Gemeinsam mit Andreas Gäbler mache ich mich auf den Weg nach Chemnitz. Ihr kennt Andreas Gäbler nicht? Macht nichts, so bekannt ist er nicht, dass man ihn unbedingt kennen müsste…
Andreas ist ziemlich oft auf den Marathonstrecken unterwegs. Im Auto erzählt er mir, wie er die Auswahl für seine Läufe trifft - über die Laufberichte auf „Marathon4you“! Ja, da seht ihr mal, so wichtig sind wir.
Aber Vorsicht – „Marathon4you“ kann auch schaden. Wir unterhalten uns gerade über einen Laufbericht von Bernd Neumann. Er hatte sich kürzlich beim Frankenweg-Lauf verlaufen. Ich bin schon mal zufrieden, dass Andreas von mir nicht wissen will, ob mir das auch schon passiert ist. Was er fragt, ist aber auch nicht viel besser: „Hätten wir nicht an dieser Abfahrt die Autobahn verlassen müssen?“
Wir sind trotzdem noch rechtzeitig bei Karl Marx - beim Nischel. Für die, die nicht das Glück haben, Sächsisch ihre Muttersprache nennen zu dürfen: Nischel ist die mehr oder weniger liebenswürdige Bezeichnung für das, was man im Hochdeutschen Kopf nennt.
Ich weiß nicht, ob die Chemnitzer nach der Wende, als wir Ossis dem Hobby der Denkmalsstürmerei verfallen waren, mit dem Abriss des vierzig Tonnen schweren Philosophenkopfes überfordert waren. Oder ob es Weitsicht war - denn heute ist der Nischel ein Wahrzeichen der Stadt. An der Hauswand hinter der überdimensionalen Marx-Büste wurde aus aktuellem Anlass und in großen Lettern sogar eine bekannte Losung aus dem Kommunistischen Manifest angebracht: Fußballfans aller Länder, wir grüßen euch! Ja gut, die Losung wurde ein wenig abgeändert, aber der alte Marx hätte bestimmt nichts dagegen gehabt.
Wir starten heute fast unter den Blicken des großen deutschen Philosophen. Denn der Chemnitz-Marathon ist umgezogen. Vom Markt zum Roten Turm. Entfernungsmäßig ein Katzensprung – als Wohlfühlfaktor für die Läufer ein großer Schritt. Viel Wasser, viel Grün, Schatten gibt es auch – man kann nach dem Lauf herrlich entspannen. Aber so weit sind wir noch nicht...
Die Ausgabe der Startunterlagen und die Gepäckabgabe sind gut organisiert. Wer nicht gerne läuft – der Start ist in unmittelbarer Nähe. Die Zeit bis zum Start kann man auf der Wiese oder auf einer Parkbank verbringen. Natürlich auch in einer Schlange vor der Ausgabe der Startunterlagen. Da muss man durch – oder das nächste mal etwas früher kommen.
Es gibt mehrere Läufe, vom Minimarathon über den Viertelmarathon bis zum Halbmarathon. Und natürlich den Marathon, der startet 10 Uhr am Roten Turm. Ich habe mich natürlich nicht nur auf den Lauf, sondern auch gründlich auf den Laufbericht vorbereitet. Und so weiß ich, dass sechs Läuferinnen und Läufer aus Taiwan dabei sind. Hätte ich mich noch gründlicher auf den Bericht vorbereitet, wüsste ich sogar, dass sie nicht aus Taiwan sind - sondern aus Taihuan. Was in China liegt… Die Verwechslung wäre peinlich gewesen!
Taihuan ist Partnerstadt von Chemnitz und die chinesischen Teilnehmer weilen über ein Austauschprogramm in der sächsischen Stadt. Eine feine Sache. Schade, dass ich nicht in Chemnitz wohne, ich wollte schon immer mal in China laufen.
Den Startschuss gibt Nico Ihle, Eisschnellläufer aus Chemnitz. Zweimal bei Olympia dabei, in Sotschi mit Platz vier ganz knapp am Edelmetall vorbeigeschrammt. Sein Schuss ist noch gar nicht richtig verhallt, wenige Meter haben wir erst zurückgelegt - da vernehme ich Geigenklänge. Geigenklänge? Ein ganzes Orchester hat Aufstellung genommen! Für uns Läufer! Mir ist manches schon passiert, aber so etwas noch nicht, aber so etwas noch nicht. Ich bin begeistert - woanders bezahlt man dafür viel Geld! Stehen bleiben und zuhören dürfte aber nicht im Sinne der Veranstalter sein…
Einen knappen Kilometer laufen wir durch das Zentrum, über den Markt, passieren den ehemaligen Marathonstart. Als wir das Zentrum verlassen, steht da an einer Ecke ein kleiner Chor und singt: „Die Gedanken sind frei…“ Glücklich ist – wer heute nicht laufen muss!
Dann begebe ich mich auf den nächsten Kilometer, der ist nicht ganz so aufregend, eine Hauptverkehrsstraße - so etwas gibt es nun mal in Großstädten. Aber ich habe Kilometer zwei noch nicht erreicht - da laufe ich schon im Stadtpark. Auf gut befestigten, teils asphaltierten Wegen. Bäume gibt es auch. Und da das Thermometer bestimmt schon die 25 Grad erreicht hat, sind mir Bäume sehr willkommen.
