Jubiläum über Jubiläum! Erst vor einer Woche feierte Ich mit tausenden Hannoveranern die Jubiläumsausgabe des 25. Marathon. Und nun sind meine Frau und ich nach Hamburg unterwegs, um hautnah den 30. Haspa Marathon mitzuerleben. Gerade unterhalten wir uns übers Wetter. „Hamburg? Wird Regen geben“, so die nüchterne Antwort meiner Frau. Ich blicke aus dem Autofenster. Morgendämmerung, ein wenig Nebel, kaum Wolken am Himmel. Eigentlich verspricht es, ein richtig schöner Tag zu werden. Schietwetter? Kaum vorstellbar. Hamburg, meine Perle, wir sind bald da!
Von Hannover kommend wechseln wir gerade Höhe Seevetal auf die A1, denn der Veranstalter des Haspa-Marathons hatte bereits im Vorfeld auf der Webseite über die Vollsperrung der A7 informiert. Ich lasse meine Gedanken um die weltberühmte Hansestadt kreisen. Es soll ja immer noch Landratten geben, die behaupten, Hamburg läge am Meer. Bei Ankunft und Parkplatzsuche unweit der Westseite des Hauptbahnhofes fällt mir zu diesem Thema die Befragung eines Kamerateams in der Münchner Innenstadt ein, welche vor Jahren mal im Fernsehen lief. Die erste Frage lautete: Liegt Hamburg am Meer? „Freili“, so die unumstößliche Antwort von über 90% der Befragten. Hätte ja einen mordsgroßen Hafen. Und die Spezialität Hamburgs sei ja wohl Fisch. Und laut der EU läge Hamburg ja wohl schon seit acht Jahren am Meer. Denn bei der Elbe handele es sich, ebenso wie auf anderen Flüssen, die zu Überseehäfen führen, um ein Meeresgewässer und nicht um ein Binnengewässer der Europäischen Union. Freili...darüber lacht bloß der Hamburger und beißt genüsslich in den Pannfisch. Auf diesen hätte ich jetzt im Übrigen auch Lust. Stattdessen stehe ich gerade geduldig in der Bahnhofstoilette und halte die Kanüle in die Keramik.
Per U-Bahn geht’s direkt zu den Messehallen. Dort angekommen, folgen wir der Teilnehmermasse über Holstenglasics bis zu Eingang Tor B6. Die meisten tragen bereits den hübschen roten Seesack, hatten Ihre Startunterlagen also bereits am Vortag abgeholt. Jawohl, am Vorabend hatte ich mir auf der Webseite des Veranstalters die „10 Punkte zum entspannten Marathon“ durchgelesen. Sachen wie „Hole Deine Unterlagen so früh wie möglich ab“, „Sei am Sonntag rechtzeitig auf dem Messegelände“ oder „Verabschiede Dich von Deinen Liebsten“ konnte ich mir prima einprägen. Oft wurde in diesem Zusammenhang geraten, den Messeeingang zu Tor B6 zu nutzen. Ich spreche eine Servicekraft an, die vor der Halle steht. „Abholung Startunterlagen? Gleich da vorn, Halle B4!“. Gutgelaunt betrete ich die Halle, schnell wird jedoch klar: hier werden die Starterbeutel abgegeben! Ich studiere umgehend das Marathon-Infoboard vor der Halle. Da steht was von Halle A4. Und Abholung bis spätestens 8 Uhr. Das war vor fünf Minuten. Ich frage erneut die Servicekraft, was sie davon hält. „Sorry, kein Plan, da muss ich telefonieren…“. Wenigstens etwas kann ich von der 10-Punkte-Liste abhaken: meine Frau. „Ich renn mal eben nach A4. Und falls wir uns nicht mehr sehen sollten...“, lasse ich den Satz offen, gebe Ihr einen letzten Kuss und renne los.
Knapp eine Stunde später stehe Ich in Startblock H und wandere immer noch etwas aufgescheucht zwischen den übrigen Läufern hin und her, in der Hoffnung, meine Lieben irgendwo zwischen den hunderten von Zuschauern entlang des wahnsinnig langen Startbereiches zu entdecken. Während der Moderator Publikum und Teilnehmer anheizt, muss ich noch an meinen unfreiwilligen Warm-Up vor gut einer Stunde denken: Frau und Kind zurück gelassen, dann der Sprint von Halle B6 über die St. Petersburger Straße Richtung Messeeingang Mitte. Verzweifelte Suche nach Halle A4. Vor dem gläsernen Eingang ein gestresster, stämmiger Türsteher, der mich ausnahmsweise noch durchlässt.
