Vorwort
Immer wenn hier auf m4y etwas von Mike Friedl (56) veröffentlicht wird, handelt es sich um eine außergewöhnliche Veranstaltung. Diesmal ist es der Baltic Run, ein Etappenlauf, oder Multi Days Run, wie man im Deutschen sagt. Für Mikes Verhältnisse, der 3 x (!!) den Deutschlandlauf erfolgreich beendet hat, sind die auf 5 Tage verteilten 318 Kilometer nicht zu viel. Er will nicht falsch verstanden werden, aber es ist tatsächlich ein Trainingslauf. Der Baltic Run ist Bestandteil eines ganz langfristig angelegten Vorbereitungsprogramm zu einem noch nie dagewesenen Lauf, der im nächsten Jahr stattfindet: Transeurope Footrace, in 64 Tagen 4500 km von Bari zum Nordkap.
Läuferinnen und Läufer suchen immer neue Herausforderungen. Länger, höher, schneller, lautet die Devise. Je extremer, desto besser. Der Baltic Run auf dem Berlin- Usedomer Radfernweg ist eine der ganz wenigen Veranstaltungen, bei der ambitionierte Läufer die dünne Luft in die Extreme-Branche einmal schnuppern können. Er schließt die Lücke, die Spreelauf und Isar-Run hinterlassen haben. 63 Kilometer an fünf Tagen hintereinander, ein Marathon und ein Halber, das will erst einmal gelaufen sein.
11 Läuferinnen und 48 Läufer sind am Start, dazu kommen jeden Tag ein paar Etappenläufer, die sich dem Tross für ein oder zwei Tage anschließen. Die Strecke führt von Berlin nach Karlshagen an der Ostsee und verspricht viel Abwechslung.
Jetzt soll aber Mike Friedl zur Wort kommen, der in Österreich geboren und in Berlin (West) aufgewachsen ist und seit über 20 Jahren in der Türkei (Istanbul) lebt und arbeitet. Seine einzigen Verwandten leben noch heute in der Hauptstadt, was für Mike einen zusätzlichen Reiz ausmacht.
Klaus Duwe
„Wie mein Vorredner schon sagte,“ könnte ich jetzt beginnen. Es stimmt, es geht mir um den Transeuropa-Lauf, das größte Abenteuer, das ich mir für mich selber vorstellen kann. Ein solcher Lauf erfordert eine langfristige und planmäßige Vorbereitung. Dazu gehört nicht nur Lauf-, sondern vor allem auch mentales Training und das Einleben in die Besonderheiten der Multi Days, das enge Aufeinander und die Entbehrungen bei gleichzeitiger enormer Belastung.
15 Marathon- und Ultraläufe habe ich dieses Jahr bestritten, darunter den Doppeldecker Biel/Fürth (100/42 km) und danach das Lauftraining in Abstimmung mit meinem sportlichen Berater für sechs Wochen eingestellt. Mehr als 5 Kilometer joggen oder 20 Minuten auf dem Laufband alle 4 Tage ist nicht drin. Dafür Krafttraining für den Rücken, Ergometer, Schwimmen und Dehnübungen. Und jetzt der Baltic Run … Ihr könnt euch vorstellen, wie es in den Beinen kribbelt.
Ich treffe viele Bekannte in Berlin, Deutschlandläufer und Ultras, aber auch viele, die sich erstmals an eine solche Herausforderung wagen. Eine bunte Mischung also, die das Unternehmen zusätzlich interessant und spannend macht.
Die erste Nacht verbringen wir in einer Turnhalle, 70 Leute, Läuferinnen und Läufer und das Orga- und Helfer-Team. Um 5.00 Uhr ist auch für den Letzten Schluss mit Pennen. Morgentoilette, Zusammenpacken, Frühstück und um 7.30 Uhr Abmarsch zum Alexanderplatz, wo bei der Weltzeituhr der Start erfolgt.