Ich erreiche Kilometer fünf und ihr ahnt es schon – Kultur! Eine Gruppe Kinder steht am Wegesrand und als sie mich sehen, kommt von der Leiterin der Gruppe das Kommando: Flöte hoch! Oder so ähnlich. Auf jeden Fall ist es wunderschön anzuhören.
Etwa bei Kilometer sieben endet der Stadtpark, entlang einer Straße geht es durch ein ruhiges Stadtviertel, bevor ich noch einmal einige Meter Stadtpark passiere. Dort befindet sich die höchste Erhebung der gesamten Strecke - über den Daumen gepeilt zehn Höhenmeter. Das kostet Zeit – zum fotografieren - weil man dort wieder Musiker platziert hat. Chemnitz hat Kultur!
Was jetzt folgt ist einfach, da kann ich schreiben – siehe Abschnitt Start bis Stadtpark! Natürlich bin ich jetzt in der Gegenrichtung unterwegs. Und habe mit Erreichen des Starts die erste Runde hinter mich gebracht. Die noch folgenden drei Runden sind identisch. Was gut für mich ist, da muss ich nicht soviel schreiben, und gut für euch, ihr müsst nicht soviel lesen…
Aber wenn ihr euch nach dem Bericht nun überlegt, ob ihr nächstes Jahr vielleicht mal in Chemnitz laufen wollt – da fehlt noch was. Genau, die Verpflegung und da sage ich nur: Alles Banane! Aber auch Apfel! Und Wasser, Cola und Apfelschorle! Etwa alle 2,5 Kilometer erreicht man eine Verpflegungsstelle, das ist in Ordnung. Und bevor ich es vergesse – ein Dank an alle Helfer. Haben die wirklich verdient!
Dass meine Zeit am Ende nicht gerade Rekordverdächtig ist, liegt auch daran, dass ich in der dritten Runde an einer Hochzeit teilnehme. Stellt euch vor, ich komme vor das Rathaus, da stehen dort ein Brautpaar und viele Gäste. Da muss man doch gratulieren! Und aufs Hochzeitsfoto will ich auch! Das Bild ist beim Laufbericht dabei. Ich bin der, zu dem alle etwas Abstand halten. Wenn ich wieder mal an einer Hochzeit teilnehme, dusche ich vorher.
Ich erreiche das Ziel – knapp zwanzig Minuten nach Zielschluss. Und bin froh, dass ich es überhaupt erreiche. Mein Rücken hat mir arg zugesetzt und wenn ich vernünftig gewesen wäre, hätte ich das Rennen vorzeitig beendet. Aber welcher Marathonläufer ist schon vernünftig…
Vernünftig sind die Veranstalter. Sie lassen Gnade vor Recht ergehen. Man ist zwar schon mit dem Abbau beschäftigt, aber meine Zeit wird noch gewertet. Nur - wo sind die Medaillen? In so einem Fall ist es wichtig, Freunde zu haben. Dieter Fromme kommt mir entgegen – eine Medaille vor der Brust, eine in der Hand.
„Die habe ich mir schon für dich geben lassen“, ruft er mir entgegen und hängt mir das Ding um den Hals.
Diese Medaille ist bekanntlich etwas ganz Besonderes – so eine Art Karl-Marx-Orden aus Holz. Nur für euch Wessis: Der Karl-Marx-Orden war die höchste Auszeichnung der DDR. Und nur für uns Ossis: Ich vermute, manche mussten sich in der DDR nicht so anstrengen wie wir hier beim Marathon, um die höchste Auszeichnung zu bekommen.
Dieter Fromme ist übrigens schon mehrfach in Chemnitz gelaufen und hat dabei vor einigen Jahren Lukas Klitzsch kennengelernt. Einen Jungen im Rollstuhl – der inzwischen 18 Jahre alt ist. Zwischen beiden hat sich eine Freundschaft entwickelt. Man trifft sich, wenn es sich einrichten lässt. Lukas hat heute den Viertelmarathon absolviert. Und wenn ich seine Zeit auf meine hochrechne, war er schneller als ich. Und das im „normalen“ Rollstuhl!
Wir sitzen noch einige Zeit bei Bier und Cola zusammen. Das gehört auch zu einem Marathon. Dass man Menschen kennenlernt – auf der Laufstrecke fehlt dazu leider oft die Zeit.
Nun, habe ich euch den Chemnitz-Marathon schmackhaft gemacht? 1300 Läufer waren auf den einzelnen Strecken dabei, beim größten Spendenlauf Sachsens. Man läuft nicht nur - unter dem Motto „Laufen mit Herz“ hilft man auch anderen Menschen. Diesmal gehen die Erlöse an einen Verein, der an Diabetes erkrankten Kindern hilft, sowie an ein Frauenhaus.
Nach Hause fahre ich wieder mit Andreas Gäbler. Also mit dem, den ihr nicht kennt. Eigentlich sollte man ihn kennen – denn er wurde heute sächsischer Landesmeister in seiner Altersklasse! Herzlichen Glückwunsch!
Marathonsieger
Männer
1 Friedrich, Uwe Chemnitzer PSV 2:48:29
2 Goldbach, Thomas SC Riesa 3:01:51
3 Petzold, Mike SV Stützergrün 3:13:21
Frauen
1 Meyer, Juliane SC DHfK Leipzig 2:57:51
2 Hanisch, Claudia Hetzdorfer SV 1990 3:51:35
3 Auerbach, Sonja LSV Pirna 3:58:26