Ein paar einsame Korridore weiter eine halboffene Tür, ich husche hindurch, stehe in einer gigantischen Messehalle. Hier sieht es aus wie Chaos nach dem Ausverkauf, die Aussteller vom Vortag haben sich längst aus dem Staub gemacht. Einige Teilnehmer haben sich hierher zurückgezogen.. oder versteckt. Die machen wenig Anstalten, laufen zu wollen. Sie chillen auf dem Boden, starren ins Leere oder – ich kann kaum glauben, was ich da sehe – spielen Mensch-ärgere-Dich-Nicht auf verlassenen Bierzeltgarnituren. Die Halle wirkt ansonsten wie ausgestorben. Leichte Panik macht sich in der Magengegend bemerkbar. Barsch frage ich eine Läuferin nach den Startunterlagen. „Hvad du vil?“ oder so. Dänin. Ein anderer liegt mit Sonnenbrille auf dem Messeboden, zeigt in eine bestimmte Richtung. Ich habe wohl nochmal Glück gehabt, denn am Ende der Halle – versteckt hinter einer Trennwand - erhalte Ich Seesack und Unterlagen. Hier versammeln sich gerade die Pacemaker. Na, hier hätte man sie am allerwenigsten vermutet. So, wo war nochmal die Kleiderbeutelausgabe? Genau, Tor B6, Halle B4. Kommt mir bekannt vor.
Als die Ballons am Horizont aufsteigen, will ich am liebsten losrennen. „Und da laufen Sie looos, schaut Sie euch an!“, schreit der Moderator, begleitet von epischer Musik und dem Jubel tausender Zuschauer. Ich bin gespannt wie ein Flitzbogen und drängele mich nach vorn, werde aber von einer Absperrung gebremst. Die Teilnehmer sind bereits aufgeheizt von Sprecher, Musik und Dauerfeuer der jubelnden Zuschauer. Ich blicke mich langsam um und lasse die Amphitheater-Stimmung auf mich einwirken.
Die Läufer von Block G entfernen sich von uns, die Lücke wird größer und größer. Ich fühle mich immer noch elektrisiert, bin angespannt. Mittlerweile sind gut zehn Minuten vergangen, ich drehe innerlich Däumchen. Juhu, endlich geht es los, auch wir dürfen langsam los marschieren, der rote Teppich und die Startmatten kommen in Sichtweite. Erst nach dreizehn Minuten laufe Ich über die Startlinie und weiß jetzt schon, dass ich mich auf eine besondere Sightseeingtour quer durch Hamburg freuen darf.
Entlang der Glacischaussee nimmt das ununterbrochene Dauerfeuer der jubelnden Menge am Streckenrand kein Ende. Die vielen Eindrücke prasseln auf mich ein und verursachen trotz der morgendlichen Frische eine Gänsehaut am ganzen Körper. Einen Marathon dieser Größenordnung hatte ich bislang nicht erlebt. Zu meiner rechten entdecke ich den Hamburger DOM. Rund 2,4 Millionen Menschen hatten das einmonatige Volksfest in diesem Jahr besucht.
Orkantief Niklas brachte den Hamburgern im Vormonat zwar viel Regen, das trübte aber nicht deren Stimmung. Mein Blick wandert kurz nach oben und ich frage mich, ob es heute trocken bleibt. Keine Zeit, sich verwässerte Gedanken zu machen. Ein Kind hält ein Schild mit der Aufschrift „40 km to Beer“ hoch, während ich über die Reeperbahn renne. Unterm Strich betrachtet könnte man sich vormittags um halb 10 was anderes vorstellen wie Bier. Ende März wurde nach einer Razzia auf der heißen Meile Hamburgs bekanntestes Bordell (80 Prostituierte auf vier Etagen) geschlossen. Hunderte Touristen beobachteten, wie das Laufhaus gestürmt wurde.
„Mario, ich will dich schwitzen sehn!“, ruft mir jemand zu und schreckt mich aus meinen Gedanken. Schon ist der Quickie vorbei, denn die Strecke verläuft nun durch den Bezirk Altona, an schönen Altbauten entlang, unter anderem durch die "Holländische Reihe". Diese Straße war die erste Tempo-30-Zone in einer Hauptverkehrsstraße in Deutschland. Immer weiter führt der Straßenverlauf nun Richtung Westen. Es wird grüner, schöner, prächtiger. Ich winke den vielen Menschen entlang den Straßen, auf den Balkonen und Vorgärten zu. „Hamburg, ihr seid spektakulääär!“, rufe ich, klatsche massenweise Hände ab und werde mit Jubelschreien belohnt.
Die Elbchaussee führt die Läufer wieder zurück in die Innenstadt. Seit einigen Jahren machen sich Traditionalisten Gedanken über die wachsende Disharmonie von Hamburgs bester Adresse. Die Einheitsarchitektur von Neubauten sorge wohl neben prächtigen Herrenhäusern für Stillosigkeit. Nichtsdestotrotz genieße ich den Lauf über diesen Boulevard, denn heute sind WIR die Helden und bauen uns die Welt, wie sie uns gefällt.