03. August: Berlin Hubertusstock ca. 62 km
Obwohl das Läuferfeld ja überschaubar ist, wird in Blocks in zweiminütigem Abstand gestartet. „Wer bei Rot über die Ampel rennt, wird disqualifiziert,“ wird verkündet. Habt ihr schon mal einen Läufer vor einer roten Ampel und autoloser Kreuzung stehen sehen? Es ist nichts los in der Hauptstadt an diesem frühen Sonntagmorgen. Nach 20 Minuten sind wir in noch ruhigeren Wohnbezirken und dann bald ganz im Grünen. Berlin von ganz oben betrachtet muss aussehen, wie eine Stadt inmitten von Äckern, Wiesen und Wäldern.
Ich zockele mit Werner Selch, einem ebenfalls sehr erfahrenen und erfolgreichen Extremläufer, der viel erzählen kann, über Feld- und Wiesenwege, bis ich nach ungefähr 30 Kilometer doch tatsächlich einen Durchhänger bekomme. Ich lasse Werner ziehen und beschäftige mich mit mir selbst. Klar, ich bekomme das geregelt und als ich Werner wieder einhole, ist der gerade reif für eine „Auszeit“. Beide schaffen wir die erste Etappe mit 62 Kilometern ohne Probleme, wie alle anderen übrigens auch.
Eine kleine Panne passiert vorne an der Spitze. Der Radler, der Dirk Vinzelberg als Führenden begleitet, hat sich verfahren, worauf Dirk seine Führung einbüßt und drei Minuten nach Michael Vanicek einläuft. Obwohl er nicht protestiert, beschließt der Läuferrat, beide zeitgleich zu werten. So regelt man das bei solchen Veranstaltungen. Kurz und schmerzlos …
Das Ziel liegt übrigens am Werbelinsee. Ich traue meinen Augen nicht. Vor meiner Nase liegt das Boot meines Onkels, er macht hier auf "entspanntes Wochenende".
Die Nacht in dem Nobelhotel und das Frühstück sind erstklassig. Aber ehrlich gesagt, wären wir nicht so viele, man würde sich mit seinen Laufklamotten etwas deplatziert vorkommen. Ich denke mal, das ist der Höhepunkt dessen, was uns die nächsten Tage als Quartier zur Verfügung steht. Deshalb genieße ich es.
In zwei Gruppen wird gestartet. Die schnellen Hirsche, insgesamt 23, rennen hinaus in den Regen. Regen? Es schüttet! Zum Glück sind wir schnell im Wald, der einiges abhält. Der Regen reinigt die Luft, sagt man. Es ist wirklich so. Die Luft ist klar wie selten. Es riecht nach Wald, Erde, Pilzen.
Die Strecke ist landschaftlich wieder sehr schön und abwechslungsreich. Wenn nur nicht dieser Wind wäre. Manchmal kommt er extrem stark von vorn und von der Seite. Ist das nicht immer so? Grit Seidel ist für die Markierungen zuständig. Sie hat ganze Arbeit geleistet und auch noch dort Bänder angebracht, wo man außer geradeaus gar nicht laufen kann. Verlaufen ist unmöglich.
Auch bei mir läuft es gut und ohne Probleme für die knapp 67 km brauche ich 6:11 Stunden und laufe damit auf den 10. Platz. In meiner Altersklasse führe ich. Wenn es mir darum ginge, wäre ich zufrieden.
Auf dem Zielgelände ist am Nachmittag die Hölle los. 5 oder 6 Übertragungswagen vom rbb sind da, unterwegs wurden auch schon welche gesichtet. Seit wann hat der Laufsport solches Medieninteresse?
Unser Quartier haben wir in einer großen Sporthalle. Das Essen wird wie immer um 19.00 Uhr serviert. Nudeln, Reis, Salate, Schnitzel, alles da. Auch an Vegetarier ist gedacht. Ich sagte doch, perfekt …
In der Nacht muss ich mal raus. 80 Leute schlafen in der Turnhalle und es still, wie in der Kirche. Kein einziger Schnarcher, echt bemerkenswert. Da bin ich ganz andere Geräuschpegel gewohnt. Also schlafe ich schnell wieder ein und bin am Morgen gut erholt und fit für die anstehenden 71 Kilometer. Ich finde die Etappenlängen ideal. Man kommt nicht so spät ins Ziel und hat einfach noch Zeit für einen Kaffee, ein Eis, oder was auch immer. Beim Deutschlandlauf sind ja manchmal 90 und mehr Kilometer zu laufen. Da kommen die langsameren Läufer oft erst in der Nacht ins Ziel und müssen dann in aller Früh schon wieder ran. Das ist schon der Horror.
