und süßen Cheerleadermädels sind die Fans inzwischen Profis. Ich beobachte bei jeder Runde, wie sich die Getränkebehälter leeren, andere immer voller werden. Ich könnte mich in jeder Runde outen, hätte dann aber besser einen Frühstart machen sollen. Auf dem folgenden Weg muss man fast aufpassen, nicht in Holland zu laufen, denn rechts vom Weg sieht es aus wie links vom Weg.
Nach dem Fanclub am Gerberweg kommt der Saustall. Der riecht naturgemäß schweinisch. Eigentlich rede ich nicht viel während des Laufens. Aber hier atme ich sogar nicht mehr, presse die Lippen zusammen und werde zum Apnoeläufer.
Auf Höhe der Schafe riskiere ich es einzuatmen. Es riecht jetzt nach Silage, dem Sauerkraut fürs Vieh. Grundsätzlich kann man alles Grüne zu Silage machen, man muss es nur luftdicht verpacken, damit die Gärung der Milchsäurebakterien und nicht die Gärung sauerstoffliebender Bakterien einsetzt, sonst gäbe es Bier.
In der folgenden Kurve sind liebe Aufpasser, die Süssigkeiten anbieten. Die langbeinige Schönheit klatscht immmer voller Begeisterung, wenn ich vorbeibrause. Nach einigen Runden merke, dass sie auch für Karl begeistert klatscht.
Vier Mädchen mit Sektgläsern in der Hand wandern stundenlang die Strecke ab, machen Performance vom Feinsten, jubeln, brüllen und olawellen, dass die Freudenfunken überspringen. Die Mädchen gehören aufs Titelbild!
“Tussen Twee Steden” (zwischen zwei Städten) bedeutet der Name des Ortsteils Twisteden, womit wir jetzt endlich genau wissen, was “Tussen” heißt und wo die Mädels herkommen. Die Handynummern der besten weiblichen Fans die wir, abgesehen von Werner, je hatten, hat mir Vera übermittelt. Ja, Werner ist großartig, absolvierte bisher über 140 Marathons, immer in Begleitung seiner zwei marathonbegeisterten Damen. Bewundernswert, denn wir kennen das nur so, dass nach zwei gefinishten Marathons die Fanbegeisterung endet. Auf Parties wird man eventuell noch routinemäßig und um ins Gespräch zu kommen, angesprochen: „Und, läufst du immer noch so viel?“
Der Wilhelm verstopft mit seinem Kameraden, wie es für Holländer üblich ist, die Laufstrecke auf der gesamten Breite. Nicht schlimm, ich bin schlank, ziehe mit Höllenspeed vorbei. Wilhelm ist ein Klassiker, hat über 1400 Marathon/Ultras in den Beinen. Réné, Jahrgang 1972, hat über Tausend, Keule knapp drunter, Klaus Peter kommt auf 600. Sigrid natürlich, hält weiter ihren Weltrekord, sie kämpft aber sichtlich.
Es folgt der VP mit Pinkelmöglichkeit. Die gibt es auch 50 Meter weiter am Transformator, doch nur mit ungutem Gefühlt. Urin soll hochleitend sein. Am Pferdestall steht ein riesiges Wohnmobil, bietet auch gute Deckungsmöglichkeit. Die Pferde schauen neidisch zu. Der folgende Wald ist zu licht, die Sonne leuchtet jeden geheimen Fleck aus.
Es gibt schon einige Ausfälle, schliesslich ist es nach jeder Runde sehr verlockend aufzuhören. Es bleibt dann nur noch ein kleines, sandiges 195 Meter langes Stück, dann könnte man ins warme Festzelt.
Sivabalan kommt aus Mumbai, wäre auch gerne im warmen Festzelt, liegt jetzt aber genau im gewichteten Altersdurchschnitt, finisht unter 6 Stunden. Es gibt natürlich auch schnelle Läufer, nämlich sieben, die in weniger als drei Stunden finishen. An die hänge ich mich jetzt dran. Ich bin fit, eine persönliche Jahresbestleistung ist drin!
Henning wartet auf mich, will die letzte Runde mit mir laufen. Er ist gestern von Duisburg hier her gelaufen, 47 km. Mit seinem besten Antanztrick schliesst er zu mir auf, wendet beim Saustall wieder, um dann mit einer Kollegin zusammen nochmals durch die wunderbare Landlust zu laufen.
Tatsächlich beende ich diesen Marathon vier Minuten vorm Laufältesten, vor Karl. Der kann sein Glück kaum fassen, ich auch nicht. Die Massen werfen mich in die Luft, feiern mich und meine hervorragende Performance. Im Fallen umgreife ich meine hochverdiente, goldene Medaille. Ich habe heute alles gegeben, fast hätte ich geheult!
Männer
1 Diekmann, Bernd (DEU) Lauffreunde HADI Wesel 2:53:41
2 Hubbert, Sascha (DEU) LG Alpen 2:56:18
3 Concha, Fernando (ESP) LG Alpen 2:56:18
Frauen
1 Offermann, Eva (DEU) TV Konzen 2:57:59
2 Dr. Hatzmann, Hendrike (DEU) SG Sparkasse Aachen 3:23:08
3 Seidel, Renate (DEU) (Eppstein) 3:31:59
385 Finisher