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Laufberichte

Nur der Sieger hat mich überholt

10.05.09

Während Jahren war Genf so etwas wie mein zweiter Wohnort. Die Arbeit brachte es mit sich, dass ich die Stadt und die Umgebung in allen Jahreszeiten und allen Wetterlagen zu Gesicht bekam. Wenn die übliche Unterkunft schon belegt war, durfte ich in den Häusern nächtigten, deren Namen von der höchsten Anzahl Sterne geschmückt werden, und mit den großzügigen Spesen ließen wir es uns nach getaner Arbeit in einem der vielen kleinen, feinen Restaurants kulinarisch gut gehen. Unzählige Male sammelte ich außerhalb der Stadt, auf den Spazierwegen der träge dahinfließenden Rhône, Kilometer um Kilometer, beseelt von dem Wunsch, eines Tages auch in die Gilde der Helden aufgenommen zu werden, die es über die Ziellinie eines Marathons geschafft haben.

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. So habe ich es in der Schule gelernt, damals, als mir die antiken Helden staubtrocken zwischen den Buchdeckeln begegneten und Marathon ein weiterer Name in der endlos zu paukenden Liste von Orten und Namen war, die angeblich einen entscheidenden Einfluss auf unser heutiges Dasein hatten.

Und wie sich die Zeiten ändern: Heute setzte ich meinen Fuß nicht am Flughafen Cointrin auf Genfer Boden, sondern am Bahnhof Cornavin. Statt Kurs auf eine Edelherberge zu nehmen, melde ich mich am Empfang der Jugendherberge, wo ich mich für umgerechnet schlappe zwanzig Euronen in die Daunen fläzen kann. Dafür muss ich nicht einsam, still vor mich herkeuchend außerhalb der Stadt meinen läuferischen Formstand verbessern, sondern darf als mittlerweile schon recht geübter Läufer mitten in der Stadt einen Marathon nicht nur über die Runden bringen, sondern sogar genießen.

Da ich ausnahmsweise schon am Vortag vor Ort bin, kann ich in aller Ruhe ins Village Marathon. Wer diese französische Bezeichnung auf Deutsch sagen will, muss Marathon vor Village stellen und das Ganze einfach englisch aussprechen… Soll noch einer sagen, Sprachen seien schwierig!

Ich hole also meine Startnummer ab und schaue mich in der Boutique um, einer Mini-Expo, ob jenseits des Röstigrabens neue Erkenntnisse, Studien und dazugehörige Produkte der Marathonforschung bestehen. Es könnte ja sein, dass die in einer doppelten Acht statt übers Kreuz eingewebten elastischen Fäden in der Hinterbackenstütze einer mit Silberionen behandelten High-Energy-Unterhose auf dem zweiundvierzigsten Kilometer noch eine Steigerung von vier Hundertstel bringen. Auf meinem Radar taucht nichts dergleichen auf; nein, im frankophonen Teil der Schweiz ist das Verhältnis zu solcherlei Spinnereien entspannter. Ich glaube, hier bin ich als Genußläufer richtig.

Auf einem Abendbummel durch die Stadt suche ich nach Spuren, welche die Zeit seit meinen Aufenthalten in der Calvinstadt noch nicht verwischt hat und schwelge in Nostalgie. Immer noch – wie seit Jahrzehnten schon – wird im gut besetzten Restaurant Café de Paris ein einziges Gericht angeboten. Nicht gerade eine klassische Mahlzeit für den Vorabend eines Marathons und schon gar nichts für Vegetarier. Herr Boubier hat hier 1930 die unübertreffliche Café de Paris-Butter kreiert. Am liebsten würde ich den Salat und die Pommes Allumettes zusammen mit der sämigen Sauce aber ohne das Entrecôte bestellen. Aber da man mir das als Provokation auslegen könnte und ich mich auf keine Auseinandersetzung einlassen will, suche ich mir ein anderes Lokal.

