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Laufberichte

Zwischen Dom und Blauem Kreuz

24.10.04

„Ausstieg nach zwei Kilometern nach Kollision mit einem Passanten.“

 

Vielleicht hatten wir zu lange rumgedaddelt, vielleicht hatten wir die äußere Ruhe weg. Fünf Minuten vor dem Start standen wir jedenfalls fast hinten im Feld der 1 800 Starter. So winkten wir noch unseren Begleiterinnen Claudia und Gabi, dann auch den stimmungsgeladenen . Zuschauern und Organisatoren an der Startlinie zu. Gemächlich ebbten wir im Feld dahin. Die innere Anspannung legte sich, wich einem gehobenen Gefühl. Unser Halbmarathoni Jan schlug ein paar schnelle Haken und entschwand. Nicole und ich hatten es nicht so eilig, wir gingen auf den Marathon.

Wir musterten die Mitläufer um uns, liefen über eine Brücke und schauten die Elblandschaft an. Am Westufer liefen wir südwärts, gegen den Elbstrom. Herbstlich gefärbte Blätter säumten den Parkweg zu unseren Füßen. Vereinzelte Zuschauer applaudierten. Ein älterer Herr versuchte durch das Läuferfeld zu dringen. Panik, dicht vor mir schaffte er es, nachdem ich den Fuß zurück gezogen hatte. „Das wär’s noch“, rief ich zu Nicole. „Ausstieg nach zwei Kilometern nach Kollision mit einem Passanten.“

 

Glimpflich davongekommen ging es in die Stadt hinauf. Jetzt, am Dom, beginne ich Haken zu schlagen. Zwei-drei Straßenwinkel und um den Dom herum, dann ging es auf breiterer Chaussee nordwärts voran. Die Stadt war zu sehen, aber nicht zu riechen. Der Wind blies erfrischend und säubernd. In der Nähe die Elbe, Wasser kühlt immer, irgendwie. Und das war gut so heute, denn dieser goldige Oktobersonntag hatte trockene 20 Grad.

 

Ich wand mich um und sah Nicole nicht mehr. Schade. Zu schnell für sie war ich eigentlich noch nicht. Aber irgendwann musste jeder sein Tempo finden und laufen. Ich sah nach vorn und verschärfte den Schritt.

 

Bald ging es auf einer nördlicheren Brücke wieder über die Elbe zurück in den Ostteil der Stadt. Aber viel Stadt war da nicht mehr. Vorbei an Messegelände und Elbauenpark liefen wir durch den Stadtpark Rotehorn. Die Wege waren recht schmal und meist asphaltiert. Ein Überholen war bereits besser möglich, vor allem dann, als die 12 km Läufer rechts Richtung Elbauenpark abgeleitet wurden.

 

So fand ich meinen Tritt. Als dann hinter einem Zuschauerspalier und einer Hecke von irgendeinem Hof her Blasmusik erklang, wirkte das beflügelnd. Gut gelaunt ging es weiter voran.

Die Halbmarathonis verabschiedeten sich bei Kilometer 12 von uns. Auf dem Elbradweg wurde es leerer, aber nicht einsam. Trotzdem verspürte ich plötzlich gravierende Müdigkeit. Der wenige Schlaf unter der Woche, bedingt durch Nachtschicht und die normale Aufregung vor dem Marathon, forderte seinen Tribut. Ich nahm Tempo heraus, hielt aber den Abstand zu einer Gruppe vor mir. Ein Läufer, der erste heute, überholte mich. Ich sah zu, war einfach müde. Furcht vor Resignation stieg in mir auf, dazu die Gedanken: ,Das kann nicht sein. Gib nicht auf! Wofür hast du das ganze Jahr trainiert? Ein Marathon war immer dein Ziel, jedes Jahr. Und dieses Jahr hast du noch keinen Marathon. Deine physische Basis stimmt. Unverholen hast du von Bestzeit gesprochen.’ Das Kartenhaus wackelte, jetzt schon, nach knapp einem Drittel des Marathon. Ich biss mir auf die Unterlippe, schüttelte den Kopf, rief meinen Willen auf: ,Ruf ab, was du kannst!’

 

Das sollte mein Leitspruch auf dem zweiten Drittel der Strecke sein. Ich griff zu der Trinkflasche mit Matetee an meiner Hüfte und nahm ein paar Züge. Dann visierte ich den Läufer an, der mich überholt hatte. Er war schon an der Gruppe vor mir vorbei. Auch ich schloss auf und hielt mich hinter dem Mann. Mit ihm fand ich zurück zu meinem Tritt.