Wieder wird in Gruppen gestartet. Das Wetter ist zum Laufen ideal, nicht zu warm und außer ein paar kleinen Schauern bleibt es heute trocken. Nur dieser blöde Wind ist wieder da.Die Stimmung unter den Läufern und den Helfern ist trotzdem toll. Ich halte mich gerne an den Verpflegungsstellen etwas auf, mache einen Schwatz und scherze und greife dabei kräftig zu. Jetzt hat mir aber einer der Laufkollegen vorgerechnet, dass ich damit bestimmt 7 bis 8 Minuten verliere. Ich alter Hase lasse mich davon tatsächlich beeindrucken. Im „Flug“ nehme ich heute die Getränke zu mir und schlinge einen Bissen runter, manchmal haste ich auch ohne weiter. Irgendwo auf einer Brücke steht es angeschrieben: Halbzeit, wir haben die Hälfte.
Dann kommt, wie es kommen muss. So 7 oder 8 Kilometer vor dem Etappenziel bekomme ich einen Hungerast. Ich bin platt wie nur was. Würde mich jetzt jemand antippen, ich würde umfallen und liegen bleiben. Ich bringe nicht die Energie auf, in meine Tasche zu greifen, um mir ein Gel zu holen.
Irgendwie kann ich mich zusammenreißen, schaffe auch die letzten Kilometer und erreiche mit 6:26 Stunden für die 72 Kilometer eine Zeit, die ich für mich bei einem solchen Wettbewerb nicht für möglich gehalten hätte. Ich bin in die Top-Ten gelaufen, da will ich jetzt auch bleiben. Aber trotzdem habe ich morgen wieder etwas mehr Zeit, um ausreichend zu Essen.
Apropos Essen, heute Abend geht’s ins Restaurant. Schon gestern konnte jeder sein Wunschmenü bestellen. Ich habe die Organisatoren heute ja schon gelobt …
Michael Frenz hat einen schlechten Tag. Nur unter Schmerzen erreicht er das Ziel. Trotz Pflege und gutem Zureden: Er steigt aus.Eine solche Entscheidung fällt keinem Läufer leicht. Und doch ist es meist das Beste.
Michael Frenz ist schon ein harter Hund. Gestern habe ich ihn noch aus Ausfall gemeldet, heute steht an der Startlinie. Es hat wohl nach lange Gespräche gegeben, bei denen die „Alten Hasen“ meinten, dass man sich Chin Splints auch „weglaufen“ kann. Eine solche Erfahrung habe ich übrigens auch einmal beim Deutschlandlauf gemacht. Nach ein paar qualvollen Etappen war ich meine Beschwerden los. Das muss aber nicht immer so ausgehen. Es ist oft tatsächlich so, dass unter Belastung die Schmerzen nachlassen. Da damit das Problem nicht behoben ist, wird es meist eben doch noch schlimmer.
Michael ist heute jedenfalls gut über die Strecke gekommen und wird wohl auch morgen die letzte Etappe schaffen. Dann kann er regenerieren. Es bleibt also bei einem Ausfall bisher am zweiten Tag. Das finde ich ganz erstaunlich. Immerhin liegen fast 200 Kilometer hinter uns. Das spricht für die gute Vorbereitung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Ich bekomme heute die Quittung für meinen gestrigen Tempolauf. Mir geht es anfangs überhaupt nicht gut. Einzelheiten erspar ich mir. Jedenfalls bin ich ziemlich langsam unterwegs. Zeit, sich einmal intensiver die schöne Gegend anzusehen. Das Wetter ist herrlich, die Sonne scheint und man ist über jeden schattigen Streckenabschnitt froh. Die Landschaft um das Stettiner Haff ist einmalig schön, im Schilf bewachsenen Ufer tummeln sich allerlei Enten, Reiher usw.