Obwohl der Start sehr früh angesetzt ist, kommt es mir vor wie Ausschlafen. Die Lage der Jugendherberge ist dafür perfekt: Zwei Fußminuten zum Start.
Dieser erfolgt in präsidialer Atmosphäre, auf dem Quai Wilson, benannt nach Woodrow Wilson, dem 28. Präsidenten der USA und Nobelpreisträger. Das Palais Wilson wirkt aber wie ausgestorben. Am Sitz des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte sind alle Storen geschlossen, der Laden ist dicht und widerspiegelt damit die Sonntagmorgenstimmung in der Stadt. Wäre heute nicht Marathon, wäre mindestens bis Mittag tote Hose in Genf.
Nebenan ist das Präsidentenhotel stilgemäß mit der maximalen Sternenzahl geschmückt. Es ist nur eine der zahlreichen noblen Herbergen am Nordufer des Genfersees, an welchen wir vorbeikommen.

Mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit setzt sich das Feld in Bewegung und ich mache mich auch auf den Weg,  um das erste Mal Genf auf diese Weise zu erleben.

Der Jachten im kleinen Hafen liegen unprätentiös vertäut und täuschen darüber hinweg, dass auf der anderen Seite des Sees der Sitz des Yachtclub Société Nautique de Genève liegt, welche den derzeitigen Inhaber der prestigeträchtigsten Segeltrophäe, dem America‘s Cup, beheimatet. Ausgerechnet Binnenländer holten sich erstmals seit dem Eröffnungsrennen von 1851 den Cup nach Europa zurück. Na, also, da sollte doch in Genf auch für einen Marathon-Normalo wie mich etwas drin liegen!

Gleich nach dem Hafen erstreckt sich eine Mole weit in das Seebecken hinaus, die Badeanlagen „Les bains de Paquis“ mit ihrem Leuchtturm an der Spitze. Als in den Achtzigern der vermeintliche Fortschritt einkehren sollte, bildete sich eine Bürgerbewegung und bekämpfte den vom Stadtrat beschlossenen Abriss und Neubau mit den Mitteln der schweizerischen Demokratie, welche nicht immer einfach zu verstehen ist. Im Nu waren 9000 Unterschriften für das Referendum gesammelt. In der dadurch erzwungenen Volksabstimmung gingen die Pläne der Politiker mit 72% Nein-Stimmen baden. Auch wenn es auf Anhieb nicht den Anschein macht: Trotz ihrem multikulturellen Erscheinungsbild ist Genf eben doch urschweizerisch.

Noch ist die erste Kilometertafel nicht aufgetaucht, gibt es nach dieser gemeinschaftskundlichen Lektion eine Dosis geschichtlichen Anschauungsunterrichts am Rotonde Beau Rivage. Hinter den akkurat in Kegelform geschnittenen Büschen steht  eine Statue mit schlanker Silhouette. Sie wurde im Gedenken an Elisabeth, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, bekannt als Sissi, errichtet. Vor 111 Jahren wurde „Beau Rivage“, das schöne Gestade, für sie zum Ufer des Jordans, als sie hier von einem Anarchisten niedergestochen wurde. Sie wurde zurück in ihr gleichnamiges Hotel gebracht (damit es keine Missverständnisse gibt: es heißt nicht Jordan!), wo sie kurz darauf verstarb. Wer es K.u.k. mag und über das nötige Kleingeld verfügt, kann in ihrer damaligen Suite logieren. Der Hinweis, dass die Renovation des Hauses acht Jahre in Anspruch nahm, deutet an, in welcher monetären Gewichtsklasse man dafür eingereiht sein muss. 

Anschließend geht es nochmals mit einem Hauch von Morbidität in Geschichtsunterricht weiter. Wir passieren das Monument Brunswick bewundern, in dem sich das Grab des exzentrischen Herzogs Karl II. von Braunschweig befindet, der die letzten drei Jahre seines Lebens in Genf verbrachte. Mit seinem Tod im Jahre 1873 hinterließ er sein gesamtes Vermögen der Stadt Genf mit der Bedingung, dass man ihn in einem Mausoleum begrabe, welches ein exaktes Ebenbild der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Scaligeri-Familiengruft in Verona sei.