 

Die Landschaft wurde nun weiter. Wiesen, Büsche, Bäche, Seen – das ist die Elbaue. Und zum Glück säumten heute Zuschauer darin. Diese schafften es immer wieder. Ihr Applaus, ihre Aufmunterungsrufe, ihre tolle Stimmung verdrängte die Müdigkeit. Das half ungemein. Nachdem ich beim nächsten Verpflegungspunkt Tee und Banane statt nur Wasser zu mir genommen hatte, verspürte ich frische Kräfte.

 

Bis Kilometer 19 ging es recht flüssig voran. Ich überholte mehrmals, auch den Läufer, der mich gezogen hatte, ließ ich hinter mir. Ein aufmerksamer Zuschauer sagte, dass ich zur Zeit 225. sei. Nun, unter die 200 wollte ich noch gelangen. Da lotste uns eine Frau den Waldanstieg bei Hohenwarte hinauf. Ich nahm ihn mit übermütigem Schritt. Bergtraining hatte auf meinem Trainingsplan gestanden. Auch begrüßte ich den weicheren Untergrund. Oben dann wieder eine enthusiastisch anfeuernde Zuschauergruppe. Ich dankte, lief aber den Abstieg bedächtig hinab.

Wir kamen wieder direkt an die Elbe heran. An einem Verpflegungspunkt kamen uns die schnelleren, um die drei Stunden Läufer entgegen. Sie wirkten kräftig. Ihre entschlossenen Mienen trafen uns, die wir erst die 21 Kilometermarke passierten. Halbzeit. Unser Jan lief wohl gerade auf der Ziellinie ein. Wie weit war es noch bis zur Wendemarke? Zunächst unterliefen wir die Autobahn 2, dann rückte ein gigantisches Bauwerk in den Blick. Über die Elbe spannte sich eine lange und breite Betonwand. Das war sie, die 2003 fertig gestellte Trogbrücke des Mittellandkanals. Und da oben sah ich sie, die auf und ab wippenden Körper der Marathonis.

 

Eine lang gezogene Schleife führte auf die Brücke hinauf. Von Zuschauern motiviert, stürmte ich voran. Auch auf der Trogbrücke säumten etliche Passanten. Sie sparten nicht mit Applaus. Immer wieder hob ich meine Hand oder schwenkte meinen Hut. Hier oben im Wind ging es mir gut. An die zwei Kilometer liefen wir am Mittellandkanal entlang und über die Elbe. Auf der anderen Seite kamen die Läufer vor uns zurück. Jetzt ging es auch für uns wieder hinab, durch einen Tunnel hindurch und wieder zur Trogbrücke hinauf. Hier oben bekamen wir einen Stempel verpasst. Das war die Wendemarke, bei Kilometer 25.

 

Ich spähte zur andern Seite hinüber und suchte Nicole. Dort kam sie und sah recht locker aus. Wir winkten uns zu. Sie hatte den Großteil der Brücke noch vor sich, für mich ging es bald wieder hinab.

Unten liefen wir an ein Lagerfeuer heran. Davor saßen Sonntagsausflügler bei Bratwurst und Bier, einer Blasmusik lauschend. Nein, der Anblick tat mir jetzt nicht wirklich gut. Dazu kam die Sonne noch durch, es wurde wärmer auf den schmaleren, vor Wind geschützten Pfaden. Der Lauf geriet etwas ins Stocken, dann zwang auch eine Kopfsteinpflasterpassage durch den Ort Hohenwarte zu langsamerem Schritt. Kein wirkliches Handicap, denn mit uns war das Wissen, wir


liefen bereits zurück. Zur rechten Zeit der Verpflegungspunkt. Banane und Tee taten wieder Not. Von vorn kamen uns vereinzelt langsamere Läufer entgegen. Sie sahen gut aus und würden es schaffen. Ich rechnete für mich: Kilometer 27, noch 15 Kilometer, ein lockerer Trainingslauf, auf dem Elbradweg zurück.

 

Den harrenden Zuschauern sei Dank, sie ließen uns auch jetzt nicht im Stich. Prüfende und anerkennende Blicke trafen die Läufergesichter. Aus einem lockeren Trainingslauf auf dem letzten Drittel wurde aber nichts. Zunächst bedrängte mich wieder die Müdigkeit, dann bei Kilometer 30 wurden auch die Beine schwer. Der Gedanke keimte auf, dass es sich nur 30 Kilometer gut laufen ließ, der Rest ist Qual, ist eben Marathon. Auch die Läufer um mich herum sahen nicht mehr locker aus. Vereinzelt überholte ich, mich überholte keiner. So schlimm war es also nicht, noch nicht.