Nach etwas mehr als der halben Strecke kommen wir nach Anklam, dem Geburtsort des Luftpioniers Otto Lilienthal, an dessen Denkmal wir vorbei laufen. Die Stadt liegt an der Peene kurz vor deren Mündung in die Ostsee. Über den Peenestrom gibt es eine Klappbrücke. Wenn sie für die Schifffahrt geöffnet ist, ruht der Straßenverkehr 20 bis 30 Minuten. Die Startzeit heute orientierte sich an den Öffnungszeiten der Brücke, damit wir keine Zeit verlieren. Im anderen Falle sollte eine Zeitgutschrift erfolgen. Soweit ich es mitbekomme, wird aber niemand aufgehalten.
Mir geht es besser, habe keine Probleme mehr und ziehe gleich wieder das Tempo. Irgendwie meine, meinen Top-Ten-Platz verteidigen zu. Müssen. Dabei habe ich eingangs geschrieben, ich wolle den Baltic-Run als Trainingslauf sehen. Aber so einfach ist das dann doch nicht. Als 11. komme ich nach gut 6 Stunden ins Ziel. Meine Platzierung schaue ich mir später.
So einen Etappenlauf soll man wirklich erst am letzten Tag loben. Ich will ja nicht meckern, aber unsere Unterkunft heute fällt gegenüber dem bisher gebotenen schon deutlich ab. Aber es ist ja immer nur für eine Nacht …
Wer glaubt, er kann den letzten Tag des Baltic-Run locker nach hause laufen, hat sich getäuscht. Heute ist die mit Abstand schwerste Etappe. Nicht weil jeder schon 260 Kilometer in den Beinen hat, nein, es ist die Strecke. So bergig habe ich mir den Norden nicht vorgestellt. Dauernd geht es rauf oder runter. Und dann die Hitze. Jedes Waldstück und jede Parkanlage, die etwas Schatten bietet, wird genossen. Zum Glück plagen mich heute keine mentalen oder körperlichen Probleme. Kommt nämlich alles zusammen, kann so eine Etappe zur Tortur werden.
Ich habe die Tage insgesamt sehr genossen. Während meiner 6wöchigen Laufabstinenz fehlte mir nämlich nicht nur der Sport, sondern auch der Kontakt zu Gleichgesinnten. Deshalb sehe ich das Ende des Baltic Run auch mit gemischten Gefühlen. Ich hätte gerne noch ein paar Tage dran gehängt. Aber morgen muss ich zurück nach Istanbul, das Geschäft ruft. Auch in meiner Firma muss ich meine lange Abwesenheit nächstes Jahr zum Transeuropalauf langfristig vorbereiten.
Aber noch bin ich hier. Ich genieße auch die tolle Verpflegung und Betreuung unterwegs. Nur eines fehlt mir heute hin und wieder: ein eiskaltes Getränk. Ein paar Euros habe ich immer einstecken und kaufe ich mir zuerst eine Cola und als ich wenig später einen Eiswagen entdecke, dränge ich mich vor („Ich bin Baltic-Runner“) und erwerbe eine Riesenkugel. Geht’s mir gut.
Als wir die Strandpromenade entlang laufen, verkneife ich mir trotz Hitze und der vielen Badegäste einen Abstecher ans Wasser. Ihr wißt schon, der plötzliche Ehrgeiz. Die Top-Ten-Plätze sind begehrt und meinen will ich nicht abgeben. Also laufen nicht vergessen.
Nach 6 Stunden, 9 Minuten bin ich nach den letzten 59 Kilometer im Ziel, insgesamt kommen 30 Stunden, 53 Minuten und 49 Sekunden zusammen, Platz 10, geschafft. Gesamtsieger ist Michael Vanicek (25:11:35), schnellste Frau ist Marika Heinlein (32:22:34). Und nur zwei Läufer mussten ausscheiden – sensationell. Eine tolle Truppe ist hier zusammen gekommen, ich bin stolz, dabei zu sein.
Untergebracht sind wir heute in einer großen, sehr schönen Sporthalle. Zum Essen geht’s ins Restaurant, nach der Siegerehrung.
Danke an die Organisatoren, die Helferinnen und Helfer, und den Läuferinnen und Läufern für die Kameradschaft. Und euch, liebe Leserinnen und Leser danke ich für eure Begleitung. Vielleicht melde ich mich wieder, wenn ich zu meinem größten Abenteuer starte, dem Lauf durch Europa.
Keep on running