Beim Abfluss des Genfersees geht es auf der Pont du Mont Blanc ans andere Ufer, an der Blumenuhr des Jardin anglais und einer weiteren Edelabsteige vorbei. Durch eine leere Straße mit geschlossenen Geschäften von Luxusgütern geht es zurück auf die Place Bel-Air und zur Tour de l‘Ile. In früheren Zeiten galt ihre Turmuhr allen Uhrmachern am Platz als Referenz für die exakte Uhrzeit. Das Zifferblatt inspiriert die Uhrmacher auch heute noch. Anleihen davon sind in einer Uhrenserie der ältesten durchgehend aktiven Uhrenmarke zu finden. Doch auch bei den Zeitmessern ändern sich die Zeiten. Erstmals setzt eine Marke der Haute Horlogerie bei diesen Modellen Technologien des Sicherheitsdrucks ein, die bisher Banknoten und anderen fälschungssicheren Dokumenten vorbehalten waren, und präsentiert die derzeit sichersten Zifferblätter der Branche.

Wir lassen die Tour de l’Ile hinter uns und kommen schon wieder ans andere Ufer. Und weil es so viele Brücken gibt, begeben wir uns einen halben Kilometer später bei der nächsten Gelegenheit wieder auf linke Seite. Dieses Bauwerk mit Schleuse ist neueren Datums und dient dazu, den Pegel des Sees zu regulieren und Strom zu erzeugen. Um einen besseren Blick auf das Bâtiments Forces Motrice (BFM) zu erhalten, laufen wir einige Meter in Richtung See. Dieser klassische Industriebau zur Nutzung der Wasserkraft wurde aufwändig renoviert und wird als Theater genutzt. Die Inszenierung des ersten Verpflegungspostens ist perfekt, der Ort, an welchem er steht, könnte keinen besseren Namen tragen. Er befindet sich nämlich an der Place des Volontaires. Was wäre ein Marathon ohne all die zahlreichen Freiwilligen? Auf den T-Shirts der freiwilligen Helfer steht aber nicht Volontaires sondern Bénévoles, im deutschsprachigen Teil der Schweiz trügen sie vermutlich die Aufschrift Staff.

Von hier an habe ich es in Sachen Stadtbesichtigung für einen Moment nicht mehr so streng, weil uns die Strecke durch einen unspektakulären Stadtteil führt. Auf einem kurzen Abschnitt sind ein paar Zuschauer am Streckenrand, am lautesten werden die Läufer aber von den Streckenposten unterstützt. Beim sechsten Kilometer sind wir wieder am Ufer eines Gewässers, Diesmal ist es die Arve, ein Zufluss der Rhône. Und weil es auch hier nicht nur eine Brücke gibt, setzen wir auch hier den Fuß darüber. Bald schon kreuzen uns die Schnelleren, bevor sie sich wieder auf die andere Seite der Arve begeben. Bis wir so weit sind, können wir bei mehreren Autohäusern eine große Palette an Neu- und Gebrauchtwagen begutachten und den Sitz der Uhrenmanufaktur mit dem höchsten Markenwert umrunden. Die Fans des Genève-Servette Hockey Club können zuerst das Heim ihrer Mannschaft grüßen, danach auf der kurzen Begegnungsstrecke wieder weitere Marathonteilnehmer.

Dann gehen auch wir über die nächste Brücke. Sie bringt uns zum Hochhaus der TSR, der Télévision Suisse, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Romandie. Es ist rundum eingerüstet und eingepackt. Eine Vorsichtsmaßnahme, damit die Gebührengelder nicht zum Fenster rausgeworfen werden? Nein, es handelt sich um eine Sanierung, und ehrlich gesagt bin ich beruhigt zu wissen, dass dadurch das Baugewerbe dringend benötigte Aufträge erhält und Arbeitsplätze erhalten kann. Das gefällt mir eindeutig besser als der Gedanke an unausstehliche, selbstverliebte, selbst ernannte Fernsehprominenz, die gegen hohe Gagen durch seichte Programme führt, welche so viel Sendeplatz verschwenden, dass kaum eine Minute für Berichterstattungen über Breitensportanlässe wie diesen übrig bleiben.