Aber die Muskeln von Oberschenkeln und Schienbeinen, würden sie noch 10 Kilometer halten? Lotteriespiel. Solange es lief, lief es halt. Bei Kilometer 33 kam Claudia von vorn. Wie verabredet lief sie Nicole entgegen, um ihr beizustehen. Ich schilderte Claudia knapp meine Bedenken. „Das schaffst du schon“, sagte sie lapidar und winkte lässig ab. Da biss ich mir wieder auf die Unterlippe und orientierte mich nach vorn. Danke Claudia, du hast mir Mut gemacht, irgendwie.

 

Tatsächlich war ich die Ängste vor einem Einbruch los. Kilometer für Kilometer ging es voran. Es waren lange Kilometer und nach jedem gab es einen Mateteeschluck. An den Verpflegungs- stellen trank ich nochmals Tee und kippte mir Wasser über den Kopf. Der Kilometer 37 wurde nicht mehr angezeigt. Statt dessen standen Tafeln: noch 5 km, noch 4 km...

 

Eine Begegnung hatte ich noch. Zwei junge Frauen kamen mir entgegen. Wie alt waren sie, 16, 18, 20? Ich war zu erschöpft, um mir die Passanten genauer anzusehen. Ich bemerkte aber, wie die Frauen tuschelten. Dann schupste die eine die andere plötzlich auf mich zu. „Hör doch auf“, rief die Geschupste erschreckt und entwich mir im letzten Augenblick. Unsere Blicke trafen sich kurz. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht, glattes brünettes Haar und sie lächelte sympathisch. Gegen einen Zusammenstoß mit ihr hätte ich nicht soviel gehabt.

 

So bog ich ungeschoren in städtisches Terrain. „Das sieht noch locker aus“, rief einer der applaudierenden Zuschauer. Ich winkte skeptisch ab. In einem Stadtpark überholte mich dann ein Läufer, der wirklich locker aussah. „Das Ziel zieht“, rief er mir zu. Mich zog es nicht, mich zog er nicht. Ich lief hinterdrein, so gut ich noch konnte. Vor den Toren eines Stadions bei Kilometer 40 der letzte Verpflegungspunkt: einen Schluck Tee und Wasser über den Kopf. Allzu gern wäre ich ins Stadion eingelaufen um nach einer halben Runde zu finishen. Aber es waren noch 2 Kilometer.

 

Es ging in den Elbauenpark, mit seinem aus Holz gezimmerten Jahrtausendturm. Der Turm beherbergt eine umfassende Ausstellung der Wissenschafts- und Technikgeschichte. Muss ich sehen, irgendwann. Jetzt aber hatte ich nur ein Ziel. Es war zu hören, zog sich aber erbarmungs- los hin. Einzelne Läufer überholte ich noch, einige gingen, wohl um im Ziel laufen zu können. Ich kannte das. Heute hielt ich durch, lief sogar durch die 10-20 Meter lange Passage mit Kieselsand.


Dann um eine Kurve auf einer Geraden voran. Dort die rote Regenjacke. Gabi, meine Frau. Wir winkten uns zu. Sie kam mir entgegen, lief mit mir mit. „Da um die Kurve, dann hast du es geschafft“, sagte sie und zeigte voran. „Das schaff ich noch“, entgegnete ich heiser.

 

Ich bog herum, sah das Ziel zwischen den Messehallen. Ein letzter, verzagter Antritt, dann nahm es mich auf, mit Applaus und Stimmungsmusik vom Sachsen-Anhalt-Orchester. Geschafft, persönliche Bestzeit unter 3h 45min, Gesamtplatz 132, Fäuste vor, Hut vom Kopf.

 

Dann wandelte ich mit Gabi vor den Messehallen umher. Ausgelaugt, fassungslos, glücklich – Tod und Wiedergeburt. Eine halbe Stunde später hatte ihn auch Nicole geschafft, ihren ersten Marathon. Den Oberschenkel hatte sie unterwegs mehrmals gedehnt. Jetzt aber war auch sie einfach glücklich. Später gingen wir beide wie auf Eiern, aber darüber lachten wir.

 

Informationen: Magdeburg-Marathon
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