Zuerst auf dem Uferweg, entlang verschiedener Fakultäten der Uni Genf, dann wieder ins Wohnquartier hinein, führt die Strecke zurück zur Rhône zu einer weiteren Brücke. Warum sie Pont Sous-Terre heißt, muss ich noch herausfinden. Unter die Erde führt sie nicht. Im Gegenteil, sie ist der einzige Anstieg, den ich als solchen wahrnehme. Ich habe zwar kein unterirdisches aber auch kein überirdisches Erlebnis beim Darüberlaufen, erstens haben wir noch keine zehn Kilometer zurückgelegt und der zweite Verpflegungsposten ist bereits in Sicht und zweitens sind die Endorphine noch in Lauerstellung.

Es geht weiter dem nördlichen Ufer entlang und - man wird es kaum glauben – kommen zu einer weiteren Brücke. Dreht man den Kopf nach rechts, hat man eine Brücke im Blickfeld, über welche wir heute nicht laufen, Le Pont de la Machine. Das darin integrierte Gebäude, mit seinen 160 Jahren ein halbes Jahrhundert älter als das BFM, beherbergte ursprünglich die Pumpen, welche die Brunnen der Stadt spiesen und erfuhr wie sein jüngeres, größeres Pendent eine Umnutzung. Heute ist unter anderem die Informations- und Buchungsstelle zum touristischen, kulturellen, sportlichen und sozialen Angebot der Stadt (wem die entsprechenden Informationen in meinem Bericht nicht ausreichen….) darin untergebracht.
Dreht man den Kopf nach links, fällt der Blick auf die Ile Jean-Jacques Rousseau. In der Mitte der Brücke führt ein Steg zu dieser kleinen, dem berühmten Sohn der Stadt gewidmeten Insel. Sein letztes längeres, in lyrischer Prosa gehaltenes Werk trägt den Titel „Die Träumereien des einsamen Spaziergängers“. Ich glaube kaum, dass er beim Schreiben an mich und meine erholsamen Läufe im heimischen Wald dachte.

Auf der südlichen Seite führt uns eine für diesen Anlass errichte Holzrampe auf den Fußweg hinunter, auf welchem es unter der Mont Blanc-Brücke hindurch auf die dem See zugewandte Seite des Englischen Gartens geht. Wieder auf der Seestraße, dauert es nicht lange, bis mir die Spitze entgegenkommt. Ich bin noch nicht bei Kilometer 12 angekommen, da rauscht der Führende mit bereits sechs Kilometer Vorsprung an mir vorbei. Bis zum Wendepunkt dauert es noch gut drei Kilometer, aber für Abwechslung ist gesorgt. Musik, schöne Aussicht auf den See und die Stadt, ein weiterer, wiederum komplett bestückter Verpflegungsposten sorgen für Kurzweil. Nach der Esplanade Alinghi gilt mein Augenmerk besonders den entgegenkommenden Läufern mit ihren unterschiedlichen Laufstilen, Ausrüstungen und Gesichtsausdrücken.

Der letzte Kilometer vor der Wende ist unspektakulär; irgendwie muss die Distanz am Schluss einfach 42,195km betragen. Auf dem Rückweg zur Stadt halte ich nach Mariola Ausschau. Vor dem Start haben wir uns trotz leuchtender Oberteile verpasst, dabei wollte ich unbedingt noch ein Foto vorher machen. Wir sind die beiden einzigen Teilnehmer aus dem Kanton Schaffhausen, was eine kleine statistische Randnotiz ist. Sie aber läuft heute ihren ersten Marathon, weshalb ich sie unbedingt während des Laufs vor die Linse bekommen muss. Meine ganze Aufmerksamkeit gehört der anderen Seite, bis ich sie lockeren Schrittes und mit entspanntem Gesichtsausdruck dem Wendepunkt entgegenlaufen sehe.

Nachher genieße ich den Anblick der Stadt, welcher in der Zwischenzeit mit dem Einschalten des Jet d’Eau vervollständigt ist. Mit 200 km/h schießt diese Wasserfontäne 140 Meter hoch in den Genfer Himmel, um sich dann, je nach Wind, als Schleier übers Hafenbecken zu legen. Heute ist es ziemlich windstill und bei ständig wechselnder Bewölkung ist die Temperatur geradezu perfekt.
Auf der zweiten Runde sieht die Einkaufsmeile genau so verlassen aus wie auf der ersten. Ein einzelner Alphornbläser hält dagegen an und überbrückt diese Leere für uns. Wenig weiter ist auch die Chansonière mit ihrem Akkordeon immer noch mit Verve dabei, ihr reichhaltiges Repertoire darzubieten.

Nach einem sanften Beginn mit dem Zugläufer für 4:15, bin ich mittlerweile ein Stück vor der Gruppe mit  der Zielzeit 3:45. Ich genieße den Vorteil eines Rundstreckenlaufs, indem ich mich auf das einstelle, was als nächstes kommt, und entsprechend die Kamera bereit habe. Zudem hat sich mein Lauftempo eingependelt, womit ich einen nach dem anderen einsammle, der es forsch anging.

Bei Kilometer 30 habe ich das Vergnügen, die Spitze des Halbmarathons auf der anderen Straßenseite zu beobachten, just in dem Moment als mir Mariola wieder entgegenkommt. Es geht alles so schnell, dass auf dem ersten Foto beide verwackelt drauf sind, auf dem zweiten nur noch Mariola verschwommen und eine Ferse des Führenden auf dem rechten Bildrand ebenso unscharf zu erahnen sind.

Mit jedem Marathon erscheint mir die Gesamtdistanz kürzer zu werden. Wenn es den Mitgliedern des 100 Marathon-Clubs so geht, dann verwundert es mich, dass sie sich trotzdem noch die Mühe machen, für eine so kurze Strecke die Schuhe zu schnüren…

Ich kann es jedenfalls kaum glauben, dass ich schon wieder dem See entlang unterwegs bin. Mein Blick gilt der Aussicht und den Teilnehmern auf der anderen Seite. Ich bin nicht mehr weit vom Wendepunkt entfernt, da sehe ich den nächst schnelleren Zugläufer, was mich doch einigermaßen erstaunt. Bin ich tatsächlich so flott unterwegs?

Bald bin auch ich das zweite Mal auf dem Rückweg in die Stadt, da brausen auf dem Promenadenweg rechts zwei Motorräder entgegen, während auf der linken Straßenseite das Führungsfahrzeug mit der Uhr den Pulk seitwärts anführt. Der die Spitze des Halbmarathonfeldes begleitende Fahrradfahrer hat wohl nichts dagegen, dass sein Stuhl elektrifiziert ist und er das horrende Tempo halten kann.  Im Rahmen meiner mathematischen Fähigkeiten überschlage ich schnell meine Chancen, es noch vor dem ersten Halbmarathonläufer über die Ziellinie zu schaffen. Ich habe einige Zweifel, dass mir das gelingen würde, doch der Anreiz, es zu versuchen ist stärker als mein Vorsatz, locker zu genießen.

Eine Dame vor mir hat anscheinend das gleiche Ansinnen, auf jeden Fall strebt auch sie wie von einer Tarantel gestochen dem Ziel zu. Auf dem letzten Kilometer mobilisiere ich alle noch vorhandenen Kräfte und kann zu meiner Überraschung noch etwas zulegen. Es ist nicht mehr weit, da nähern sich die Motorräder von hinten und mir wird die Anweisung gegeben, ganz rechts zu bleiben. Hundert Meter vor dem Ziel biegt die mitfahrende Uhr in eine Seitenstraße ein und dann –fünfzig Meter vor der Zeitmessmatte – huscht ein dunkler Schatten an mir vorbei, während unter dem Zielbogen das Siegerband für den Inhaber des neuen Streckenrekords gespannt wird. Obwohl ich nichts mit dem Ausgang des Halbmarathons zu tun habe, bin ich mitten im Geschehen und erlebe einmal die Stimmung am Kopf eines Lauffeldes. Von diesen fremden Lorbeeren beflügelt, steche ich mit rund drei Metern Vorsprung vor dem Zweitplatzierten ins Ziel. Wieder eine neue Erfahrung!

Mit einer guten Pulle Wasser versorgt gehe ich zur Abgabe der Leihchips. Wie ich dort die Beschriftung sehe, ist mir klar, weshalb sich meine Beine trotz dem für meine Verhältnisse flotten Tempo so locker fühlen. Das französische Wort für den Zeitnehmerchip heißt wörtlich übersetzt Floh.

Die Medaille wurde mir anderswo schon feierlicher umgehängt, dafür ist sie sehr originell gestaltet.

Wer bei der Startnummernausgabe sein qualitativ hochstehendes Funktionsshirt noch nicht abgeholt hat, bekommt es hier ausgehändigt. Mit Wasser und Orangen nochmals erfrischt und einer Tüte mit Banane und Getreidestengeln gegen den ärgsten Hunger bis zur nächsten Mahlzeit in der Hand, gehe ich in freudiger Erwartung einer erfrischenden Dusche zurück zur Garderobe.

Frisch ist die Dusche in der Tat, um nicht zu sagen sehr frisch, was gleichbedeutend ist mit kalt. Wie es am vorgesehenen Ort - welcher wegen eines Brandes nicht zur Verfügung steht - gewesen wäre, kann ich nicht sagen und werde ich vermutlich auch nie herausfinden, denn die andere kalte Dusche nach diesem schönen Marathon ist die, dass ich Teilnehmer des vermutlich letzten Genève Marathons bin.

Offensichtlich wurden den Organisatoren so viele Steine in den Weg gelegt oder nicht weggeräumt, dass ihnen die Lust vergangen ist, ihre Energie weiterhin in diesen Anlass zu investieren. In einem Blog der Tribune de Genève wird dann auch hart mit den Verantwortlichen der Stadt ins Gericht gegangen.

Dass es die Weltstadt Genf nicht nötig hat, mit gleichem Elan wie Luzern die Organisation eines Marathons zu unterstützen, erstaunt mich, nicht aber den Polizisten, mit welchem ich mich unterhalte. Für ihn ist es kein Problem, dass deswegen eine ganze Menge von ihnen zusätzlichen Dienst haben. Aber wer hört schon auf den kleinen Mann? Hoffen wir mal, denn es wäre schade, wenn es keine Wiederholung mehr geben würde.

Gerade rechtzeitig mische ich mich unter die Zuschauer, um Mariolas Zieleinlauf zu sehen. Den erfolgreich ausgetragenen Kampf mit dem Hammermann sieht man ihr nicht an. Schade, dass die tolle Leistung der Läuferinnen und Läufer, die um diese Zeit den Marathon beenden, in der Masse der Halbmarathonis untergeht. Sogar bei der Vergabe der Medaille, die den Finishern der ganzen Distanz vorbehalten ist, wird sie übersehen, was sie zuerst gar nicht bemerkt. Da ich aber auf ein Finisherfoto mit Medaille bestehe, gehen wir zusammen zu den Ehrendamen zurück, damit diese ihr Versehen wiedergutmachen können und der Anfang zu einer Medaillensammlung gelegt werden kann. Wer nämlich so kurz nach Beendigung der Premiere schon von Wiederholung spricht, hat es sich gut eingeteilt und ist deshalb prädestiniert für weitere Marathons. Aber das hat – obwohl wir in Genf sind - jetzt nichts mit Calvins Lehre der Prädestination zu tun…

 

 

Informationen: Genève Marathon
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